Was ist neu

Morgen werden wir mehr wissen...

Mitglied
Beitritt
25.03.2003
Beiträge
794
Zuletzt bearbeitet:

Morgen werden wir mehr wissen...

(Überarbeitete Version von "Frei wie der Wind")

Nur eine dünne Glasscheibe trennt mich von ihm.
Ich lehne mein Gesicht gegen die Scheibe und dort, wo mein Atem auf das kühle Glas trifft, beschlägt es.
Wie hilflos und schwach er aussieht, wie er so da liegt, nur mit einem weißen Laken zugedeckt. Seine Augen sind geschlossen, das Gesicht blass und von Schläuchen verunstaltet.
Sein Kopf ist fest bandagiert, man kann auch nicht eine einzige Strähne seiner langen braunen Haare sehen, die er meist im Nacken zusammengebunden trägt. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm, würde über sein Gesicht streichen und ihm einen sanften Kuss geben.
Ein lautes Geräusch lässt mich zusammenfahren. Eine der Krücken, die ich gegen die Glasscheibe gelehnt habe, ist umgefallen. Mühsam bücke ich mich und hebe sie auf. Ich darf mein rechtes Bein nicht belasten, es ist von oben bis unten eingegipst.
„Da haben sie aber noch mal großes Glück gehabt“, hatte der Arzt mir versichert.
Ein solches Glück hast du nicht verdient, schau ihn dir genau an, du müsstest an seiner Stelle dort liegen. Gedankenfetzen, die immer wieder aufblitzen und sich langsam tief in meinem Inneren einbrennen.
Traurig werfe ich einen letzten Blick auf den Menschen, der mir alles bedeutet.
Morgen, hämmern die Worte des Arztes in meinem Kopf, morgen werden wir mehr wissen.
Schlaf gut, mein Schatz, ich liebe dich. Meine Lippen formen einen letzten Kuss, bevor ich zurück zu meinem Zimmer humpele, mich aufs Bett lege und wieder aufspringe auf das Karusell, das meine Gedanken im Kreis herumwirbelt, immer schneller und schneller.

Es war Sommer und so waren wir wie jeden Sonntag, wenn das Wetter mitspielte, mit ein paar Freunden zu einer Motorradausfahrt verabredet. Mein Freund Kai fuhr eine Harley Davidson, so wie die meisten aus unserer Clique. An jenem Sonntag wollten wir uns im Nachbarort treffen und von dort aus eine Tour in die Berge machen, mittags irgendwo eine Kleinigkeit essen, und am Nachmittag in unserer Bikerstammkneipe Livemusik hören.
Ich schlang meine Arme um Kais Taille, während wir die Küstenstrasse entlang fuhren und genoss den Anblick der umliegenden Landschaft.
Rechts von uns erstreckten sich sanft ansteigende Hügel, grün bewachsen und nur ab und zu von dem strahlenden Weiß einzelner Ferienvillen unterbrochen. Links lag das Meer wie ein riesiges blaues Seidentuch, auf dem ein kleines Kind seine Spielzeugsegelboote verteilt hatte.
Schon bald war der Ort zu sehen, in dem wir uns mit den anderen treffen wollten. Hinter einem hellgelben Strandstreifen, der von einer Palmenreihe eingesäumt wurde, reihten sich Wohn- und Geschäftshäuser aneinander, überragt von einer gewaltigen Burgruine, einem Überbleibsel aus der Maurenzeit. Obwohl ich bereits seit fünfzehn Jahren hier lebte, konnte ich mich dennoch nie sattsehen and den Schönheiten unseres Landstriches.

Wir hatten uns mit unseren Freunden am Ortseingang verabredet. Schon von Weitem erblickte ich die geparkten Motorräder.
Und dann weiß ich auch nicht, was plötzlich in mich fuhr. Ich kann es nicht mehr nachvollziehen, aber übermütig erhob ich mich einfach von meinem Beifahrersitz, sodass ich aufrecht auf den Trittbrettern stand und hielt mich an Kais Schultern fest. Ich ließ eine Hand los und winkte den anderen zu, die noch ungefähr zweihundert Meter von uns entfernt waren.
„Bist du verrückt?“, brüllte Kai von vorne. „Setz dich sofort wieder hin.“
Doch da war es schon zu spät. Nur eine kleine Unebenheit auf der Straße und für einen kurzen Moment verlor Kai die Kontrolle über die Maschine, geriet zu weit auf die Gegenfahrbahn...

Das Gedankenkarusell wird wieder langsamer, doch noch kann ich nicht abspringen.
Tränen suchen sich aus meinen geschlossenen Augen einen Weg nach draußen, perlen zwischen meinen dichten Wimpern hervor.
Die unterschiedlichsten Gefühle wallen in mir auf. Da ist zum einen Wut, Wut auf mich selber, dass ich so leichtsinnig gewesen bin und mich wie eine Anfängerin verhalten habe. Werde ich mir das je verzeihen können? Ich weiß darauf zur Zeit keine Antwort. Am schlimmsten ist jedoch diese Angst, die sich wie ein Holzwurm in einem alten Möbelstück einen Weg durch meine Gehirnwindungen frisst, mich quält, mich keine Ruhe finden lässt, vielleicht nie mehr wieder. Angst vor den anklagenden Blicken seiner Familie und unserer Freunde, Angst, dass er nie mehr aus dem Koma erwachen wird, Angst davor, für immer mit unbeantworteten Fragen leben zu müssen.

Morgen werden wir mehr wissen...

 

Also zuerst möcte ich sagen, daß es mir wichtig wäre zu wissen, ob die Geschichte ihren Ursprung in einer wahren Begebenheit hat. Das hat weniger mit der Geschichte als mit meinem persönlichen Befinden.

So nun aber. Unüblicherweise will ich mit dem Schluß beginnen. Brillian ist der letzte Satz der Geschichte. Nachdem ich ihn gelesen hatte, war mir klar, daß an dieser Stelle nichts passenderes stehen könnte. Die Geschichte an sich ist sehr bewegend, und das häufige Ausschweifen in Details am Rande, färbt schön den sonst Unbhagen stiftenden Charakter.


ich würde im ersten Absatz das "würde über sein Gesicht streicheln" durch ein "über sein Gesicht streichen" ersetzen.


mfg Frontalberlin

 

Hallo Blanca

Ich hab deine erste Fassung nicht gelesen und werde daher ganz unbefangen einfach mal drauflos schreiben was mir zu deiner Geschichte einfällt.

Von der idee her hat mir deine Geschichte gut gefallen, da es ja immer wieder solche Unfälle gibt und es interessant ist die Sicht der Person zu erfahren, die sich ja die Schuld dafür gibt.

Wie du die Geschichte mit der Wiederholung zum Schluss der Geschichte abrundest, gefällt mir ausgesprochen gut, ich habe nur die logische Anmerkung: Wenn er im Koma liegt, was ändert ein Tag dann? Ich fände eine Ohnmacht besser, weil man von ihr eher erwartet, dass sie am nächsten Tag zu Ende ist und man mehr weiß.

Das wäre es soweit von mir.
Gruß Maniac

 

Hallo Frontalberlin und Maniac,
danke für das schnelle Feedback.
@frontalberlin: Die Umgebung existiert wirklich, die Motorradtouren mache ich auch sehr oft, der Unfall ist allerdings ausgedacht.
Streichen hört sich besser an als Streicheln, danke für den Tipp.

@Maniac: Schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Zum Thema Koma, mhm, irgendwie hast Du recht, aber ich hatte eigentlich daran gedacht, dass der Arzt vielleicht am nächsten Tag Ergebnisse von irgendwelchen Untersuchungen vorliegenden hat und dann vielleicht mehr über die Schwere der Kopfverletzung sagen kann und wie lange das Koma eventuell dauern wird. Ohnmacht klingt eher nur nach einer Gehirnerschütterung.

LG an Euch beide
Blanca

 

Hallo Blanca!

An dieser Version der Geschichte habe ich nichts auszusetzen, weil hier die emotionale Logik ausgereift wirkt. Die Schuldgefühle der Frau sind ebenso nachvollziehbar, wie die Sorgen, die sie sich um ihren Freund macht.
Was das Koma angeht: Viele schwerverletzte Patienten werden zunächst einmal in ein künstliches Koma, ein Heilkoma versetzt. Kann Dir dazu auch Infos schicken.

So gesehen passt der letzte, wirklich starke Satz perfekt dazu. Ein runder, sehr schön aufgebauter Text!


Lieben Gruß
Antonia

 

Hallo Blanca!
Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Kann mich den anderen nur anschließen. Deine Wortwahl ist perfekt und das Mitgefühl beim Lesen strömte mir bis in die Fußspitzen!
Superschön!

LG Ulrike

 

Hallo Blanca

ich habe deine Geschichte zwar schon vorgestern gelesen, weil ich neugierig war, aber leider erst jetzt Zeit gefunden, dir ein paar Zeilen zu schreiben. Da ich deine erste Geschichte noch in Gedanken habe, muß ich sagen, daß dir noch eine deutliche Steigerung gelungen ist. Zwar fand ich die erste Variante schon gelungen, auch wenn die Kritiken nicht sehr gut ausgefallen sind. Die Verbindung zwischen dem von dir verursachten Unfall und dem Krankenhausaufenthalt. Und dem Schluß, der die Angst vor dem Ungewissen was noch kommen mag, vortrefflich ausdrückst.


Prima gelungen:thumbsup:


Bin schon auf deine nächste Geschichte gespannt

Morpheus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,

habe die erste Geschichte auch nicht gelesen, deshalb ebenso unbefangen:

Eine sehr schöne Geschichte, auf der Gefühlsseite so traurig wie auch nachvollziehbar. Was aber mehr Eindruck auf mich gemacht hat, sind die klasse gewählten Bilder und Beschreibungen, die sowohl Umgebung, als auch Gefühle treffend und bunt malen:

Rechts von uns erstreckten sich sanft ansteigende Hügel, grün bewachsen und nur ab und zu von dem strahlenden Weiß einzelner Ferienvillen unterbrochen. Links lag das Meer wie ein riesiges blaues Seidentuch, auf dem ein kleines Kind seine Spielzeugsegelboote verteilt hatte.
Nur ein Beispiel sehr schöner Ortsbeschreibung.
Seine Augen sind geschlossen, das Gesicht blass und von Schläuchen verunstaltet.
Das hier ist auch klasse, zum einen beschreibt es den Anblick, zum anderen auch die Gefühlswelt, denn die Verunstaltung kann man gut als Anklage gegen sich selbst sehen, ihre Schuld, dass dieser schöne Mensch eben diesen Anblick bietet.

Auch der Bezug zum Titel, der ja die ganze Thematik 'überschattet', ist echt gut. Die Ungewissheit, inwiefern man das Leben dieses Menschen durch die eigene Tat beeinflusst (wichtig ist dabei auch ihre Schuldfragefrage in bezug auf seine Familie und die gemeinsamen Freunde).

Hat mir sehr gut gefallen . :thumbsup:

Einzige Frage: ich bin noch nie Motorrad gefahren: kann man während der Fahrt trotz Helm, Motorgeräusch und Fahrtwind verstehen, was der Vordermann sagt, wenn man aufgerichtet da steht?

 

Hallo Antonia,
freut mich, dass Dir die überarbeitete Version jetzt gut gefällt. Mir gefällt sie auch viel besser, und ich bin froh, dass mich die,wenn zwar harten, dafür aber ehrlichen Kritiken zu der ersten Version mit der Nase drauf gestossen haben, die Geschichte noch mal von Grund auf zu überarbeiten.

Hallo Joker,
danke für Deine netten Worte.

Hallo Morpheus,
auch Dir vielen Dank für Deine positive Kritik. Freut mich natürlich, dass Dir auch die erste Version schon gefiel.

Hallo Baddax,
schön, dass Dir der Text und die Formulierungen gefallen haben.
Zum Thema Motorradfahren: Beim Harleyfahren trägt man meist Halbschalenhelme, die Gesicht und Ohren freilassen.Wenn der Fahrer seinen Kopf dann noch etwas zur Seite dreht und "brüllt", dann versteht man das schon.

Liebe Grüsse an Euch alle

Blanca :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Blanca :)

Gemessen an der Vorgängerversion sollte ich die Geschichte jetzt eigentlich in den höchsten Tönen loben. Diesmal bin ich nicht gestolpert, eigentlich passt alles zusammen, die Bilder, die Sprache, der Aufbau.
Aber eben nur eigentlich.

Da ich irgendwo gelesen habe, dass du dich schon zu den Buchautorinnen zählen darfst, reicht mir so eine sauber geschriebene Geschichte von dir irgendwie nicht. Der Geschichte fehlt das Besondere, die Energie, irgendetwas, was mich als Leser fesselt.

Die Beschreibung der Schuldgefühle verliert sich meiner Meinung nach teilweise in bildhaften Beschreibungen. Da wird zwar schön beschrieben, wie sehr sie diese Gefühle quälen, aber worauf willst du hinaus?
Sätze wie: "Gedankenfetzen, die immer wieder aufblitzen und sich langsam tief in meinem Inneren einbrennen." beschreiben leider nur einen allgemeinen seelischen Schmerz, der bei tausend Gelegenheiten empfunden werden kann.
Sicher ist die Geschichte kurz, aber die Schuldgefühle hätte ich gerne nicht ausführlicher, sondern spezifischer beschrieben. Dann werde ich als Leser auch mitgerissen, kann und will das nachfühlen. Also: was machen die Schuldgefühle genau mit ihr? Wie reagiert sie darauf? Ändert sie ihr Verhalten irgendwie?

"Warum nur war ich so leichtsinnig gewesen und hatte mich wie eine Anfängerin verhalten?" Hier dürfte das Warum z.b. ziemlich klar sein, besonders nach dem Mittelteil: Ihr verständlicher Übermut in besagter Situation.
Ich fände "Wut auf sich selbst" da eindringlicher, oder auch Resignation, wenn die melancholische Stimmung erhalten werden soll.

Du solltest dir vielleicht überlegen, ob ein Satz an wirklich wichtig ist und welche Funktion er haben soll.
Ich weiß zwar, dass dir der Lokalkolorit sehr wichtig ist, aber direkt vor dem Unfall passt die reiseführerartige Beschreibung der Maurischen Burgen etc. doch eher nicht. Hätte da den Platz genutzt, um den Übermut anzudeuten, oder was auch immer dann zum Unfall führt.

Viele Worte über eine kurze Geschichte, hoffe ich habe dir mit diesen allgemeinen Tipps ein bisschen helfen können.

Gruß
Christoph

 

Hallo Christoph,

Danke fürs nochmalige Lesen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich ja eigentlich gehofft, Du hättest jetzt nix mehr zu meckern.:D Aber das, was Du schreibst, klingt ziemlich einleuchtend, also muss ich wohl meinen Grips noch mal anstrengen.
Das mit der Landschaftbeschreibung im mittleren Teil gefällt mir aber so, da ich ja damit auch darauf hinweisen will, warum sie vielleicht übermütig wird und diesen alles entscheidenen Fehler begeht, eben weil es ihr so gut geht, sie in diesem schönen Land leben darf und sich halt einfach freut, das diese schöne Tour vor ihr liegt. Ich werde mir noch ein, zwei Sätze einfallen lassen, die das noch mehr betonen.

"Sätze wie: "Gedankenfetzen, die immer wieder aufblitzen und sich langsam tief in meinem Inneren einbrennen." beschreiben leider nur einen allgemeinen seelischen Schmerz, der bei tausend Gelegenheiten empfunden werden kann."
Da hast Du Recht, ich wollte aber am Anfang eher allgemein bleiben, ihre Schuldgefühle nur andeuten, um noch nicht zu viel zu verraten.
Dein Tipp mit der Wut auf sich selber gefällt mir, da würde ich schon noch gerne etwas dazu im letzten Teil einfügen. Muss das Ganze noch mal mit Ruhe durchgehen.
Bei dieser Geschichte fällt es mir unheimlich schwer, nicht ins Kitschige abzurutschen. Werde wahrscheinlich hierdran noch meinen Doktor schreiben.:D

Also, nochmal Danke für Deine Tipps
LG
Blanca

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom