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Morgenrasur
Prüfend wog er das Rasiermesser in der Hand. Betrachtete die polierte Facette, den schwarzen Kunstharzgriff und die allmählich verblassende Ätzung. Es war nicht günstig gewesen, kam aus Solingen, ein echtes Qualitätsprodukt, welches nichts mit dem neumodischen Kram zu tun hatte. Aus dem Röhrenradio hörte er blechern Eddie Cochran krächzen, der von den Nöten eines jungen Mannes sang, der den Spagat zwischen Geldverdienen und Freizeit versuchte. Auf der Kommode unter dem großen Spiegel stand die Emaille-Schüssel, er füllte sie mit heißem Wasser und wusch sich das stoppelige Kinn und den Hals mit einem Stück Seife. Der Duft von Sandelholz stieg ihm in die Nase. Es sind schräge Zeiten, dachte er bei sich. Die Menschen gehen so blind durch die Welt, so selbstverliebt. Es sind schräge Zeiten. Der Rasierpinsel steckte in einer Porzellanschale mit heißem Wasser, um der harten Dachsborste ein wenig von ihrer Bissigkeit zu nehmen. Jeder denkt er sei etwas Besonderes, Angeber, überall Angeber.
Er nahm auf dem handgearbeiteten Holzstuhl Platz, betrachtete sein Rasurkabinett und entleerte die Rasierschale in die große Schüssel. Konzentriert befreite er nun ein Stück Rasierseife aus seiner Verpackung aus Wachspapier, der Duft passte zur Seife. Holz in der Basisnote, etwas Patchouli, leichte Zitrone in der Kopfnote. Alles muss immer schnell gehen. Wofür? Für wen? Die rennen doch alle im Kreis. Keine Zeit für sich. Keine Zeit für die Freunde. Und am Ende fragen: Wo ist das Leben geblieben? Die Rasierseife fand ihren Platz in der warmen Porzellanschale und er kreiste mit dem heißen und feuchten Rasierpinsel darin herum. Erst langsam, um die harte Oberfläche in eine cremige Paste zu verwandeln, dann schneller um die Creme zu einem stabilen Schaum aufzuschlagen. Sahne, es muss aussehen wie Sahne. Noch sind es zu viele Luftbläschen, so wie die Menschen zu viele Luftbläschen im Hirn haben. Mit ihrer Prahlerei. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe.
Er zog den Rasierpinsel aus der Schaummasse und drehte ihn um. Der Schaum sah aus, wie die Spitze eines der Türmchen der Basilius-Kathedrale in Moskau. Perfekt. Er spürte den angenehm warmen und duftenden Schaum in seinem Gesicht, den Rasierpinsel, der leicht piekte und dafür sorgte, dass sich die Barthaare aufstellen. Die Haut darf nicht durchschimmern. Das sehen die Frauen heutzutage ja anders, wenn sie herausgehen. Aber bei der Rasur ist es wichtig, nicht zu dünn aufzutragen, damit keine Haut durchschimmert. Draußen wird lieber zu dick aufgetragen. Und wenn es nur der Lippenstift ist. Und Haut wird gezeigt, nicht erahnt. Die Fantasie hat heutzutage keinen Raum mehr. Scheißwelt.
Seine Linke ergriff den Juchtenlederriemen, er liebte den Geruch von Leder. Er liebte den stumpfen Glanz dieses speckigen Streifens, seine Patina, die ihm etwas Ehrwürdiges verlieh. Neu. Alles muss immer neu sein. Die Menschen sind unzufrieden mit dem Althergebrachten, Konsum, nur Konsum. Hedonismus allerorten. Während die alkalische Seife in seinem Gesicht die Stoppeln rasurfertig aufweichte, zog er behände und mit schnellen Zügen die Rasierklinge über das Abziehleder, zehnmal pro Seite, über den Klingenrücken gedreht. So hat man es immer gemacht. Warum wollen die Menschen es nun anders machen? Niemand nimmt sich mehr Zeit für sich.
Mit dem Daumen der linken Hand, zog er die Haut auf der linken Wange straff, die Rechte führte das Messer. Es glitt leicht und mit einem Zug durch die Bartstoppeln, er streifte den Rasierschaum mit den dunklen Härchen auf einem weichen Tuch ab. Die Wangen waren freigelegt und er reckte das Kinn nach oben. Die Klinge glitt mühelos über den Adamsapfel. Anfangs fühlte es sich seltsam an, diese perfekte Schärfe, an dieser verletzlichen Stelle und er hatte sich sehr oft böse geschnitten. Lehrgeld. HA! Heutzutage geht doch alles nur noch auf Sicherheit. Wo gehobelt wird, fallen Späne; Lehrjahre sind keine Herrenjahre, ach komm, Du kennst die Sprüche. Damals hast Du mit einer Schruppfeile kiloweise Stahlblöcke zerspant, heutzutage bekommt kein Bursche auch nur einen Nagel gerade in die Wand. Die sind alle zu beschäftigt mit ihrer Selbstdarstellung.
Selbstzufrieden betrachtete er sein glattes Antlitz, heute war keine Zeit für einen zweiten Durchgang gegen den Strich. Er wusch sich die Seifenreste vom Hals und aus dem Gesicht und tupfte die Feuchtigkeit vorsichtig mit einem frisch gebügelten Handtuch ab. In dem dunklen Vollholzregal neben der Kommode standen diverse Düfte und Wässerchen, er wählte heute einen herb markanten Duft, eine Harmonie aus Rum, Nelken und Pfeffer. Auf diesen Moment freute er sich jedes Mal, denn erst hier zeigte sich die Qualität seiner Rasur, hatte er alles richtig gemacht, würde es im Gesicht nicht brennen. Der Lohn der Mühen, dafür betreibt man doch den Aufwand. Ist das nicht wahres Zen? Wer macht sich denn heutzutage überhaupt noch so eine Mühe? Niemand. Ein paar vielleicht. Hauptsache schnell. Um mehr Zeit zu haben. Für was?
Der leicht gestärkte Stoff des frisch gebügelten Hemdes berührte seine Schultern, die schwere Hose saß wie angegossen. Die Weste passte perfekt zu dem Ensemble und auf dem Herrendiener lagen bereits griffbereit die restlichen Accessoires: Das französische Taschenmesser, das Taschentuch, ein schweres Feuerzeug aus Messing, ein handgesägter Kamm aus Horn und die lederne Brieftasche. Die Pomade duftete etwas nach Weihrauch und verlieh seinem Haar einen guten Halt und einen schönen Glanz. Die guten Dinge, nein, damit will niemand mehr was zu tun haben. Es wollen ja alle individuell sein, sich von der Masse abheben, etwas Besonderes sein. HA! Dass ich nicht lache. Die sollten lieber mal etwas für sich selbst tun und nicht für Andere.
Bevor er den Raum verließ, arrangierte er sein Rasierzeug zu einem Stillleben, prüfte das Licht im Raum und betrachtete die Szene von allen Seiten. Er zog sein Smartphone und schoss ein Bild davon, bevor er sich selbst fotografierte. Er würde es gleich bei Instagram hochladen, dazu schreiben wie teuer und edel die verwendeten Dinge waren und nachschauen, wie viele Menschen ihm nun folgten.