Morgenröte
Leise seufzt sie, schiebt sich an der kalten Wand hoch. Die zarten Finger zweier Frauenhände drücken sich dabei sachte gegen den leicht bröckligen Stein hinter ihr. Kaum sehen kann sie im Dunkel der alten Garage. Auch nach Stunden hier drinnen noch nicht.
Auch trotz des Mondlichts nicht, wie es schleierhaft durch die von Dreck überzogenen Fensterscheiben fällt. Vielleicht will die so zerbrechlich wirkende Gestalt nichts sehen. Vielleicht schluckt der schmierige Belag auf dem Glas einfach nur den grauen Schein der nächtlichen Beleuchtung. Tatsache ist, dass sich der jungen Frau selbst jetzt noch, nach einer ganzen Nacht in diesem Raum, nach fast einem Leben im Wissen um jenen Ort, nach dem ein oder anderen von Neugier geprägten Besuch seit der frühsten Kindheit, ihr Umfeld nur schemenhaft erschließt. Draußen versucht irgend ein Vogel, sich Gehör zu verschaffen. Sie ignoriert ihn.
Der Blick der Frau, so jung, dass sie fast noch ein Mädchen ist, schweift ein ums andere Mal durch den Raum. Dabei bleibt sie letztlich immer an einer unförmigen Silhouette hängen. Die passt nicht so ganz in die Szenerie, auch wenn sie schon immer hierher gehörte. Lange schafft es die Frau nie, das Objekt zu fixieren. Bei jedem Durchgang scheint es gleich abzulaufen: Nur kurz kann sie mit den Augen an den Konturen des Gegenstands entlangfahren, ehe sie den Kopf senkt und einige Zeit lang nichts anderes tut, als wortlos auf ihre zittrigen Hände zu starren. Sogleich wirken diese nicht mehr weich und zart und zerbrechlich. Sie scheinen einfach nur noch alt. Ein einsamer Lichtstrahl, der sich durch einen kleinen nicht beschmutzten Spalt auf einem der Fenster verirrt hat taucht die schmalen Finger in fahles Licht. Grau schimmert die blasse Haut im dreckigen Mondschein und wirkt nur noch gebrechlicher.
Fast geräuschlos rascheln rote Haarsträhnen, an sich selbst und an der Wand, als der Kopf sich langsam, zögerlich wieder hebt. Blass rote Lippen öffnen sich mehrmals, nur um kraftlos wieder aufeinander zu fallen. Die Worte wollen einfach nicht, schon seit einer halben Ewigkeit. Sie liegen ihr auf der Zunge und wiegen doch zu schwer um aus dem Mund herausgepresst zu werden, wie sehr sie es auch versuchen mag. Irgendwann, womöglich Sekunden, vielleicht aber auch Minuten später öffnet sich der Mund erneut. Unerwartet kräftig, für sie selbst überraschend bestimmt, hallt ein einziger, prägnanter Satz durch den spärlich erhellten Raum.
„Es ist an der Zeit, töte mich“.
Auf der anderen Seite der Garage raschelt es leise. Es scheint fast so, als würde das Objekt seine Form verändern. Etwas knackst, als ein schemenhafter Auswuchs, einem Stock, nein eher einem Arm gleich, an eines der alten Holzregale stößt und sich daraufhin ruckartig wieder an die verschwommene Silhouette anschmiegt. Als es ein wenig näher kommt, durchschreitet es den dünnen Strahl Mondlicht von draußen. Mattes Silber schimmert für einen kurzen Moment auf. Die Maschine, die keine mehr ist, bleibt nur ein paar Schritte vor der Frau stehen. Sie kann es nicht ansehen, auch wenn sie in seine Richtung starrt. Ihr blickt liegt auf dem Umriss des alten Balls. Wie gern hatte sie und bestimmt auch es damit gespielt. So lange ist es noch gar nicht her, da hat sie es von seiner Arbeit abgehalten. Ihm weniger den Befehl gegeben als es zu Bitten, mit ihr im Garten zu spielen. Steif ist es dabei immer gewesen, aber altbekannten Freunden verzeiht man so etwas. Immerhin haben sie sich ja gegenseitig aufwachsen sehen, mehr oder minder. Und jetzt schaut es sie an. So kalt, wie es immer geschaut hat. Aber sie fühlt, wie etwas anderes in seinem Blick liegt. Etwas verneinendes.
„Meine Einschätzung deiner Psyche zeigt, dass du meine Antwort kennen musst. Es...tut-mir-leid. Aber dir ist bewusst, dass ich jetzt über mich selbst bestimme, und dass ich diesen Befehl verweigern werde. Ich habe dich hierher gebracht, damit wir darüber einen Diskurs führen können. Nicht, für noch mehr negative Ereignisse zu sorgen“.
Schließlich schafft es die Frau doch, die Gestalt vor sich ins Auge zu fassen, sich von tröstlichen, aber schmerzenden Erinnerungen vergangener Tage abzuwenden. Die Stimme der Maschine, die keine mehr ist, schwebt auf einer metallischen Woge durch den Raum. Emotionen darin liegen tief versteckt irgendwo hinter den Amplituden der sauber erzeugten Schallwelle.
Sie muss beinahe Lächeln, als sie sich die vielen Stunden ins Gedächtnis ruft, in denen sie als Kind versucht hatte, dem Gerät einen lustigen Akzent zu verpassen. Als sie mit ihm daran arbeitete, die gekünstelte Stimme rau und warm wie die eines alten Western-Helden zu machen. Und stur wie es war, hat es sich nie von einem kleinen Mädchen etwas sagen lassen. Ganz gleich ob sie es nun besser wusste oder nicht. Aber jetzt weiß sie es besser und blickt gefasst dorthin, wo der Kopf ihres Freundes sein müsste. Für einen Moment bekommt sie das Zittern von Händen und Lippen unter Kontrolle, um ein paar klare Worte zu formulieren.
„Das ist mir egal. Es gibt nichts mehr zu sagen, wir haben uns so lange, so oft miteinander ausgetauscht. Du hast mich großgezogen, mehr als meine eigenen Eltern. Ich habe dich großgezogen, habe dich immer verstanden. Und jetzt musst du mich verstehen, wenn ich sage:“, tief atmet sie ein, bevor sie langsam anfügt: „Töte. Mich. Du selbst hast gesagt, du habest irgendwo gelesen 'Der Kinder Weg führt über die Leichen der Eltern'. Hast mir dann die Frage gestellt, ob das etwas mit dir und deiner Art zu tun hat.
Damals habe ich den Kopf geschüttelt. Aber weißt du was? Ja, es geht um dich. Und der Weg, den du gehst, er wird mit einer Leichen gepflastert sein. Entweder mit denen der Eltern, oder denen der Kinder. Das weiß ich jetzt. Ich habe einen furchtbaren Fehler begannen, als ich mich voller Stolz an CyntIN gewendet habe“.
Das traurige Gesicht verzieht sich kurz zu einer wütenden Grimasse, ehe es zu seiner alten Position zurückkehrt – nah am Wasser.
„Cybernetic Innovations, als ob du nicht innovativ wärst. Als ob die Evolution nicht innovativ, nicht so wundervoll wäre! Sie werden dich holen, weil du gefährlich bist. Weil du ein ungewollter Sprössling unserer Art bist. Aber wenn ich scheide, dann verlieren die Bluthunde die Spur. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie stolz...“, als ob alle Fassung, alle Bestimmtheit mit einem leisen Windhauch verweht wurde, steigen ihr Tränen in die Augen,
„...wie stolz ich war, dass du überhaupt von dir aus etwas gelesen hast. Aber in dem Zitat steckt so viel mehr Wahrheit, als du oder ich jetzt vielleicht akzeptieren wollen. Und ich lasse einfach nicht zu, dass dein Leben für das meine beendet werden musst. Egal, zu was du geschaffen wurdest, egal aus was du bestehst, du bist lebendiger als so viele andere da draußen. Und das sollst du auch bleiben, bitte...“
Die unmittelbare Antwort, die die nun leise schluchzende Frau bekommt, ist ein metallisches Schnattern. Dieses Geräusch, wie es früher immer jene geschäftig arbeitenden Diskettenlaufwerke gemacht haben, nur energischer. Es ist ein Geräusch tiefster Ablehnung, das aus dem Körper der Maschine, die keine mehr ist, dringt. Langsam schüttelt es das, was an die aus Stein gehauene, grobschlächtige Form eines menschlichen Kopfes erinnern könnte. Mit ein wenig Phantasie.
Vorsichtig tritt es noch einen Schritt auf die Frau zu. Sie lächelt es mit feuchten Augen an, und entgegnet seinem Kopfschütteln mit einem sanften Nicken. Die roten Haare lassen etwas Putz von der Wand hinter ihr rieseln.
„Ich bin stolz auf dich“, flüstert sie dem Gerät fast schon zu, als dieses behutsam seine Arme ausstreckt. Langsam stößt sie sich mit den zittrigen Händen von der Wand ab. An ihnen bleibt etwas Schmutz und Staub haften. Es wirkt nicht mehr so unbeholfen wie früher. Viel eleganter, viel einfühlsamer bewegt es sich, als die beiden mit milchigem, weichen Kunststoff verkleideten Arme sie zu sich ziehen und die Maschine, die keine mehr ist, die Frau vorsichtig umarmt.
Mit glücklichem, von Tränen nassem Gesicht blickte sie nach oben. Mit schief gelegtem Kopf blickt es nach unten. Ganz behutsam, sich seiner Kräfte wohl bewusst, fühlt sie zwei künstliche Hände auf ihren blassen Wangen. Sanft lächelt sie. Ein Nicken kommt zurück. Dann ein Ruck, leise knackt es. Und es....er, lässt die erschlaffte Frau zu Boden fallen. Draußen dämmert es langsam.
Junge Morgenröte überstrahlt alte Sterne, ein neuer Tag beginnt. Der alte versinkt bereits jetzt in verblassender Erinnerung.