Morgause
Hätte jemand Bob Hudgson von den Dingen erzählt, die er heute Nacht erleben würde, hätte er dieser Person geraten, sich einen guten Seelenklempner zu suchen.
Es war in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Für Taxifahrer war es die rentabelste und stressigste Zeit zugleich. Feiernde wollten von einer Location zur anderen gefahren werden und Sturzbetrunkene wollten einfach nur Nachhause kommen, um ihren Rausch auszuschlafen. Bob war mittlerweile ziemlich geübt darin, klägliche Wortfetzen zu deuten. Es war eine Berufskrankheit, die sich unweigerlich entwickelte, wenn man über einen längeren Zeitraum, mit einem bestimmten Klientel zu tun hatte. Eines der Symptome, war das Erkennen der Feinheiten, die ein alkoholastiges „Middlestreet 10“ mit sich brachte. Obwohl es sich anhörte wie „mimmlstreetsen“. Doch so etwas, wie diese Frau, hatte er noch nie in seiner schlecht bezahlten Taxifahrerkarriere erlebt.
Bob lud gerade seine letzten Fahrgäste an einem anrüchig aussehenden Nachtclub ab, da stand sie auch schon direkt vor seinem Wagen, als wolle sie ihm den Weg versperren. Die Frau starrte ihn unablässig mit einer ausdruckslosen Miene an, während die nächtliche Brise, ihre blonden Locken ins Gesicht peitschen ließ. Das Flackern, der defekten Anzeigetafel des Nachtclubs, rundete dieses kuriose Bild ab.
Bob ließ das Fenster hinunter und streckte seinen Kopf hinaus. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miss?“
Sie starrte ihn nur weiter an. Bob war nicht sonderlich überrascht. In seinen 31 Jahren, die er nun als Taxifahrer arbeitete, musste er schon oft Leute transportieren, die sich mit irgendwelchen Partydrogen ins Delirium schossen.
„Miss, könnten Sie wenigstens den Weg frei machen, damit ich weiterfahren kann?“, sagte Bob.
Nun lockerte sich wohl ihre Zunge, als sie sagte: „Ich muss zu meiner Schwester.“
„Dann steigen Sie ein und sagen Sie mir, wo ihre Schwester wohnt.“
Die Frau ging einmal an Fahrerseite um den Wagen herum, öffnete die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank. Direkt hinter Bob. Ihm lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter, den er sich nicht erklären konnte. Bob schob es auf die Tatsache, dass er alleine in der letzten Stunde drei Tassen Kaffee getrunken hatte, um sich wach zu halten. Als er noch jung war, war es für ihn keine Gottesaufgabe, eine Nacht komplett durchzumachen und anschließend zur Arbeit zu erscheinen. Doch mit seinen stolzen 54 Jahren, hat er um einiges nachgelassen.
„Wo wohnt denn jetzt Ihre Schwester?“ Der musste man wohl alles aus der Nase ziehen.
„Zu den Eldar Woods“, sagte die Frau.
Eine Frau, die vermutlich scheißehigh war, wollte zu ihrer Schwester, die im Wald wohnt. Oder ist „Schwester“ jetzt das neue Codewort für „Dealer“?
„Und wo genau? Dieses Waldgebiet gehört zu den größten in dieser Gegend. Da müssen Sie schon etwas konkreter werden.“, sagte Bob.
„Fahren sie einfach dort hin.“
Bob spielte mit dem Gedanken, ob es nicht vielleicht besser wäre, die Polizei zu verständigen. Doch er entschied sich dagegen. Er kam, auch wenn es gut lief, gerade so um die Runden. Und jetzt hatte er eine Frau, die eine weite Strecken fahren wollte. Er würde an dieser Fahrt gut verdienen. Vorausgesetzt, sie hatte überhaupt Geld dabei. Wenn nicht, musste eben ihre Schwester, oder zu wem auch immer sie hin wollte, blechen.
„Also gut, schnallen Sie sich an“. Bob startete den Motor und fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Mit einem Auge stets am Rückspiegel geheftet. Sie machte weder irgendeinen Laut, noch bewegte sie sich. Es machte ihn nervös, wie sie still hinter ihm saß. Sie machte ihn nervös.
„Wollen Sie vielleicht Musik hören?“, sagte Bob.
Keine Antwort.
„Dann eben keine Musik“, murmelte er in sich hinein.
Er befand sich immer noch auf der voll befahrenen Hauptstraße. Die ganzen Leuchtreklamen der verschieden Etablissements brannten ihm in seinen müden Augen. Bob schreckte auf, nachdem er kurz mit dem Kopf Richtung Lenkrad kippte.
Das Hupen eines Autos zog noch von vorne an ihm vorbei, aber Bob konnte nicht sagen, ob es ihm galt.
„Nehmen Sie das“, sagte die Frau plötzlich hinter ihm und hielt ihm etwas hin, was nach einer weißen Pastille aussah. Jedenfalls sah es im schwachen Licht danach aus.
„Was ist das?“, sagte Bob.
„Es macht sie wach“, flüsterte sie und kicherte dämlich.
Sah man ihm wirklich so sehr seine Müdigkeit an, dass selbst ein zugedröhnter Junkie es erkennt? Oder sie verfügte über eine gute Intuition. Doch es beschäftigte ihn mehr, dass er geneigt war, ihre Hilfe einfach ohne Hintergedanken anzunehmen. Es fühlte sich einfach richtig an. Wie ein Baby, was von seiner Mutter gestillt werden wollte. Also nahm er sich die Pastille und schob sie sich in den Mund.
Wenige Augenblicke ertrank seine Müdigkeit in einer Flut von Energie, die ihn durchströmte.
„Danke“, sagte Bob kurz angebunden. Er war nach wie vor davon überrascht, wie leichtfertig er diese Pastille geschluckt hat. Er hatte Glück, dass es sich um reines Koffein handelte. Aber war es das? Wie konnte er sicher sein, dass er sich nicht gerade Ecstasy eingeworfen hatte, das in gleich ins Lala-Land befördern würde?
Doch an seinem Zustand änderte sich nichts. Er war wach, ja, aber in seinem Kopf lief noch nicht „Na Na Na“ von My Chemical Romance anzumachen und mit Vollgas in einen Club zu fahren. Selbst als Bob das Taxi endlich aus der Stadt manövriert hatte.
Die vielen Lichter vereinzelten sich und die paar Wohnhäuser, an denen er noch vorbeifuhr, wurden zu Feldern. Das Einzige, was noch leuchtete, waren die Reflektoren, die links und rechts am Straßenrand an ihm vorbeischossen. Jetzt konnte er nur einen schattigen Umriss in seinem Rückspiegel erkennen. Es hätte genauso gut ein wohlgeformter Sack Kartoffeln sein können, Selbst der hätte sich wahrscheinlich mehr bewegt.
Nach 20 Minuten, die aus Feldern und unangenehmer Stille bestanden hatte, tauchten weit vorne langsam die Umrisse von Baumkronen auf. Bald konnte Bob diese komische Frau abladen.
„Wir sind jetzt gleich dort. Wollen Sie mir jetzt sagen, wo genau ich halten muss?“
Der Kartoffelsack sagte: „Weiter. Sie werden es erkennen, wenn es soweit ist.“
Bob bekam langsam das Gefühl, dass die gute Frau selber nicht wusste, wo sie eigentlich hin musste. Er überlegte sich noch einmal, ob er nicht lieber zurückfahren sollte, um sie bei der Polizei abzugeben. Anfangs war es noch die Sorge wegen ihrem Zustand gewesen. Jetzt war es Angst. Angst davor, mit dieser komischen Frau in diesen finsteren Wald zu fahren, ohne überhaupt zu wissen, wo er eigentlich hin musste. Er streifte dieses Gefühl von sich. Er konnte sich nicht erlauben, jetzt noch seine Meinung zu ändern. Man würde ihn fragen, warum er mit der Frau schon so weit, rausgefahren war. In jedem Fall würde er auf seine Bezahlung verzichten müssen, und das wäre katastrophal. Nein, er würde sich jetzt zusammenreißen. Dann fuhr er eben diese Dame herum, bis sie wieder von ihrem Trip runter war und sich wieder daran erinnerte, wo sie hin wollte. Und wenn es die ganze Nacht dauerte.
Die Straße wurde unebener, als Bob den Wald erreichte. Die Reflektoren, die ihm den Weg leiteten, hielten einen respektvollen Abstand von den hölzernen Klauen, die alles Licht abwehren zu wollen schienen, um die Finsternis zu bewahren. Jetzt musste er sich voll und ganz auf seine Scheinwerfer verlassen. Ein Paar Glühwürmchen im finsteren Unterholz.
Jetzt sah er nichts mehr im Rückspiegel. Nichteinmal Umrisse blieben übrig. Es kam ihm einen Moment so vor, als würde er alleine fahren. Aber nein. Hörte er etwa ihren Atem? Spürte er ihn gar im Nacken? Bob bekam Gänsehaut. Die Frau war nicht mehr zu sehen, doch dieses mulmige Gefühl blieb. Es wuchs heran, als wäre es ein Kind, das er nie hatte. Ein Kind des Terrors. Nackte Angst.
Nein, jetzt reichte es. Kein Geld der Welt war das hier wert. Bob war schon immer etwas paranoid, wenn er Betrunkene und Junkies, aber das war was anderes. Irgendetwas stimmte hier gewaltig nicht. Diese Frau … dieses DING, war kein zugedröhnter Drogenjunkie.
Er konnte jetzt aus dem Wagen springen und davonrennen, oder er machte ein waghalsiges Wendemanöver und raste aus dem Wald, direkt in die Stadt zurück, während er Zeter und Mordio schrie. Vielleicht lief gerade auch irgendein Lied von Marilyn Manson im Radio.
Der Wagen bremste ab. Aber nicht durch Bob. Er wurde gerbremst. Obendrein gaben die Scheinwerfer ihren Geist auf auf. Die Glühwürmchen waren tot und wurden jetzt von den Schlingen der Nacht mit in die Dunkelheit gerissen.
Stille. Absolute Stille. Selbst das Atmen war verstummt. Kein Luftzug, der seine Nackenhaare hochschnellen ließ. Dieser eine Augenblick fühlte sich für Bob wie eine Ewigkeit an.
Plötzlich öffnete sich sich die Hinterür. Gut, soll diese Schlampe doch austeigen. Doch es war nicht die linke Tür hinter ihm. Die rechte Tür öffnete sich und jetzt hörte er wieder das Atmen. Diesmal kam es aber nicht von unmittelbar hinter ihm.
„Schwester.“ Dieses Wort, das sich anhörte, als würde es sich aus einer zugedrückten Kehle herausquälen, ließ Bob instinktiv aufspringen. Während er die Fahrertür öffnete, ließen ihn seine unkooperativen Beine auch schon auf den erdigen Pfad stürzen. Anstatt zu versuchen aufzustehen, rollte sich Bob unter den Wagen und kniff die Augen zu. Spitze Steinchen drückten sich in seine angespannten Handflächen. Der Schmerz war eine willkommene Ablenkung, während er, am ganzen Leib zitternd auf dem Bauch lag und das erste Mal in seinem Leben betete.
Bob wurde am nächsten Tag wimmernd, noch immer unter seinem Taxi, von zwei Joggern aufgefunden. Als er die beiden sah, sprang er aus seinem Versteck und schrie. Nur ein Wort. Wieder und wieder. Er schrie es, als der Krankenwagen kam. Und er schrie es, als die Ärzte ihn an die Trage fesselten, damit die Nadel der Spritze, mit dem Beruhigungsmittel, ihr Ziel nicht verfehlte. Morgause.