Morgen
Es war ein eisiger Morgen. Der erste kalte Tag seit Langem. Der Sommer hatte sich dem Ende geneigt und nun kam der Herbst und mit ihm erneut die eisige Kälte. Ich lief die leere Straße entlang. Es war noch sehr früh am Morgen, deshalb war ich die einzige, die sich zu dieser Zeit auf den Straßen befand. Die Einzige, bis auf eine Person. Jeden Tag sah ich diesen Mann. Er saß täglich an der Ecke der Straße und egal wann ich vorbeilief, nie war er nicht an seinem Platz. Er hatte seine zerrissene Decke um seinen Körper gewickelt, damit er nicht erfror. Ich fragte mich, ob diese Decke überhaupt warm ist, so zerrissen wie sie schon war. Sein zerknüllter Pappbecher stand wieder vor ihm und als ich vorbei lief und in den Becher schaute fand ich erneut nicht eine Münze in dem Becher. Kein Wunder, um diese Uhrzeit. Nahm er die Münzen gleich heraus, die er bekam? Oder bekam er wirklich nie einen Euro von einem Passanten?
Ich schaute schnell auf den Boden und lief weiter. Ich bin nicht besser. So oft ging ich an ihm vorbei, ohne selber etwas Geld in seinen Pappbecher zu werfen. Seufzend öffnete ich meine Hand. Darin befand sich ein Euro. Aber anstatt ihm den Euro zu geben, den ich eigentlich extra für ihn aus meiner Tasche gekramt hatte, lief ich mit gesenkten Kopf weiter und ging in den Laden neben ihm, in den ich arbeitete. Ich selber hatte auch nicht viel Geld. Ich verdiente nicht sehr gut in dem Laden, jedoch reichte das Geld zum Überleben. Aber obwohl es mir eigentlich an nichts mangelte, hatte ich Angst ihm den Euro zu überreichen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er würde mir dann seine Lebensgeschichte erzählen, so dachte ich. Dann würde ich es noch mehr bedauern, ihn hier jeden Tag neben den Laden sitzen zu sehen. Manchmal stand der Mann auf und ging bei uns auf die Toilette. Mein Chef hatte es ihm erlaubt. Ich fragte mich, wieso er ihn auf die Toilette ließ, ihn aber nie auch nur etwas Geld gab. Geld würde dem Mann doch mehr bringen, oder? Oder hatte er Angst, dass dieser Mann vielleicht drogenabhängig ist? Oder alkoholsüchtig? In der Zeitung habe ich oft darüber gelesen und auch darüber erzählt wurde mir viel. Das viele Obdachlose ein Drogenproblem hätten und ich aufpassen sollte wem ich Geld gebe. Aber ob er dazugehört? Ich finde nicht, dass er so aussieht. Oder sich so benimmt. Ich lächelte vor mich hin. Morgen werde ich ihm Geld geben, dann wird er sich freuen!
Am nächsten Morgen lief ich etwas schneller als sonst zu meiner Arbeit. Glücklich auf die gute Tat, die ich gleich begehen werde, hielt ich meinen Euro fest in der Hand. Als es dann aber soweit war gewann wieder meine Angst vor dem Unbekannten. Was wird geschehen wenn ich ihm den Euro gebe? Wird er sauer sein, weil ich ihm zuvor nie Geld gegeben hatte? Wird er sich über den Euro freuen? Oder wird er den Euro überhaupt annehmen? Tausend dieser Fragen schossen mir durch den Kopf. Alle waren sie negativ und jede war ein Grund mehr dem Mann lieber doch nicht den Euro zu geben. Ich wollte nicht darauf hören, ihm das Geld geben. Doch meine Furcht gewann und so rannte ich schnell mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Am nächsten Morgen mache ich es, am nächsten Tag gebe ich ihm das Geld.
Doch auch am nächsten Tag und den darauffolgenden Tagen schaffte ich es nicht und so verging eine Woche nach der nächsten. Schließlich war über ein Monat vergangen und ich hatte es immer noch nicht geschafft. Inzwischen hatten wir Anfang Dezember. Heute hatte ich morgens eine Tüte zusammengepackt. Darin befanden sich Geld, Essen, Getränke, eine warme Decke und neue Klamotten, die ich am Wochenende für ihn gekauft hatte.
Ich stand vor der Kreuzung der Straße. Hinter der Kreuzung saß er. Heute bin ich extra den anderen Weg gegangen, damit er mich nicht sieht. „Einfach auf den Boden schauen, um die Ecke rennen und ihm die Tüte in die Hand drücken.“ wiederholte ich den Satz zum neunten Mal vor mich hin. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rannte um die Ecke „Hier, das ist für Sie!“ sagte ich mit aufgeregter Stimme während ich auf den Boden schaute und ihn blind die Tüte hinhielt. „Für mich? Danke, das ist aber aufmerksam von dir.“ antwortete mir eine alte, kratzige Stimme fröhlich. Ich strahlte den Boden an. Ich habe es geschafft und er war nicht wütend! Er freute sich sogar und dass, obwohl ich solange vor ihm davongelaufen bin. Ab jetzt werde ich mich mehr trauen, mit ihm zu sprechen! Ich blickte auf und wich plötzlich erschrocken ein paar Schritte zurück „Wer sind sie!“ Auf dem Platz, wo sonst immer der Obdachlose saß, saß nun ein alter Mann mit seinem Hund. „Wo ist der Obdachlose, der hier immer saß?“ fragte ich aufgebracht. „Der Obdachlose?“ Der Mann schaute mich verwirrt an. Ich schaute mich um. „Er saß hier immer, warum ist er heute nicht da?“ Der alte Mann kratzte sich verwirrt am Kopf. „Hier saß nie jemand, als ich diesen Platz heute gefunden habe. Vielleicht..“
Ich hörte dem Mann gar nicht mehr zu und rannte in den Laden zu meinen Chef „Chef, wissen Sie wo der Obdachlose ist, der hier immer sitzt?“ Dieser schaute mich komisch an. „Mary, hast du das noch immer nicht verkraftet? Der Obdachlose ist doch schon vor 1 Monat an Unterkühlung gestorben.“