Morgen
„Morgen werde ich sie ansprechen!“, dachte er sich, als sie völlig durchnässt einstieg.
Er konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war ihm sofort aufgefallen mit ihren türkisblauen Augen, die wie Diamanten im Licht funkelten, als sie mit einem liebevollen und nachdenklichen Blick die anderen Passagiere beobachtete. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen, als sie einer alten Dame zuschaute, wie sie verdutzt auf den neuen Billetautomaten starrte. „Das süsseste Lächeln, das ich je gesehen habe“, hatte er sich damals gedacht. Ihr Anblick gab ihm das Gefühl abzuheben. Es fühlte sich jedes Mal so an, als säße er in einem Flugzeug, das soeben startete. Der kurze, aber intensive Moment zwischen dem Boden und der Flugphase. Dieser Moment, in dem der Pilot die Maschine in die Höhe bringt. Genauso fühlte es sich an.
Er hatte sich geschworen, sie anzusprechen. Mehrmals. Er hatte es auch schon mehrmals getan. Zumindest in seinen Gedanken. Wenn er so alleine zu Hause im Bett lag, stellte er es sich immer so einfach vor. Er malte sich die schönsten Dinge aus.
Doch dies hier war die Realität. Und was könnte er sie bloss fragen? „Ich kann doch nicht einfach zu ihr hingehen und ihr irgendeine belanglose Frage stellen“, dachte er sich. „Was, wenn sie sich überhaupt nicht für mich interessiert?“, fragte er sich weiter. Immer und immer wieder dieselben Fragen.
„Du bist ein Feigling!“, sagte er zu sich selbst. „Wenn du es jetzt nicht tust, wirst du es nie tun.“ Er fühlte sich, als ob der Flugzeugpilot soeben verkündet hätte, dass er rausspringen müsse.
„Okay! Ich gehe jetzt zu ihr rüber.“ Sein Herz schlug schon deutlich schneller und er bekam feuchte Hände. „Ich werde es tun.“ Er machte einen entschlossenen Schritt nach vorne.
Die Flugzeugtür öffnete sich. Sie war nun nur noch ein paar Sitzreihen von ihm entfernt. Jetzt raste sein Herz und Blut schoss ihm in den Kopf. „Hoffentlich bemerkt sie nicht, dass ich rot werde.“ Wie wird sie reagieren? In seinem Kopf spielten sich schon verschiedene Horrorszenarien ab. „Was, wenn sie mich auslacht und andere Passagiere die ganze Situation mitbekommen?“
Er lehnte sich leicht nach vorne und sah den Boden, der tausende Meter unter ihm lag. „Was, wenn der Fallschirm nicht aufgeht?“
Ein unangenehmes Gefühl hatte sich in ihm ausgebreitet. Er fühlte sich verletzlich, schwach und angreifbar. Als wäre seine Schutzhülle plötzlich so dünn wie eine Seifenblase.
„Ich kann das nicht“.
Schon hatte sich dieser Gedanke in seinem Gehirn verankert und wiederholte sich immer und immer wieder. „Ich kann das nicht. Nicht heute. Nicht jetzt. Ich werde sie morgen ansprechen. Ja, morgen ist besser. Morgen werde ich es tun.“
Seine Anspannung löste sich ein wenig. Sein Herz schlug ruhiger. Doch auf das erste Gefühl der Erleichterung folgte das Gefühl des Versagens.
Der Bus hielt an. Sie erhob sich, warf einen letzten Blick auf ihren Sitz um sich zu vergewissern, nichts vergessen zu haben und stieg aus. Traurig starrte er ihr nach und sah, wie die Locken ihrer wunderschönen braunen Haare durch den Wind tanzten.
„Morgen. Morgen werde ich ihn ansprechen!“, dachte sie sich, als sich die Bustüren hinter ihr schlossen.