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Mord!
Josef Steiner saß am Küchentisch und starrte aus dem Fenster. Ein nasskalter Aprilmorgen davor, ein trübselige Gedanken hegender Mann dahinter. Steiner dachte an Mord. Sein struppiges, schon ergrautes Haar stand, so dies noch möglich war, in die verschiedensten Richtungen ab. Den Kopf aufgestützt, vernahm er ein kratzendes Geräusch als er mit der Hand über sein Kinn strich. Überhaupt war es viel zu früh, um diesen Tag zu beginnen. Es war sein freier Tag. Was machte er eigentlich schon in der Küche? Ach ja, nach dem Wasserlassen am Morgen hatte sich sein Kopf gemeldet. Er hatte das Gefühl in Watte gepackt zu sein. Das Ticken der Holzuhr über der Küchentür klang anders als sonst. Entfernter, weit entfernt. Seine Augen brannten. Mit sanftem Druck massierte er sie und strich mit Daumen und Zeigefinger Richtung Nasenwurzel. Verdammt, ein Pickel. Eine Begleiterscheinung seines unsteten Lebenswandels. Er saugte hörbar genervt Luft ein, um sie kraftvoll auszublasen. Begleitet von leichtem Schwindelgefühl.
Nicht einmal Kaffee hatte sie ihm an diesem grauen Morgen zubereitet. Steiner legte seinen Kopf in beide Hände und dachte an Katrin. Seine Frau hatte an normalen Tagen, an denen sie vor ihm das Haus verließ, immer den Kaffee in die Maschine gegeben. Er brauchte dann nur noch auf die „ON“ Taste zu drücken und konnte sich seiner Körperpflege widmen. In der Zwischenzeit verbreitete sich unter brodelnden Geräuschen ein Hauch Kolumbien in der Küche. Aber wann war der letzte normale Tag in ihrer langjährigen Beziehung gewesen, sinniert Steiner. In letzter Zeit ging sie immer öfter weg und nahm keine Rücksicht mehr auf ihn. Der Streit gestern Abend hatte wohl dass Seinige dazu beigetragen. Bevor die Auseinandersetzung total eskalierte, hatte er sich in Christians Zimmer verkrümelt. Er konnte nicht verstehen, warum sie sich immer so echauffieren musste, wenn er mit seinen Kumpeln nach Dienst noch einen Absacker nahm. Gut, gestern wurden es wieder mehrere, aber er war doch vor Mitternacht zu Hause. Auch dem Dienstwagen war nichts passiert. Und überhaupt, er hatte ja nicht von ihr verlangt, auf ihn zu warten. Weiber!
Steiner wollte sich nicht zugestehen, dass seine Frau Recht hatte. Er, der eine Vorbildwirkung in der Gesellschaft einnahm, war im Moment alles andere als ein Inbegriff von einem Vorbild. Er konnte jedoch nicht anders. In seinem Innersten rumorte es gewaltig und er wusste nicht, wohin ihn das führen würde. Midlife-Crisis bei Männern? Davon hatte er schon gehört, daran geglaubt aber nicht. Er räusperte sich und nahm einen kräftigen Schluck Selbstgebrühtes. Sein Gesicht ähnelte in diesem Augenblick dem eines Pekinesen, nur nicht so niedlich. Er hatte das Radio absichtlich nicht angestellt und sein Handy abgeschaltet. Er wollte sich konzentrieren. Das gelang ihm in der Stille des Raumes am besten. Obwohl es mit diesem Kaffee nicht leicht war, sein geschundenes Hirn zum Denken zu bewegen. Er musste an Christian denken. Ein schwermütiger Seufzer glitt ihm dabei über die Lippen. Er liebte seinen Sohn über alles. Sie waren ein Team gewesen, wie die Musketiere, nur eben zu zweit. Christian hätte ihn verstanden, er wäre zu seinem Vater gestanden. Er würde wissen, dass ein Mann tun muss, was ein Mann tun muss. Seit Christian die elterliche Wohnung verlassen und wegen seines Studiums nach Linz gezogen war, hatten Katrin und er zwar mehr Lebensraum, wussten ihn aber nicht mehr gemeinsam zu nützen.
Der Regen war stärker geworden und trommelte vom Wind getrieben an die Fensterscheiben. Steiner beobachtete das Schauspiel explodierender Regentropfen. Die Unwirtlichkeit begehrte mit aller Macht Einlass. Ein dünnes Lächeln zierte seine Lippen. Er schien froh darüber zu sein, in der warmen Küchenstube zu sitzen. Oft genug war er bei so einem Wetter unterwegs gewesen, bei seinen Patrouillengängen, die er zu absolvieren hatte. Bis auf die Haut wurde er oft nass dabei und hatte sich mehr als einmal den Arsch abgefroren. Dank Jack Wolfskin war das besser geworden. In jungen Jahren, wenn er bei solchen Bedingungen unterwegs gewesen war, hatte er vor Freude gejauchzt. Allein mit sich, seinen Gedanken und der Natur. Mit der Zunge hatte er nach den Regentropfen geschnappt, die ihm von der Nase tropften. Die Arme ausgebreitet und sein Gesicht dem Regen entgegengestreckt: Komm nur und reinige meine Gedanken. Im Regen langsamen Schrittes die Wälder zu durchstreifen und keine Menschenseele zu treffen, das hatte etwas Erhebendes für Josef Steiner. Dabei konnte er seinen Gedanken Raum geben, sie entfalten. Der Duft des Waldes war wie ein Lebenselixier, harzig und herb. Die unbändige Kraft der Bäume, welche hoch in den Himmel wuchsen, spornten auch ihn zu Leistungen an. Das feuchte, modrig duftende Moos des Waldbodens dämpfte oftmals seine schweren Schritte. Die Bäume stützten ihn sanft, wenn er sich aus Müdigkeit dagegenlehnte. Wenn dann zum Nieselregen noch der Nebel einfiel, hatte er oft ein Gefühl, als würde er der Ewigkeit entgegenwandern. Nur sein Atem war zu hören, der die Lungen mit Sauerstoff versorgte. Manchmal hatte ihn ein Rascheln eines aufgeschreckten Tieres, aus seiner Traumwelt gerissen; hie und da der Ruf eines Vogels, der sich gestört fühlte. Das gehörte aber dazu, zu dem Film, der in seinem Kopf ablief. Ab und zu traf er an solchen Tagen auch Oberförster Hermann Linger, der ein Gleichgesinnter war. Sie tauschten sich dann immer über Jagdglück und Fahndungserfolge aus. Wo und wann sie zuletzt den Sechzehnender, den kapitalsten Hirschen im Revier, gesehen hatten. Und ob zu Hause alles in Ordnung sei. Beide Familien waren gut befreundet. Nach einem kurzen Plausch trennten sich anschließend wieder ihre Wege. In diesen Tagen war vieles anders geworden. Steiners Liebe zur Natur verblasste. Er war zu einem Stubenhocker und Couch-Potato geworden. Lieber einen Abend an der Bar, als einen Tag im Wald. Die Bequemlichkeit hatte ihn fest in der Hand und verstand es sehr gut, in einzuschläfern.
Viele Gedanken schwirrten an diesem Morgen in seinem Kopf herum. Wo war der richtige Weg, um wieder die Kurve zu kriegen, im Leben? Er hasste es, wenn Katrin ihn ignorierte. Bild ohne Ton hieß dieses Spiel, das sie ausgezeichnet beherrschte. Wenn es ganz arg wurde, half nicht einmal mehr ein Strauß Blumen. Einmal hatte er ihr voller Zorn einen Kaktus mit den Worten: „Für meine liebe Frau!“, auf den Tisch gestellt. Ihre Begeisterung hatte sich in Grenzen gehalten und Bild ohne Ton dauerte anschließend vierzehn Tage. Das war Rekord.
Er liebte sie, wusste aber nicht mehr genau wie. War es ihre Wärme, die ihn in manch kalter Winternacht gewärmt hatte? War es ihr makelloser Körper und ihr hübsches Gesicht, um das ihn seine Kollegen beneideten? War es ihre überlegte Art, mit denen sie den Problemen des Alltags begegnete? Oder war es nur bequem jemanden zu haben, der alles für ihn tat? War ihre Liebe am Ende? Der Himmel, der früher voller Geigen hing, war nun mit einem Haufen wurmstichigem Holz gefüllt. Er musste etwas unternehmen. So konnte es nicht weitergehen. Er hatte das Gefühl, jeden Moment zu platzen. Er musste an etwas anderes denken, brauchte eine Lösung für sein Problem. Steiner senkte seinen Blick. Je mehr er darüber nachdachte und je mehr er sich anstrengte, etwaige Alternativen abzuwägen, desto deutlicher wurde ihm die Lösung für sein Problem. Er kam immer auf dasselbe Ergebnis Mord. Es war ein komisches Gefühl, ja, ein abartiger Gedanke. Er, Josef Steiner, Alpinpolizist, saß da und dachte an Mord. Was wohl seine Kollegen davon halten würden?
Ist der jetzt von allen guten Geistern verlassen? Jetzt wird es Zeit ihn zu verabschieden. Fünfunddreißig Jahre Polizeidienst sind ihm scheinbar zu viel geworden. Der ist ja nicht einmal mehr für den Innendienst zu gebrauchen. Mord - so ein Schwachsinn! Am besten wäre es, wir würden ihn in Sicherheitsverwahrung nehmen. Vielleicht wäre uns Katrin sogar dankbar dafür, sie hat es nicht immer leicht gehabt mit ihm in letzter Zeit.
Kurz stand ein süffisantes Grinsen in Steiners Gesicht. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und ekelte sich erneut. Heute war die Brühe wieder besonders misslungen. Den schalen Nachgeschmack der gestrigen Geburtstagsfeier – Bier, Wein, Wodka, in dieser Reihenfolge, und jeder Menge Zigaretten, konnte er mit diesem seichten Gebräu nicht bekämpfen. Das eine Mal wurde sein Kaffee zu dünn, verfehlte jedwede Wirkung, das andere Mal wurde er zu stark und er rannte den ganzen Tag wie aufgezogen herum. An diesem Freitagmorgen war es Ersteres. Wie sollte er diesen Tag überstehen, wie sein Problem lösen? Dabei hatte er gar nicht lange bleiben wollen, gestern. Nur dem Franz gratulieren, zum Fünfziger. Man wird ja nicht alle Tage Fünzig! Nur eines zum Anstoßen hatte er sich gedacht und dann ab nach Hause. Aber eines ist keines. Sein labiler Charakter war eines Polizisten eigentlich unwürdig. Ein Polizist, noch dazu im gehobenen Alter, musste sich durchsetzen können. Wenn es sein musste, auch gegen sich selbst. Er tat es nie gern, aber in gewissen Situationen war durchzugreifen. Er konnte ja nicht wegsehen, wenn er einen Wanderer mit einem Strauß Frauenschuh ertappte und ihn einfach laufen lassen. Der Frauenschuh ist eine geschützte Pflanze! Man hatte sich an gewisse Regeln zu halten. Gestern Abend hatte er sich über einige hinweg gesetzt.
Soweit seine heftigen Kopfschmerzen es zuließen, dachte Steiner nochmals kurz und intensiv nach und kam zu dem Schluss: Verdammt noch einmal, Mord ist die einzige Lösung und ich werde es wagen.
Er griff nach seiner Lesebrille, verstärkte damit die Sehkraft seiner stahlblauen Augen, nahm den Werbekugelschreiber in seine rechte Hand und schrieb: MORD. Diese vier Buchstaben passten genau in jene vier Kästchen, über denen Tötungsdelikt gestanden hatte. Die letzte offene Spalte war gefüllt und somit das gesamte Rätsel gelöst. Wie ein Schneekönig freute sich Josef Steiner darüber, dass er, ohne auf die Lösungshinweise im Anzeigenteil angewiesen zu sein, dieses Kreuzworträtsel lösen konnte. Er machte das fast jeden Morgen und nicht immer gelang es ihm so bravourös. Sogar der letzte Schluck Kaffee, der nun schon die Temperatur eines Eiskaffees erreicht hatte, schmeckte plötzlich. Mit einem JA und zur Decke gestrecktem Arm als Zeichen seines Sieges gegen den Erfinder dieses Kreuzworträtsels, konnte er den Tag nun beginnen. Er tat dies mit einer heißen Dusche.