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Morgen.Grauen.
Ich habe lange genug aus dem Fenster gesehen. Jetzt lege ich meine Hände um den Schaft des Gewehrs und hebe es an meine Wange. Ich schaudere kurz, als das kalte Metall meine Haut berührt. Dann fixiere ich den Mann und bringe seinen Kopf mit Kimme und Korn und meinem rechten Auge in eine Linie. Ich lege mit dem Daumen den Sicherungshebel um. Atme tief ein, dann wieder aus, nochmal ein und halte den Atem ...
***
„Sieh doch mal, der Garten. Ist der schön.“
Andrea blickte mit leuchtenden Augen von der Terrasse auf unser neues Grundstück.
„Ja, wunderschön.“
Ich war glücklich, dass es Andrea hier gefiel.
„Na, Kati. Jetzt hast du endlich viel Platz zum Spielen. Viel mehr als in der Stadt.“
„Mami, Mami, schau mal der riesige Baum da. Ist das ein Tannenbaum?“
„Nein. Nein, nein, das ist ein ... sag mal Wolfgang, wie heißt dieser Baum?“
„Kiefer, glaub ich“, sagte ich.
Andrea legte ihre Arme um mich, schmiegte ihren Kopf an meinen Hals, erdrückte mich fast.
„Hier bleiben wir. Es ist so schön hier – und … so friedlich.“
Beim Blick auf das Grundstück rechts von uns, meinte ich hinter den Vorhängen des alten Hauses eine Bewegung zu erkennen. Die Leute von dort hatten wir noch nicht kennengelernt. Die anderen, die mit uns neu hergezogen waren, kannten wir schon. Da war das sympathisches Paar in unserem Alter, mit einer Tochter, so alt wie unsere Kati. Neben uns im Doppelhaus wohnte eine amerikanische Familie, zwei Söhne. Nette Leute, wie die meisten Amerikaner halt. In dem Doppelhaus auf der anderen Seite des Platzes, der von vier neuen Häusern eingerahmt war, wohnten noch ein Lehrerehepaar mit zwei zehnjährigen Zwillingstöchtern und ein muskelbepackter Autoverkäufer mit einer hübschen, brünetten Pilatestrainerin, hochschwanger. Das vierte Haus war noch leer, später sollten hier Leute einziehen, die nett und höflich waren, regelmäßig grüßten und sonst keine Probleme machten.
Ein paar Tage, nachdem wir uns schon einigermaßen häuslich eingerichtet hatten, kamen die Schmidbauers von der anderen Straßenseite. Wie unsere Nachbarn von der rechten Seite, Kurzmaier hiessen sie, waren auch die Schmidbauers hier seit Generationen ansässig.
„Hallo, ich bin der Ralf. Wir haben euch ein bisschen beobachtet.“
Ein offenes Gesicht mit hellen, neugierig leuchtenden Augen grinste mich an.
„Ihr seid in Ordnung. Herzlich willkommen in unserer Straße.“
„Wir machen nächste Woche eine Einweihungsfeier mit unseren neuen Nachbarn. Kommt doch rüber, wir würden uns freuen“, sagte meine Frau Andrea.
„Gern, wir kommen gern. Wir dürfen doch unsere zwei Jungs mitbringen?“
Die Antwort konnte er in unseren lachenden Gesichtern ablesen. Ralf sollte einer meiner besten Freunde werden.
Die Feier war sehr lustig und sehr laut; und sie dauerte so lange bis wir uns alle duzten. Kurzmaiers kamen trotz Einladung nicht, wollten uns aber gegen Mitternacht die Polizei wegen Lärmbelästigung auf den Hals schicken. Die Beamten waren offensichtlich einfühlsam genug, unsere Housewarming-Party nicht zu stören. Oder Paul Kurzmaiers Drohung war so leer, wie die Bierflaschen, die wir am nächsten Morgen zusammensammelten, um danach bei einem kräftigen Kaffee den Kater zu töten und über die letzte Nacht zu lachen. Von da an war meine Welt wieder in Ordnung, so glaubte ich.
Fünfzehn verdammte Jahre ist das jetzt her. Die Amis sind längst zurück in den Staaten. Wir waren gut befreundet, besuchten sie auch mal in Maryland, wo sie jetzt wohnen. Seitdem lebten verschiedene Leute im Haus neben uns, die meisten Namen habe ich vergessen. Wir redeten kaum mit einem und wissen nicht viel über sie.
***
Um sieben Uhr weckt mich das Kreischen der Kreissäge. Schlaftrunken und verärgert taumle ich ans Fenster. Ich muss kurz überlegen, ob ich mich noch in meinem Traum ober bereits in der Realität befinde. Im Nachbargarten hantiert Paul Kurzmaier mit seinem Lieblingsspielzeug, einer Kreissäge, mit welcher er Brennholz für den bevorstehenden Winter sägt. Kurzmaier ist ein Kerl mit fettigen und für sein Alter zu langen Haaren, das speckige T-Shirt über seinem Bierbauch hängend. Während der Woche arbeitet er beim Fernsehen, irgendein Privatsender. Keine Ahnung was er da macht. Seine Frau erwähnte mal, er sei Manager. Er ist meist nur am Wochenende zuhause. Dann arbeitet er im Garten, bastelt an seinem Motorrad oder an einem seiner drei Autos herum.
Stoisch schiebt er Holzscheit für Holzscheit am Sägeblatt entlang. Die beiden Teile fallen dann am Ende des Sägetisches auf einen schon beachtlichen Haufen bereits zerkleinerter Holzstücke. Diese Tätigkeit ist anscheinend unaufschiebbar und so wichtig, dass man sie unbedingt am Samstag morgen, pünktlich um sieben Uhr ausführen muss. Sobald die gemeindliche Lärmschutzverordung, von der ich gar nicht wusste, dass so etwas existiert, den Betrieb einer 75 Dezibel lauten Säge erlaubt. Samstags um sieben - während ein bedeutender Teil der hart arbeitenden Bevölkerung ihren verdienten Wochenendschlaf genießt.
Ich weiß nicht, wie lange ich da stehe und ihn beobachte. Jedenfalls Zeit genug, um meinen Hass warmlaufen zu lassen. Jetzt ruft Kurzmaiers Frau zum Kaffee. Seltsam, ich kenne immer noch nicht ihren Vornamen. Seinen weiß ich von Ralf, wir hatten mal darüber gescherzt, dass auf allen seinen Autokennzeichen seine Initialen stehen - PK – Paul Kurzmaier. Die beiden haben noch zwei Söhne, die aber schon aus dem Haus sind und nur gelegentlich zu Besuch kommen. Man grüßt sich, wenn man dem Blick des Gegenübers nicht mehr ausweichen kann. Gleich wird er die Säge abschalten und Kaffeepause machen, es ist neun Uhr inzwischen.
***
Ein paar Wochen nach unserem Einzug, wir hatten noch keinen Zaun, fand ich einen Zettel vor unserer Terrassentür.
Wir wollen nicht das Wäsche im Garten aufgehengt wird!!!
Drei Ausrufezeichen. Ich schmunzelte über die Rechtschreibfehler und schüttelte den Kopf. Als ich Andrea den Wisch zeigte, wurde ihr Lächeln müde. Sie ließ das Blatt sinken und zu Boden schweben, stand da und schaute durch mich in den Garten. Erst Jahre später wurde mir klar, wer diesen Schwachsinn produziert hatte. Ich nahm mein Frau in den Arm, würde sie beschützen, alles Böses von ihr fernhalten - mit allen Mitteln.
Zwischen den vier neuen Häusern feierten wir unsere Hoffeste, dort lernten unsere Kinder das Radfahren, spielten Fußball oder Seilspringen, tobten herum. Wir brachten Leben ins Dorf. So viel war hier lange nicht mehr los gewesen. Die vielen Kinder, die meisten neu hergezogenen Familien und auch Ralf von gegenüber, wir alle vertrugen uns wirklich gut. Paul Kurzmaier schickte meist seine Frau oder einen seiner Söhne, wenn seiner Meinung nach ein Sommerfest zu laut war, der Grill zu stark rauchte, ein Auto falsch geparkt war, die neu gepflanzten Sträucher zu nahe an seinem Zaun postiert waren oder jemand die Regeln verletzt hatte, von denen er immer faselte, und die außer ihm keiner kannte, vermutlich weil es seine eigenen Regeln waren. Manchmal warf er selbst erstellte Pamphlete, fein säuberlich mit Maschine geschrieben in unsere Briefkästen, zitierte Gesetzestexte, Verordnungen und Paragrafen. Zumindest hörten sie sich authentisch an. Keiner von uns wusste es, keiner war juristisch vorgebildet und keinen interessierte es wirklich. Sonst schien Paule eher harmlos. Man grüßte sich, wenn man dem Blick des Gegenübers nicht mehr ausweichen konnte.
Aber ab und zu schrie Kurzmaier persönlich hinter seinem Zaun hervor. Vor allem auf die Kinder hatte er es abgesehen, wenn sie zu nah an sein Grundstück kamen. Dann krähte er schon mal:
„Elende Bastarde, runter von meinem Grundstück!“
Oder als unser Dreijähriger eines Sonntags mit seinem neuen Spielzeugrasenmäher durch den Garten geknattert war.
„Markus! Sonntag ist Ruhetag! Da bleibt der Rasenmäher aus!“
Was war das nur für eine jämmerliche Type, wie konnte man sich derart aggressiv gegen Kinder wenden? Meine Abneigung gegen diesen Herrn Kurzmaier wurde von Tag zu Tag größer. Die Ruhe und das friedliche Zusammenleben, das ich mir so für uns gewünscht hatte, mit allen anderen hier konnte ich es erreichen. Nur mit unserem unmittelbaren Nachbarn nicht – warum?
Ralfs Frau sprach mich eines Tages wegen der Kiefernadeln und Zapfen in unserem Garten an.
„Sagt mal, stört euch das nicht?“
„Was?“
„Na die ganzen Nadeln. Überall.“
„Ja, sogar in der Dachrinne“, sagte Andrea.
„Die kommen von dem blöden Baum da drüben. Und Schatten wirft er auch.“
Sie hatten ja Recht, nur, ich wollte keinen Ärger. Die Nadeln wurden tatsächlich immer lästiger, zerstörten den Rasen, fraßen sich richtiggehend in den Boden. Da wuchs nichts mehr. Eines Tages gab sogar unser Rasenmäher seinen Geist auf. Die verdammten Nadeln hatten sich irgendwie im Scherblatt verklemmt und das Ding war knirschend abgeraucht. Ungute Situation. Ich versuchte Pauls kleine mopsige Frau, deren Vornamen ich immer noch nicht kannte, darauf anzusprechen. Aber da war nichts, keine Reaktion, nur verständnisloses Grinsen auf ihrem verlebten Teiggesicht. Das sei unser Problem, meinte sie, aber wir möchten doch in Zukunft bitte darauf achten, neue Büsche im Mindestabstand von achtzig Zentimetern von ihrem Zaun … blablabla. Gibts das, dachte ich, was erzählt die mir da? Hat die mir überhaupt zugehört? Ich bin es, der ein Problem hat, ich – nicht sie. Kurzmaier, auf den ich meinen Ärger viel lieber abgeladen hätte, war mal wieder auf Dienstreise und als er wiederkam, hatte ich den Vorfall längst vergessen. Wieder stand ein langer, harter Winter vor der Tür und es musste Holz gemacht werden, das bedeutete Kurzmaier begann mit seiner Lieblingsbeschäftigung – Holzsägen.
So gingen die Jahre ins Land. Wir wurden älter und mancher von uns, nicht jeder, wurde vernünftiger und gelassener. Der Baum verlor weiterhin seine Nadeln, im gleichen Rhythmus wie ich meine Haare verlor. Von Jahr zu Jahr wurden es mehr. Andrea mühte sich, aus unserem Garten ein Schmuckstück zu machen. Ich setzte meine Mühe fort, mit allen Nachbarn ein normales Verhältnis zu pflegen. Nur bei Kurzmaiers, das gelang mir nicht, denn die waren nicht normal. Nicht für mich. Alle Menschen um uns waren freundlich und höflich, hilfsbereit, auch aufmerksam oder sogar fröhlich. Andrea und ich, natürlich großstädtisch geprägt und äußerst tolerant. Auch Ralf, den ich manchmal im Scherz einen falschen Bauernfünfer hieß, war uns gegenüber aufgeschlossen. Auch wenn er manche unserer städtisch geprägten Eigenarten mit hochgezogenen Augenbrauen, aber doch schmunzelnd, beobachtete. Wir fühlten uns längst der Dorfgemeinschaft zugehörig, schließlich waren seit unserem Einzug schon einige Jahre vergangen. Nur ein kleines, schäbiges Haus, bewohnt von einer verbitterten Frau, deren Gatte wochenlang unterwegs war und für einen Home-Order-TV-Sender Werbeminuten verkaufte, leistete erbitterten Widerstand gegen meinen Versuch, eine heile Welt zu schaffen. Wenn dieses Ekelpaket daheim war, parkte er seine drei überdimensionierten Blechkisten vor meinem Grundstück, warf seine Kreissäge an und zerkleinerte alles was an Holz in seinem Drecksgarten lag, außer seiner Scheiß-Kiefer.
'Beruhig dich, reiss dich zusammen, Wolfgang', es pulsierte in meinem Kopf. Irgendetwas, vor dem ich Angst hatte, gewann zunehmend die Gewalt über mich. 'Gib der Gewalt nicht nach, verdammt, versuch es mit Diplomatie', in meinem Schädel hämmerte es immer stärker.
„Hören sie zu, Herr Kurzmaier. Ich will ihnen einen Vorschlag machen. Ich will keinen Streit und keinen Ärger. Lassen sie uns doch den Baum gemeinsam abschneiden. Ich übernehme die Kosten. Beim nächsten Sturm fällt er eh um - und dann mitten auf mein Haus.“
„Bestandsschutz.“
„Was? Wie bitte?“
„Bestandsschutz. Der Baum steht da schon hundert Jahre. Hat alles überlebt. Der kommt nicht weg.“
„Aber, hören sie, ich habe Schäden. Die Dachrinne ist ständig von Kiefernnadeln verstopft. Meine Solarzellen kriegen kaum Sonne wegen dem Schatten. Mein Rasenmäher ist kaputt gegangen von den harten Nadeln. Überall Schmutz ...“
„Ne, ne. Bestandsschutz.“
Er zuckte lakonisch mit den Schultern, drehte sich um, warf seine Kreissäge an und begann das Holz für den Winter zu schneiden. Trotz der herbstlichen Kühle wurde mir plötzlich sehr heiß. Ich musste schnellstens ins Haus. Diese Sturheit, diese verdammte Bauernsturheit.
An einem schwülen Sommerabend saß ich mit Ralf zusammen auf seiner Terrasse, wir tranken Bier. Der Himmel war schwer, wie das Märzen, das wir durstig runterkippten. Grillen zirpten, der Vollmond hing müde und schlaff am Himmel.
„Weißt du, der kurze Maier, du musst seine Geschichte kennen, sonst verstehst du ihn nicht richtig“, sagte Ralf.
„Der kurze Maier?“
Ich lachte in meinen Bierkrug.
„Ja. Er ist der kurze, weil sein Vater war größer als er. Und sein Großvater erst. Fast zwei Meter groß.“
„Fantastisch. Wenn die also von Generation zu Generation weiter schrumpfen, hat sich das Problem irgendwann von allein gelöst – sozusagen aufgelöst.“
„Ja, ja, gut möglich. Also paß mal auf. Siehst du das gelbe Haus am Ende der Straße? Von da bis runter wo die Tanke früher war, das hat alles mal Kurzmaiers Opa gehört. War sozusagen der Großgrundbesitzer im Dorf. Manche nannten ihn auch den Baron.“
Ralf spuckte das Wort Baron verächtlich in seinen Bierkrug, bevor er einen kräftigen Schluck nahm und dann weitersprach.
„Der Alte hatte nur ein Problem.“
„Weiber“, sagte ich.
„Nee. Saufen und Zocken. In Bad Weissensee, da war früher mal ein Casino. Der alte Kurzmaier war Stammgast. Der Baron von Bad Weissensee. Innerhalb von wenigen Jahren hat er seinen ganzen Grund verzockt und versoffen. Stück für Stück, eine Parzelle nach der anderen. Als er damit fertig war gehörte ihm nur noch das Grundstück mit seinem Haus und das daneben, auf dem jetzt eure Häuser stehen. Da hat er sich aufgehängt.“
„An der Kiefer?“
Ich kicherte fies.
„Nein, nein. Nicht an der, auf eurem Grund da standen noch ne Menge von diesen Bäumen. Die wurden später alle gefällt. Die Kiefer vom Kurzmaier ist die letzte im ganzen Ort. Der kurze Maier war zwei oder drei Jahre alt, als sie den Alten fanden. Keine Ahnung, wie viel er davon mitbekommen hat. Jedenfalls Kurzmaiers Vater übernahm die ganze Chose - also das was davon noch übrig war. Er hatte noch zwei ältere Brüder, die waren schlauer. Die hatten sich ihren Anteil schon vorher vom Baron geholt. Bargeld, Goldbarren, was weiß ich. Dann hauten sie ab, Australien oder Neuseeland. Paules Alter blieb auf den Grundstücken sitzen und jeder Menge Hypotheken. Aber er war ein fleißiger Kerl. Grundehrlich und gutmütig bis zur Dummheit. Hat gearbeitet wie ein Vieh. Hat nichts genützt. Irgendwann musste er das letzte Grundstück verkaufen, um wenigstens das eigene Haus erhalten zu können. Die Kirche hats ihm abgekauft – sozusagen ein Akt der Nächstenliebe.“
„Das wo wir jetzt wohnen?“
Ich musste meine Kehle befeuchten, nahm einen kräftigen Schluck.
„Ja, ich glaube, die hatten da auch Ziegen oder Schafe. Paule durfte die immer hüten. Eines Tages waren die alle weg. Hat den Kurzen ziemlich mitgenommen. Bald darauf starb sein Vater. Die Leute sagten – gebrochenes Herz. Seine Frau war ihm kurz vorher auch noch durchgebrannt. Die ist wohl einem seiner Brüder nach.“
Krachend stießen wir unsere Krüge zusammen und tranken in gierigen Zügen.
„Paule wollte das Grundstück zurückkaufen. Aber bevor er das Geld zusammenhatte, verkaufte die Kirche es wieder. An den Bauunternehmer, der dann ein paar Jahre später eure Häuser gebaut hat.“
„Na und? Bist du sein V… Ver ... Verteidiger, oder warum erzählst du mir diesen ganzen Mist?“
Einige Liter dieses herrlich frischen, dunklen Gebräus breiteten sich schon in unseren Schädeln aus.
„Nee. Wollte dir bloß ein bisschen Heimatkundeunterricht geben.“
„Weißt du Alter“, sagte ich, „jetzt erzähl ich dir mal eine Geschichte. Wir sind ja auch nicht grad die neureichen Städter, die euch armen Bauern ihr Land wegnehmen, um da ihre modernen Betonklötze hinzustellen.“
„Bin kein Bauer.“
„Mein ja auch nicht dich. Aber die Kurzmaiers waren ja wohl … Landbesitzer … also Bauern.“
Das Bier und diese ach so furchtbare und entsetzlich traurige Geschichte Paul Kurzmaiers, ließen mich trotz der Hitze der Nacht frösteln. Gierig soff ich den Rest des Kruges leer.
„Die Andrea - meine Andrea - die wär beinah gestorben in der Stadt. Damals. Bevor wir hierherkamen. Eines Abends. Sie kam von so 'nem Weiberabend mit ihren Freundinnen. Mit der U-Bahn. Von der U-Bahn bis zu unserem Haus sinds nur zehn Minuten. Ist aber 'n ziemlich dunkler Weg. Vorher war nie was passiert. Die ging da oft lang. Auch bei Nacht. Obwohl ich immer gesagt hab zu ihr ... Pass auf ... Geh da nicht allein in der Nacht ... hab ich gesagt. Ruf mich an, ich hol dich ab. Ach was, sagte sie immer. Was soll schon passieren, auf dem kurzen Stück. Gelacht hat sie. Ist ja auch nie was passiert. Bis dann … dann passierte es doch. Zwei Kerle ... hat man nie gekriegt, die Schweine. Die wollten sie … wollten sie … ver … verge … aber sie hat sich gewehrt. Wie der Teufel hat sie sich gewehrt. Getreten und geschrien hat sie. Aber allein gegen zwei Typen … keine Chance. Auf einmal stechen die zu, die Dreckschweine. Stell dir das vor, die wollten meine Andrea abstechen … die war da grade das zweite Mal schwanger. Irgendwelche Leute haben sie schreien gehört … die zwei Mistkerle sind abgehauen. Sie hats überlebt. Knapp. Aber das Kind …. das Baby … unser zweites Kind … wir habens verloren. Sie lag ein halbes Jahr im Krankenhaus. Die haben sie dort wieder zusammengeflickt … ein Wunder. Als sie wieder daheim war, wollten wir sofort weg aus der Stadt. Nur weg, weit weg. Irgendwohin … aufs Land. Da wo es sicher ist. Da wo friedliche Leute leben. Und hier, was ist hier? Dieser Kurzmaier, dieses Ar … Arsch … Arschloch … Dabei hats uns doch gleich gefallen hier ... hier wollten wir doch bleiben. Hier haben wir uns doch wohl gefühlt … und sicher … einfach wieder sicher ...“
Von irgendwo zog Ralf eine Schnapsflasche her. Wir tranken weiter. Wir tranken. Wir redeten. Wir heulten. Wir lachten. Mein bester Freund Ralf, das Landei und ich, der Stadtfrack, der ewig Fremde, der Eindringling in eine längst verlorene Idylle, die es in Wirklichkeit nie gegeben hatte.
***
Seit mehr als zehn Jahren nervten uns diese Leute jetzt. Kurzmaier und seine bessere Hälfte waren nun immer seltener zuhause. Irgendein Krankheitsfall in seiner Familie. Umso mehr ärgerte mich, dass er seinen Baum, die mittlerweile die pflanzliche Inkarnation des Bösen für mich darstellte, immer noch nicht fällen wollte. Gelegentlich sprach ich Paule weiterhin darauf an, alles andere – die Autos, die Kreissäge - das alles erwähnte ich gar nicht, um ihn nicht zu überfordern. Die Reaktionen waren wie erwartet und nichts tat sich. Im Gegenteil – wenn Kurzmaier daheim war, machte er uns die Hölle heiß, zum Beispiel, weil ich meinen Kirschbaum nicht regelkonform geschnitten hatte oder ihm fielen sonstige Absurditäten ein.
Quid pro quo – es war offensichtlich, dass dieser ekelhafte Mensch diesen Grundsatz weder kannte, noch sich jemals daran zu halten gedachte. Ein friedliches Zusammenleben mit diesen Individuen war unter solchen Umständen nicht möglich. Und so reiften in den kommenden Monaten und Jahren Gedanken in meinem Kopf, die mich nur noch ganz zu Anfang erschreckten. Am Schluss hatte ich nur noch eine fixe Idee – ich oder er.
***
Da man heute im Internet beinahe alles kaufen kann, von Büchern über Autoreifen und Viagra, bis zu Atombomben mit dazugehöriger Bauanleitung, ist es auch ein Leichtes, sich eine halbautomatische Waffe zu besorgen. Ich entscheide mich für eine Heckler & Koch HK 33. Ein leichtes, trotzdem genaues und solides Sturmgewehr. Schwarzmarktpreis 500 Euro. Hätte nicht gedacht, dass die so günstig zu haben sind. Ich denke, das ist eine sinnvolle Investition.
Weil ich UPS oder DHL nicht zutraue, mir den Schießprügel ins Haus zu liefern, fahre ich selber nach Belgien, um mir die Knarre dort abzuholen. Sicher ist sicher. Außerdem kann ich unterwegs ein paar Schießübungen machen. In den Ardennen, da ist immer noch dichter, unbewohnter Wald – menschenleer. Nach zwei Tagen will ich zurück sein. Hab Andrea von einer Geschäftsreise in unsere Niederlassung bei Brüssel erzählt, damit sie keinen Verdacht schöpft.
Auf der Rückfahrt fahre ich bei Kati vorbei, die studiert da oben in der Ecke, in Aachen. Das Gewehr ist im Kofferraum, eingewickelt in Packpapier und eine Decke. Es ist schön Katarina wieder zu sehen. Sie besucht uns nur selten. Ist halt doch ganz schön weit bis zu uns runter. Ist ne richtig hübsche junge Frau geworden. Bin stolz auf sie. Sie fragt mir Löcher in den Bauch, nach ihrer Mama und Markus, der jetzt die neunte Klasse besucht. Und nach unseren Nachbarn und ihren Freunden. Sind jetzt fast alle aus dem Haus, nur noch wir Alten da. Die Jungen, verstreut über das ganze Land, ach was, über die ganze Welt. Wir haben eine sehr nette Unterhaltung, was sie wohl alle so treiben, am Schluss fragt sie mich noch nach dem Baum. Wie eine dieser verdammten Nadeln sticht mir die Frage ins Herz. Sie weiß doch nichts? Ahnt sie etwas? Gut, sie hat den Baum immer geliebt, weil er so knorrig ist, so alt, so unverfälscht. Aber das Bücken nach seinen Nadeln hat Andreas Rücken kaputtgemacht und mich hat das stachelige Monster zu dem gemacht was ich jetzt bin, aber das sage ich nicht zu Katarina. Ich muss sie da raushalten.
„Ach, der Baum, ja, ja, der steht noch.“
Ich versuche ein Lächeln. Sie blickt mich ernst an, als würde sie etwas ahnen. Beim Abschied umarmt sie mich besonders fest.
„Machs gut Papa. Und pass auf dich auf und auf Mama.“
Schimmert da eine Träne im Augenwinkel?
Der Besuch bei meiner Tochter dauert länger, am Freitag komme ich erst spät abends heim. Andrea ist übers Wochenende bei Schwiegermama. Markus mit seinen Kumpels weggefahren. Ich bin allein im Haus, schalte den Fernseher ein, trinke noch ein Glas Wein. Den guten Roten aus dem letzten Spanienurlaub. Draußen frischt der Wind auf – ein Herbststurm zieht auf. In zwei Monaten ist Winter. Zeit zum Holz machen.
'Ich hätte da eine Idee. Kiefern – geben die kein gutes Brennholz ab? Ich meine – wenn die Säge eh schon läuft?'
'Ne, ne. Zuviel Harz. Außerdem, sie wissen ja … '
'Ja, ja – Bestandsschutz!'
Spielverderber – versteht echt keinen Spaß.
In dieser Nacht träume ich lang und wirr.
***
… ich spüre einen heftigen Schlag gegen meine Schulter, als ich den Abzug des HK33 durchdrücke, sich die Kugel löst und durch das Fenster exakt die vorgeplante Linie entlang fliegt, um schließlich die rechte Brust und Teile der Schulter von Paul Kurzmaier wegzusprengen. Der Knall ist lauter, als ich ihn von den Übungen in den Wäldern der Ardennen in Erinnerung habe, vor Schreck ziehe ich ein zweites Mal durch. Wie es der Zufall will, schneidet die Flugbahn des zweiten Projektils genau die Stirn des nach vorne Fallenden. Mir ist, als höre ich das Klatschen des Stücks Blei, das seinen Kopf auseinander platzen lässt. Ich muss unwillkürlich an diese Kürbisse denken, die jetzt, kurz vor Halloween, vor allen Häusern herumstehen. Mit geschnitzten Gesichtern und Kerzen in den ausgehöhlten Köpfen, die ihnen einen flackernden geisterhaften Ausdruck verleihen. Paules Fratze, ungläubig glotzend, verliert jegliche Form. Während der schwammige Körper nach vorne fällt, schwappen Blut und Gehirnmasse aus dem offenen Schädel und besudeln den von Sägespänen verdreckten Boden. Sein Leib schlägt, wenige Sekunden nach dem Eindringen der Kugeln, in der blutig-staubigen Pampe auf. Ein Geräusch, wie wenn ein Metzger eine tote Sau achtlos auf die Schlachtbank wirft.
Der Fernsehmanager Paul Kurzmaier, verheiratet mit – zum Teufel wie heißt sie nochmal mit Vornamen? – Vater zweier erwachsener Söhne, Besitzer dreier Autos, eines Motorrades und einer Kreissäge, bekommt den Aufprall nicht mehr mit, da sein Geist sich an diesem wunderschönen Herbstmorgen mit dem lichtenden Nebel schon verflüchtigt hat, als sein irdischer Körper noch im Fallen ist. Ich grüße ihn – ein letztes Mal - weil ich dem starren Blick des Gegenübers nicht mehr ausweichen kann.
Dann sinke ich zurück auf die Bettkante, verharre noch einige Zeit so, lausche dem Geräusch der herrenlos weiterlaufenden Säge und lasse mich schließlich zurückfallen. Im Einschlafen meine ich das Kreischen zu hören, das entsteht, wenn man einen Holzscheit über ein laufendes Sägeblatt schiebt und sich dessen Zähne ihren Weg durch das weiche, frisch riechende Holz fressen.
Aber ich kann mich auch täuschen. Vielleicht schlafe ich bereits. Vielleicht träume ich schon wieder.
Ich liebe den Duft von frisch geschnittenem Holz – herrlich – ich atme tief durch und träume weiter.