Morgen haue ich ab
“Bald haue ich hier ab”, sagt er, während er von einer Seite des Zimmers zu anderen stolziert. Es ist nicht groß. Das Zimmer, meine ich. Es ist nur ein Dachboden. Kahle, weiße Wände hat es, der Fußboden ist parkettiert. Hellbraunes Parkett, das trotz des ganzen Staubs und Drecks zu glänzen scheint. Klamotten liegen überall verteilt; Hosen, T-Shirts, Socken, riesige Haufen an Pullovern. Doch die hindern seinem Gang nicht. Gekonnt weichen seine Füße all den Hindernissen aus, als wüssten sie genau, wo sie jetzt hin zu treten haben. Sein Blick ist nach vorne gerichtet. Bei einer Wand angekommen, dreht er sich direkt wieder um zum nächsten Ziel – der sich parallel befind baren anderen Wand. Seine Schritte sind rasch und klein, so leicht und schnell. Seine Haltung ist aufrecht, sein Gang so zielsicher.
„Vielleicht schon morgen“, setzt er fort. Mein Blick fällt auf die lauter kleinen Münzen, die es sich mit den Klamotten auf dem Fußboden bequem gemacht haben. Es sind, glaube ich, lauter Cent-Stücke, nicht höher als zwanzig. Die Lichtstrahlen, die sich ihren Weg durch das einzige kleine Fensterchen im Zimmer gemacht haben, reichen den Münzen völlig aus, damit es ihnen gelingt das Licht auf zu fangen und wieder zurück zu reflektiert.
“Morgen haue ich ab”, fasst er erneut zusammen. Ich schaue ihn an. Seine Beine sind so dürr, sein Körper so schmal, seine Arme so dünn. Er sieht so zerbrechlich aus. Aber nicht wie eine Vase, oder ein Glas. Denn wenn dir ein Glas runterfällt, zersplittert es in tausende kleine Stücke, du könntest es aus Versehen fallen lassen, oder aus Wut zertrümmern, du würdest zurückschrecken, wenn es auf dem Boden ankommt, du würdest die Scherben wegwerfen wollen, vorsichtig, denn du hättest Angst dich dabei zu schneiden. Er sieht so zerbrechlich aus, aber mehr wie ein Ast, im Winter, voller Schnee, der dem Gewicht des weißen kalten Winterpulvers nicht mehr lange standhalten kann. Ja, wie ein Ast, oben am Baum. Und wie sehr du deinen Arm ausstreckt, du kommt einfach nicht ran, um zu helfen, den Schnee weg zu schütten, damit er nicht zerbricht, der Ast. Du würdest es nicht einmal hören, merken, oder sehen, wenn er zerbricht. So leise und hilflos würde es geschehen.
Seine Haut ist blass, seine Lippen trocken, wie Schatten umranden dunkle Ringe seine Augen. Er setzt sich zu mir. Zu mir auf das grau-blaue Sofa, was in der Ecke steht. Es ist ausgeklappt zu einem Bett. Die Decke, die drauf liegt, hatte ich ordentlich ausgebreitet, die Farben sind zwar schon sehr verwaschen, dennoch wirkt sie bunt und lustig. Die Kissen hatte ich in einer für mich logischen Reihenfolge hingelegt. „Warst du schon mal in Berlin?”, fragt er. Ich bemühe mich gar nicht eine darauffolgende Antwort zu formulieren, denn ich weiß schon im Voraus, dass er diese sowieso nicht abwarten würde. „Ja, genau, das ist es!“, führt er fort, „das ist es! Ich geh nach Berlin!“. Eine kurze und stille Pause erfolgt, eine so kurze, dass er nicht mal einen einzigen Atemzug nimmt. „Ich geh nach Berlin!“, wiederholt er, aber dieses Mal entschlossener, als wäre er vollkommen davon überzeugt, was er sagt. Als hätte er grade eine Lösung gefunden, eine Lösung für jedes Leid und Trauer auf der Welt. Seine trüben leeren Augen fangen an zu leuchten. Ein Lächeln macht sich in seinem Gesicht breit, die Grübchen rechts und links umranden es. Sein Lächeln ähnelt das eines kleinen Kindes, welches endlich sein lang erwünschtes Weihnachtsgeschenk bekommen hat.
„Hör mal“, sag ich vorsichtig, „was ist denn mit… Geld? Hast du denn genug, um… naja, du weißt schon…?“ Er schaut mich an. Er schaut mich zum ersten Mal während des gesamten Gespräches an. Er schaut mich an als hätte ich grade etwas Irrsinniges gesagt, etwas komplett Blödes und Unvorstellbares. So etwas wie „hey, denkst du, dass Kühe fliegen können?“. Direkt guckt er wieder weg. „Ja, natürlich, klar“, sagt er, „ich habe mir da was zusammengespart, weißt du, ich habe mir genug zusammengespart. Außerdem hat mir Oma heut was gegeben, nicht viel, aber ich kann mich nicht beklagen. Es reicht.“ Ich nicke ihm zu, und frage mich, ob er es überhaupt bemerkt aus dem Blickwinkel. Er erklärt weiter: „außerdem, in Berlin gibt es so viele Möglichkeiten, ich werde mir eine Ausbildung suchen, ja, eine Ausbildung, und dann habe ich einen Job und Geld, ganz viel Geld.“ Er erzählt, und es wirkt so, als würde er es gar nicht mir erzählen, sondern sich selbst. Als würde er sich rechtfertigen wollen, sich etwas einreden, als würde er versuchen sich noch mal davon zu überzeugen, dass es auch tatsächlich eine großartige Idee ist.
„Sie wird dich bestimmt vermissen“, sage ich ihm. „Was? Wer?”, erwidert er, als ob es das Gespräch grade eben nie gegeben hatte. „Na, deine Oma“, probiere ich erneut. „Was redest du denn da?”, reagiert er lachend, während er mit seiner Hand zur Bong greift, die vor ihm auf dem Tisch steht, „du tust ja so, als würde ich ganz verschwinden“. Er stellt sie sich zurecht. Es ist keine große Bong, keine die man aus kriminellen US-Filmen kennt. Sie ist eher klein, ich würde sie sogar als „niedlich“ bezeichnen wollen. Aber das braune dreckige Wasser, welches sich in ihr befindet, und der Gestank, der von ihr kommt, der ist alles andere als niedlich. Es ist fast schon so, als würden diese widerlichen ekeligen Tatsachen darauf hinweisen wollen, dass sie NICHT niedlich ist, als versuchten sie auf die ganze Ernsthaftigkeit der Sache aufmerksam zu machen. Und dennoch sitze ich einfach nur da. Sitze einfach nur da und schaue zu. Schaue zu wie er zum riesigen Tabakhaufen, der ebenfalls auf dem Tisch liegt, greift. Schaue zu, wie er sich bisschen davon was nimmt, wie er es vorsichtig, aber schnell, in das kleinere der beiden Röhrchen der Bong stopft, wie er sich daraufhin zum Aluminiumball, der daneben liegt, wendet. „Ich werde sie besuchen kommen, und dich, und alle anderen, das ist doch klar“, sagt er.
Seine Bewegungen wirken immer schneller, immer hektischer, und, auf eine Art und Weise, die ich nicht erklären kann, verzweifelter. Mir fällt auf, dass seine Hände zittern und etwas schwitzen. Mit einer wahnsinnigen Ungeduld macht er den Alu-Ball auf. Er macht es so unvorsichtig und so hektisch, dass das weiße Pulver, welches sich dort versteckt hat, auf den ganzen Tisch verteilt verstreut. „Scheiße“, flüstert er unter seinem Atem. Mit seinem Daumen und Zeigefinger versucht er das größtmögliche Häufchen zu sammeln und stopft es ebenfalls in die Bong, und begräbt es daraufhin mit etwas Tabak. Dann nimmt er sie in die linke Hand, die Bong, mit der rechten holt er ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche heraus. Er umklammert es mit all seinen Finger und führt es zum Röhrchen, seinen Mund setzt er schon zur größeren der beiden Röhren an. Es wirkt alles wie einstudiert, wie Routine, völlig normal, so selbstverständlich. Er setzt den Daumen an das kleine Rad des Feuerzeuges, und… es geht nicht an. Zu rutschig, seine Hände scheinen viel zu zittrig, viel zu schwitzig. Er probiert es noch einmal. Und da, es geschieht schon wieder, es geht nicht an, der Schwung fehlt. „Scheiße“, flüstert er. Ein weiterer Versuch folgt, und noch einer, und wieder, und wieder, doch diese Aufgabe scheint gerade beinah unmöglich zu sein. „Scheiße!“, schreit er, seine Stimme bebt, als wäre dort tief drinnen im Inneren seines Körpers oder Seele ein riesiges Erdbeben, „Scheiße! SCHEISSE! SO EINE SCHEISSE!“ Der kleine Dachboden füllt sich mit Wut, mit Hass, mit Verzweiflung. Er wirft das Feuerzeug gegen die Wand, mit aller Kraft, als würde es all das verkörpern, was ihn so sehr deprimiert. Es knallt ab, landet auf dem Boden, weich auf einem der Stapel von den vielen Klamotten. „So ein verdammter Mist! Ich könnte durchdrehen!“, ruft er heraus. Die von ihm gewählte Wortwahl „könnte“ bringt mich zum Schmunzeln. Ja, ich schmunzle, als wäre es nicht angsteinflößend, als wäre ich daran gewöhnt, als wäre es etwas, was nun mal jedes Mal geschieht, als hätte ich es schon vorahnen können. Es fühlt sich an als würde es grad nichts weitergeben, nur dieses kleine Dachbodenzimmer, mich, ihn und die Wut. Ja, all die Wut. Es fühlt sich an als wäre sie hier gefangen, die Wut. Gefangen in diesen kahlen weißen Wänden, als würde sie versuchen hier auszubrechen, aber sie kann es nicht, denn es gibt keinen Ausweg. Wo sollte sie bloß hin, diese Wut? Diese Verzweiflung? Die Trauer, die sich zwischen den aggressiven Ausrufen versteckt hat? Das große Leid, was sich durch kurze, aber intensive, Wutausbrüche zu zeigen scheint? Gefangen in einem kleinen traurigen Dachboden, mit ihm und mir. Gefangen in einem kleinen, dürren, schmalen Körper. Gefangen in einer kleinen, einsamen, traurigen Seele.
Neben mir liegt meine Jacke. Ich greife in einer ihrer Taschen und hole mein eigens Feuerzeug heraus. „Hier“, sag ich ihm in ruhiger klangvoller Stimme, „ist nicht schlimm. Ich mach das schon“. Ich beuge mich zu ihm, und lasse ein kleines Feuer entfachen, eine so winzig kleine Flamme. Ich höre dem blubbernden Wasser zu, welches sich in der Bong aufbraust. Ich lehne mich wieder zurück und sehe ihn all den Rauch auspusten, wie in Zeitlupe, seine Lippen zu einem „O“ geformt. Ich denke an Autos und an deren giftigen Auspuff. Und an die großen grauen Fabriken, wie sie schwarze dunkle Wolken produzieren. Düstere Wölkchen, die den schönen blauen klaren Himmel mit ihrer dreckigen ekligen Farbe verschmutzen. Ich schaue ihn an. Seine noch eben angespannten Gesichtszüge lockern sich auf, sein noch eben verkrampfter Köper entspannt sich. Trotz des Sitzens schaut es aus als würde er taumeln. Ja, taumeln, irgendwo in seiner eigenen Welt taumelt er herum. Seine Augen sehen nun so schwer aus, als würden beide der Augenlieder eine Menge Gewicht tragen müssen. Als müssten sie dagegen ankämpfen nicht zu zu fallen, so viel Kraft und Energie benötigen sie, um standhaft zu bleiben.
Sie werden glasig und feucht. Seine Augen, meine ich. So glasig, dass sie jene Trauer zu spiegeln scheinen. Eine kleine Träne rollt ihm die Wange hinunter. Eine solch kleine, man denke unbedeutsame, Träne macht sich ihren langen Weg vom Auge bis zum Rande seines Kinns, bis sie endlich abspringt, hinunter, weg von ihm, auf dem Boden, wo sie aufprallt und zerspringt. Eine so klitzekleine Träne, die jedoch ein ganzes Meer, oder gar einen Ozean darstellen könnte, für eine Ameise zum Beispiel, oder sogar etwas Winzigerem. Er nimmt sein Gesicht in beide Hände, und stützt seine Ellbogen auf seinen Knien ab. Dann folgt ein Schluchzen. Ein lautes Schluchzen. Ein bitteres, schmerzerfülltes Schluchzen. Wenn nur eine kleine Träne einen gigantischen Ozean ergibt, was tuen es dann tausende von ihnen? „Sie wird mich nicht vermissen“, murmelt eine so zittrige, schwache, unsichere Stimme unter den Strömen des salzigen menschlichen Wasserfalls hervor, „niemand wird mich vermissen, verstehst du?“ Er schaut mich an. Rote Flecken bedecken sein schmales, blasses, weißes Gesicht. Seine verheulten Äugelein wirken so müde. Er krabbelt langsam auf das Bett, ganz in die Ecke, und rollt sich dort zusammen. Ich stehe auf und decke ihn mit der fröhlichen verwaschenen Decke zu. Seine Augen sind fest geschlossen, er scheint direkt eingeschlafen zu sein. Ich nehme meine Schuhe in die Hand, die neben der Tür stehen, und schleiche mich leise heraus. „Tschüs“, sage ich, obwohl ich weiß, dass er mich nicht mehr hört, „ich komm morgen dann nochmal vorbei, bevor du aufbrichst“. Ich mache mich auf den Weg nach Hause, draußen ist es schon dunkel geworden.
Es ist schon Morgen, das heutige Jetzt, und noch immer keine Nachricht oder Anruf von ihm. Als ich im Zug sitze, auf dem Weg zu ihm, denke ich daran, dass er wahrscheinlich noch schläft. Ich denke daran, was Berlin doch für eine grandiose Stadt ist, wie viel Glück man dort doch finden kann. Ich male mir aus, wie ich ihn besuchen komme und wie wir ein Bier in einer der ausgefallenen Bars trinken werden, wir werden bis in die Nacht wach bleiben, lachen. Ja, er wird lachen und lächeln, keine Tränen mehr. Als ich aussteige und meine Füße mich den gewohnten Weg entlang führen, zu dem hohen Haus mit den vier kahlen weißen Wänden oben, denke ich daran, dass ihm vielleicht der Abschied schwer gefallen wäre, vielleicht ist er ja schon weg, einfach abgehauen, ohne sich zu verabschieden. Ich merke, wie ich etwas beleidigt werde. Würde er tatsächlich einfach gehen? Einfach so? Ohne einen Abschied? Als ich um die letzte Ecke biege, bemerke ich lauter großer rot-weißer Autos stehen, und kleiner blauer noch dazu, mit Sirenen oben drauf. Menschen mit Uniformen stehen vor dem Haus, Menschen ohne Uniformen stehen vor dem Haus. Meine Schritte fühlen sich plötzlich so leicht an, als würde ich schweben, als würde ich gerade über Wolken gleiten, ganz leicht und schwerelos, wie im Traum. Als ich näherkomme, erkenne ich mir bekannte Gesichter. Seine Oma, Mama, einer seiner Freunde stehen da. In Gesellschaft von Polizisten und Notärzten. Ich stelle mich neben den Freund. Er hat seinen Blick auf die oberste Etage gerichtet. „Hey“, sage ich, als würde ich den ganzen Aufstand gar nicht bemerken, als würde ich nicht verstehen können, was hier vor sich geht, „ist er etwa schon weg?“ „Ja“, antwortet er mir, „ja, ist er. Er ist weg“.