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Morgen werden wir mehr wissen...
(Überarbeitete Version von "Frei wie der Wind")
Nur eine dünne Glasscheibe trennt mich von ihm.
Ich lehne mein Gesicht gegen die Scheibe und dort, wo mein Atem auf das kühle Glas trifft, beschlägt es.
Wie hilflos und schwach er aussieht, wie er so da liegt, nur mit einem weißen Laken zugedeckt. Seine Augen sind geschlossen, das Gesicht blass und von Schläuchen verunstaltet.
Sein Kopf ist fest bandagiert, man kann auch nicht eine einzige Strähne seiner langen braunen Haare sehen, die er meist im Nacken zusammengebunden trägt. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm, würde über sein Gesicht streichen und ihm einen sanften Kuss geben.
Ein lautes Geräusch lässt mich zusammenfahren. Eine der Krücken, die ich gegen die Glasscheibe gelehnt habe, ist umgefallen. Mühsam bücke ich mich und hebe sie auf. Ich darf mein rechtes Bein nicht belasten, es ist von oben bis unten eingegipst.
„Da haben sie aber noch mal großes Glück gehabt“, hatte der Arzt mir versichert.
Ein solches Glück hast du nicht verdient, schau ihn dir genau an, du müsstest an seiner Stelle dort liegen. Gedankenfetzen, die immer wieder aufblitzen und sich langsam tief in meinem Inneren einbrennen.
Traurig werfe ich einen letzten Blick auf den Menschen, der mir alles bedeutet.
Morgen, hämmern die Worte des Arztes in meinem Kopf, morgen werden wir mehr wissen.
Schlaf gut, mein Schatz, ich liebe dich. Meine Lippen formen einen letzten Kuss, bevor ich zurück zu meinem Zimmer humpele, mich aufs Bett lege und wieder aufspringe auf das Karusell, das meine Gedanken im Kreis herumwirbelt, immer schneller und schneller.
Es war Sommer und so waren wir wie jeden Sonntag, wenn das Wetter mitspielte, mit ein paar Freunden zu einer Motorradausfahrt verabredet. Mein Freund Kai fuhr eine Harley Davidson, so wie die meisten aus unserer Clique. An jenem Sonntag wollten wir uns im Nachbarort treffen und von dort aus eine Tour in die Berge machen, mittags irgendwo eine Kleinigkeit essen, und am Nachmittag in unserer Bikerstammkneipe Livemusik hören.
Ich schlang meine Arme um Kais Taille, während wir die Küstenstrasse entlang fuhren und genoss den Anblick der umliegenden Landschaft.
Rechts von uns erstreckten sich sanft ansteigende Hügel, grün bewachsen und nur ab und zu von dem strahlenden Weiß einzelner Ferienvillen unterbrochen. Links lag das Meer wie ein riesiges blaues Seidentuch, auf dem ein kleines Kind seine Spielzeugsegelboote verteilt hatte.
Schon bald war der Ort zu sehen, in dem wir uns mit den anderen treffen wollten. Hinter einem hellgelben Strandstreifen, der von einer Palmenreihe eingesäumt wurde, reihten sich Wohn- und Geschäftshäuser aneinander, überragt von einer gewaltigen Burgruine, einem Überbleibsel aus der Maurenzeit. Obwohl ich bereits seit fünfzehn Jahren hier lebte, konnte ich mich dennoch nie sattsehen and den Schönheiten unseres Landstriches.
Wir hatten uns mit unseren Freunden am Ortseingang verabredet. Schon von Weitem erblickte ich die geparkten Motorräder.
Und dann weiß ich auch nicht, was plötzlich in mich fuhr. Ich kann es nicht mehr nachvollziehen, aber übermütig erhob ich mich einfach von meinem Beifahrersitz, sodass ich aufrecht auf den Trittbrettern stand und hielt mich an Kais Schultern fest. Ich ließ eine Hand los und winkte den anderen zu, die noch ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt waren.
„Bist du verrückt?“, brüllte Kai von vorne. „Setz dich sofort wieder hin.“
Doch da war es schon zu spät. Nur eine kleine Unebenheit auf der Straße und für einen kurzen Moment verlor Kai die Kontrolle über die Maschine, geriet zu weit auf die Gegenfahrbahn...
Das Gedankenkarusell wird wieder langsamer, doch noch kann ich nicht abspringen.
Tränen suchen sich aus meinen geschlossenen Augen einen Weg nach draußen, perlen zwischen meinen dichten Wimpern hervor.
Die unterschiedlichsten Gefühle wallen in mir auf. Da ist zum einen Wut, Wut auf mich selber, dass ich so leichtsinnig gewesen bin und mich wie eine Anfängerin verhalten habe. Werde ich mir das je verzeihen können? Ich weiß darauf zur Zeit keine Antwort. Am schlimmsten ist jedoch diese Angst, die sich wie ein Holzwurm in einem alten Möbelstück einen Weg durch meine Gehirnwindungen frisst, mich quält, mich keine Ruhe finden lässt, vielleicht nie mehr wieder. Angst vor den anklagenden Blicken seiner Familie und unserer Freunde, Angst, dass er nie mehr aus dem Koma erwachen wird, Angst davor, für immer mit unbeantworteten Fragen leben zu müssen.
Morgen werden wir mehr wissen...