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Moorgeister
Remigius betrat das schäbige Wirtshaus, das sich am Rande des Dorfangers in die Schatten des Mondlichts duckte, und ließ seinen Blick durch den niedrigen Schankraum schweifen. Obwohl es bereits auf Mitternacht zuging, war der langgestreckte Raum, der von einem Dutzend Fackeln an den Wänden in ein gelbliches, unstetes Licht getaucht wurde, zum Bersten gefüllt mit lärmenden, betrunkenen Dörflern und nicht minder lauten und betrunkenen Fremden auf der Durchreise. Auf dem Weg zum Tresen, der sich im hinteren Teil über die gesamte Breite des Wirtshauses erstreckte, schob sich Remigius durch die erhitzte Menge, vorbei an Tischen, auf denen abgegriffene Karten ihren Spielern lang ersehntes Glück vorgaukelten, und an betrunkenen Männern in Reisekleidung, die, mit offenherzigen Dirnen auf dem Schoß, einem weitaus kurzweiligeren Glück entgegenstrebten. Remigius entdeckte eine Lücke am Tresen und steuerte eilig darauf zu. Zwischen einem schwarzgekleideten Fremden zu seiner Linken und einem Dörfler mit reichlich Schlagseite zu seiner Rechten lehnte er sich über grob zusammengezimmerte Eichenbretter nach vorne, auf der Suche nach dem Wirt, der am anderen Ende des Tresens mit einer Gruppe Dörfler sprach.
„Hey, Wirt! Ein Krug Met, wenn’s recht ist!“, rief Remigius und schwenkte einen Arm in der Hoffnung, ihn über den Lärm hinweg auf sich aufmerksam machen zu können. Tatsächlich wandte der Wirt den Kopf und schrie dann quer durch den Schankraum:
„Trudi, der lange Dünne im schwarzen Umhang will einen Krug Met!“
Dann vertiefte er sich wieder in sein Gespräch. Remigius reckte sich und entdeckte eine kleine, rundliche Frau mit Schürze, die sich resolut ihren Weg durch die lärmende Menge bahnte. Sie schlüpfte hinter den Tresen, füllte einen Krug und stellte ihn, nach einem kurzen, suchenden Blick, vor Remigius ab.
„Na, Großer? Was verschlägt Dich in dieses schäbige Loch am Ende der Welt?“
Sie wischte den metgetränkten Tresen mit einem fleckigen Lappen und lächelte ihn an. Remigius setzte den Krug an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Nachdenklich betrachtete er die Wirtin.
„Gute Frage. Ich bin ... auf der Suche nach etwas und irgendwie ... zufällig hier gelandet.“
„Auf der Suche, hm? Und was suchst Du, Großer?“ Sie zwinkerte ihm vertraulich zu.
Remigius lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Mit verschlossener Miene taxierte er sie. Die Wirtin hob beschwichtigend die Hände und eine leichte Unsicherheit stahl sich in ihr Lächeln.
„Schon gut. Keine Fragen, ich verstehe schon. Wenn Du noch etwas willst, Großer, dann ruf mich einfach. Mein Name ist Trudi.“
Remigius nickte knapp und entspannte sich erst, als sie davongewuselt war. Erleichtert trank er den halben Krug auf einen Zug aus. Der schwarz gekleidete Mann neben ihm schien das kurze Gespräch trotz des Lärms mit angehört zu haben, denn er lehnte sich nun verschwörerisch zu ihm herüber und raunte:
„Diese Dörfler sind doch alle gleich. Neugierig bis aufs Blut.“
Remigius musterte den Fremden und machte dann eine vage Handbewegung, die man als Zustimmung deuten konnte.
„Ich bin Baldur.“ Der Fremde streckte seine Rechte über den klebrigen Tresen und Remigius ergriff sie zögernd.
„Thomas“, sagte er und zog seine Hand hastig wieder zurück. Der Fremde war nicht groß, aber kräftig, und obwohl er betont lässig am Tresen lehnte, strahlte seine Haltung Wachsamkeit aus. Unter einem speckigen Schlapphut blitzten eisblaue Augen. Baldur wandte sich ab und winkte dem Wirt. Über die Schulter fragte er: „Für Dich auch noch ein Krug Met, Thomas?“
Remigius schwieg und als sich Baldur zu ihm umdrehte und ihn fragend ansah, schüttelte er den Kopf. „Ich habe gerade noch genug Geld, um einen Schlafplatz in der Scheune bezahlen zu können.“
Baldurs Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er Remigius brüderlich den Arm um die Schultern legte. „Ah, wenn’s weiter nichts ist ... Der geht auf mich. Wir Reisenden müssen doch zusammenhalten.“
Vier Stunden und sieben Krüge Met später streckte sich Baldur auf seinem Stuhl. Nachdem sich der Schankraum zu vorgerückter Stunde zusehends geleert hatte, konnten die beiden ihre Konversation an einem der nun verwaisten Tische fortführen, was angesichts ihrer zunehmenden Schwierigkeiten, in der Vertikalen zu bleiben, von Vorteil war. Remigius dämmerte mit dem Kopf auf der schmierigen Tischplatte vor sich hin. Baldur betrachtete ihn mit einem spöttischen Lächeln. Es war ein Leichtes gewesen, ihn unter den Tisch zu trinken, aber dieser hagere Bursche war zäher, als er erwartet hatte. Bislang hatte Baldur ihm nicht entlocken können, wonach dieser suchte, und je länger Remigius dichthielt, desto sicherer wurde sich Baldur, dass der dürre Kerl, der gerade selig lächelnd auf den schmutzigen Tisch sabberte, hinter etwas Wertvollem her war. Er warf einen Blick in die Runde. Durch die wenigen Fenster drang das erste graue Licht der Morgendämmerung. Am anderen Ende des Schankraums waren der Wirt und zwei Dörfler über ihrem Kartenspiel zusammengesunken und die Wirtin wischte die Tische mit einem Lappen ab, dessen Farbe von der des Met-imprägnierten Holzes nicht mehr zu unterscheiden war. Zeit, aufzubrechen. Baldur trug die Krüge zum Tresen und stellte sie vor der Wirtin ab, die nun unter Klirren und Klappern mit Spülen beschäftigt war. Aus müden Augen warf sie ihm einen dankbaren Blick zu.
„Na? Was herausgefunden?“
„Nein, der Kerl ist verschlossen wie eine Jungfrau in der Hochzeitsnacht. Da werde ich schwerere Geschütze auffahren müssen. Wenn er aufwacht, sag ihm, Baldur erwartet ihn bei den Ställen und dass ich bereits Reisearrangements für mich und meinen neuen Bruder getroffen habe.“
„Baldur, hm? Nett.“ Die Wirtin schmunzelte.
„Ach komm, sieht der für Dich aus wie ein Thomas?“ Baldur grinste schief, dann schnippte er fünf glänzende Taler auf die Theke. „Für den Met. Und für Deine Mühen.“ Er zwinkerte ihr zu und verließ dann unmerklich schwankend das Wirtshaus.
Als Remigius erwachte, schickte die Sonne bereits ihr von grauen Schleierwolken getrübtes Licht in den Schankraum. Vorsichtig hob er seinen dröhnenden Schädel vom Tisch und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Selbst das Bewegen der Augen in ihren Höhlen tat weh. Die schweren Lider halb geöffnet, sah er sich langsam um. Die Wirtin kehrte gerade Scherben und andere undefinierbare Überbleibsel der letzten Nacht durch die weit offen stehende Türe hinaus. Als sie bemerkte, dass Remigius wach war, rief sie:
„Na, Großer? Wohl geruht?“
Remigius brachte nur ein leises Stöhnen heraus und hielt sich dann mit beiden Händen den schmerzenden Kopf.
„Ich soll Dir was von Baldur bestellen: Er hat für euch beide Reisevorbereitungen getroffen und wartet bei den Ställen auf Dich.“
Remigius hob verwirrt den Kopf. „Reisevorbereitungen?“, echote er verständnislos.
Die Wirtin trat zu ihm an den Tisch und stützte sich auf ihren Besen. Sie schüttelte amüsiert den Kopf. „Junge, Junge, Du bist ja völlig hinüber. Überleg Dir gut, ob Du nochmal mit Baldur trinkst.“
„Er hat mich abgefüllt“, murmelte Remigius, „dieser Schuft!“ Plötzlich fuhr er erschrocken zusammen, zog hastig seinen rechten Stiefel aus und öffnete ein verborgenes Fach im Absatz. Darin war ein kleiner lederner Beutel versteckt, den er nun herauszog. Als er sich vergewissert hatte, dass der Inhalt vollständig war, sank er erleichtert gegen die Stuhllehne. Die Wirtin hatte ihm mit gerunzelter Stirn zugesehen und streckte nun fordernd die Hand aus.
„Kein Geld, wie? Dein neuer Freund hat für Deinen Met bezahlt, aber Du schuldest mir noch etwas für das große Vergnügen, hier genächtigt zu haben!“
Remigius sah sie verzweifelt an. „Bitte, das Geld ist für meine kranke Frau. Ich kann es nicht ausgeben!“
„Ja, ja, und ich brauche jeden Taler für meine Großmutter. Erzähl mir keine Märchen! Gib mir, was Du mir schuldest, sonst wird es hier ganz schnell ungemütlich für Dich!“
Das Gesicht der fröhlichen Wirtin war nun eisern und ihr kalter Blick duldete keinen Widerspruch. Unglücklich drückte Remigius ihr einen Taler in die Hand, dann verstaute er den Beutel sorgfältig im Absatz seines Stiefels. Die Wirtin hatte das Geldstück in eine Tasche ihrer Schürze fallen lassen und warf nun einen etwas milderen Blick auf das Häufchen Elend vor ihr auf dem Stuhl.
„Nichts für ungut, Großer. Wir müssen alle leben“, und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Nimm Dich vor Baldur in Acht. Er wird Dir nicht gleich im Schlaf die Kehle durchschneiden, aber er ist ein Gauner, durch und durch. Und Dein Versteck wird nicht lange vor ihm sicher sein.“ Mit einem Nicken entfernte sie sich und Remigius sah ihr bestürzt nach.
Als er draußen vor dem Wirtshaus im trüben Licht des Vormittags stand, blickte er unschlüssig um sich. Er war hier gestrandet, mitten im Nichts. Seine todkranke Frau wartete zuhause darauf, dass er mit dem Eoh-Amulett zu ihr zurückkehrte, dessen magische Heilkräfte ihre letzte Hoffnung waren. Doch er befand sich nun seit zwei Monden vergeblich auf der Suche nach der Hexe, die es laut Legende besaß, und nun würde das Geld, das er für seinen Erwerb im Stiefelabsatz versteckt hatte, gerade so für die Heimreise reichen. Hoffnungslos ließ er die Schultern hängen und begann leise zu schluchzen.
„Heda, Thomas!“
Baldur war soeben aus den Stallungen gegenüber des Wirtshauses getreten und verdrehte nun die Augen, als Remigius auf seinen Ruf nicht reagierte. Sein Pfiff gellte über den Dorfanger und ließ Remigius zusammenfahren. Er sah auf und erkannte durch den Tränenschleier Baldur, der ihm bedeutete, herüberzukommen. Mit dem Ärmelaufschlag wischte er sich die Tränen von den Wangen. Was hatte er jetzt noch zu verlieren? Mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren, kam nicht in Frage. Vielleicht war es an der Zeit, sich mit einem Gauner zusammenzutun. Entschlossen zog er die Nase hoch und stapfte dann auf Baldur zu, der sich nun umdrehte und in den Ställen verschwand. Remigius fand ihn im Hinterhof, wo er, zwei kleine, drahtige Pferde am Zügel, einem älteren Herrn in vornehmer Kleidung die Hand gab. Der ältere Mann warf einen flüchtigen Blick auf Remigius und verschwand dann wortlos eine hölzerne Treppe hinauf, in einem Raum über den Stallungen. Baldur hielt Remigius ein Paar Zügel hin, doch dieser sah ihm nur fest in die Augen.
„Warum tust Du das?“
„Warum tue ich was?“, fragte Baldur mit einem unschuldigen Lächeln.
„Verkauf mich nicht für dumm! Du bezahlst meine Zeche, beschaffst zwei Pferde für unsere Reise, von der Du nicht einmal weißt, wo sie hingeht. Was versprichst Du Dir davon? Ich bin nahezu mittellos und es wird auch niemand ein Lösegeld für mich bezahlen.“
Baldur entgegnete empört: „Also nach Allem, was ich für Dich getan habe, unterstellst Du mir unlautere Absichten? Mir, mit dem Du letzte Nacht Bruderschaft getrunken hast?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ihn Remigius schweigend an. Baldur starrte einen Moment lang zurück, dann verzog sich sein Gesicht zu einem listigen Grinsen.
„Na schön. Du hast mir zwar nicht gesagt, was Du suchst, aber es muss wertvoll sein, sonst würdest Du nicht so ein Geheimnis daraus machen. Ich finde Dinge. Ist ‘n Talent. Deshalb schlage ich Dir ein Geschäft vor: Du sagst mir, was Du suchst, ich helfe Dir, es zu finden, und dann teilen wir, halbe-halbe.“
Remigius verschränkte die Arme. „Das geht nicht, nein. Ich brauche es im Ganzen, sonst war alles umsonst.“
Das Grinsen wich aus Baldurs Gesicht und für einen Moment blitzte Ärger in seinen Augen auf. Dann schürzte er abschätzig die Lippen, während sich eine ungekannte Härte in seinen Zügen einnistete.
„Ich will´s mal so sagen, Thomas, Du schuldest mir was, denn ich habe Deine Zeche bezahlt. Da Du nicht in der Lage bist, mir zu geben, was Du mir schuldest, gibt es jetzt noch genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich breche Dir sämtliche Knochen, was zwar dazu führen würde, dass ich mich besser fühle, aber mitnichten unser finanzielles Problem löst; oder wir suchen und finden Deinen geheimnisvollen Wertgegenstand, der in Deinem Interesse so viel abwerfen sollte, dass ich zusätzlich zur Deckung meiner Aufwendungen ein hübsches Sümmchen dabei verdiene. Denn wenn ich meine Zeit und Ressourcen umsonst investiere, wird es für Dich verdammt unangenehm.“
Baldur registrierte Remigius´ entsetzten Blick und lächelte zufrieden. Er hielt in jeder Hand ein Paar Zügel und legte nun fragend den Kopf schief. „Rot oder Weiß?“
Remigius starrte ihn noch immer mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund an. Baldur zuckte mit den Schultern, warf ihm die Zügel des Schimmels zu und schwang sich auf die fuchsfarbene Stute. Remigius schloss schicksalsergeben für einen Moment die Augen. Dann erklomm er unbeholfen das lichtgraue Pferd, das von weitem deutlich kleiner gewirkt hatte. Sein Reittier wartete geduldig, bis er es sich im Sattel leidlich bequem gemacht hatte. Baldur beobachtete ihn mit einem amüsierten Grinsen. „Nun denn. Wohin?“
Remigius seufzte und ließ den Kopf hängen. „Wenn ich das wüsste, wäre ich wohl nicht hier.“
Baldur schien weiter fragen zu wollen, doch eine Bewegung hinter seinem unfreiwilligen Begleiter erregte seine Aufmerksamkeit. An einem der Fenster über den Ställen war das bleiche Gesicht des Pferdehändlers zu sehen, bevor es sich hastig zurückzog.
„Erstmal raus aus dem Dorf, denke ich. Sobald wir vor neugierigen Ohren sicher sind, erzählst Du mir, was wir suchen.“ Mit diesen Worten wendete Baldur sein Pferd und ritt mit eingezogenem Kopf durch ein Seitentor auf eine schmale Gasse hinaus. Der Schimmel trottete hinterher, während sich Remigius den schmerzenden Kopf hielt.
Das winzige Dorf bestand aus einer Handvoll ärmlicher Häuschen, die sich um den Dorfanger scharten. Die breite Straße, die das Wirtshaus mit Kundschaft versorgte, war zu dieser Jahreszeit schlammig und vergleichsweise wenig frequentiert. Baldur und Remigius ließen das Dorf rasch hinter sich und bogen bei der ersten Gelegenheit von der Hauptstraße ab, um ihren Weg auf kleineren, verschwiegenen Feldwegen fortzusetzen. Am Rande eines Pappelhains machte Baldur schließlich Halt. Außer ein paar zwitschernden Vögeln und einem leisen Rascheln in den Kronen der Zitterpappeln durch gelegentliche Windböen war nichts zu hören. Abseits der breiten Hauptstraßen, die weit entfernte Städte miteinander verbanden, traf man in dieser spärlich besiedelten Gegend selten auf eine menschliche Seele.
„Also, mein Freund, was ist es, das Du so verzweifelt suchst? Und wage es nicht, mich hinters Licht zu führen!"
Remigius hatte längst für sich entschieden, dass seine Chancen, das Amulett zu finden, mit diesem Gauner an seiner Seite nur steigen konnten. Wie er den verschlagenen Spitzbuben später loswerden sollte, konnte er sich dann überlegen, wenn es so weit war. Daher zögerte er nicht, Baldur alles zu erzählen, was er über den Verbleib des magischen Amuletts wusste und als er geendet hatte, sann Baldur eine Weile schweigend vor sich hin. Dann gab er sich einen Ruck und wendete sein Pferd. Remigius beeilte sich, an seine Seite zu gelangen.
„Weißt Du, wo wir es finden werden?“
„Ich habe zumindest eine Idee, wo wir mit der Suche anfangen können“, entgegnete Baldur. „Ich habe mein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht, mal hier, mal dort, und überall erzählt man sich Geschichten, die einen gemeinsamen Kern haben: Vor langer Zeit lebte eine Nymphe im Moor in den Bergen. Immer, wenn der Mond zur Gänze verschwand, brachten ihr die Menschen Opfergaben dar, damit sie ihnen wohl gesonnen sei und den Mond wieder zum Leuchten brächte. Eines Tages kam eine Hexe in eins der Dörfer. Schnell versammelten sich die Menschen der Umgebung auf dem Dorfanger und die Hexe versprach ihnen, sie von der Nymphe zu befreien, die immer wieder den Mond verdunkelte. Sie hielt ein magisches Amulett in die Höhe und bot ihnen an, damit die Nymphe von ihrem Moor in den Bergen zu vertreiben, gegen Bares, versteht sich. Als die Hexe dann am Rande des Moores anfing, Zaubersprüche zu murmeln und das Amulett zu schwenken, da tauchte die Nymphe erbost aus den Nebeln auf und zog die Hexe mitsamt dem Amulett in die Tiefe.“ Baldur machte eine Pause und kratzte sich am Hinterkopf. „Die Nymphe heißt in jedem Dorf anders, genauso wie die Hexe, und das Moor befindet sich mal hier und mal da. Aber es gibt immer wieder Leute, die danach suchen, denn angeblich ist die Hexe mitsamt ihrer Bezahlung im Moor versunken. Ob jemals irgendjemand die Barschaft gefunden hat, weiß ich nicht. Man hört nur, dass die Leute in die Berge aufbrechen, und dann hört man meist nichts mehr von ihnen.“
Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Irgendwann begann es, leicht zu nieseln. Schwere Wolken hingen tief am Himmel und in der Ferne, in der Richtung, aus der sie kamen, sah man hin und wieder Wetterleuchten. Das Gelände stieg unmerklich an, die Felder und Wiesen blieben zurück und düsterer Wald schloss sich hinter den beiden Reitern. Unermüdlich arbeiteten sich die schmalen Pferde bergan. Die Regentropfen wurden allmählich größer und bald saßen die beiden Männer mit eingezogenen Köpfen im Sattel, während der Regen auf sie niederprasselte. Sie waren völlig durchgeweicht, als Baldur durch den dichten Regenvorhang eine dunkle Öffnung in einer Felsformation entdeckte. Eilig steuerte er darauf zu, sprang aus dem Sattel und zog seine Fuchsstute tiefer in die Höhle. Remigius war ebenfalls abgestiegen und bekam nun einen Schwall Wasser ab, als sich sein Schimmel wie ein Hund die Nässe aus dem Fell schüttelte. Er zog Hut und Mantel aus und knetete beides in den Händen, um das Wasser aus dem Stoff zu pressen. Baldur hatte es sich bereits auf einem kleinen Felsbrocken in der Nähe des Höhleneingangs bequem gemacht und stopfte nun in aller Seelenruhe eine Pfeife. Remigius trat zu ihm und starrte missmutig nach draußen, wo eine graue Wand aus Regen alles jenseits des nächstgelegenen Baums verschluckte. Hin und wieder konnte man bereits leises Donnergrollen hören. Das Unwetter holte sie ein.
„Wir werden hier übernachten. Es hat keinen Sinn, weiterzureiten“, brummte Baldur. Kleine Wölkchen verließen seinen Mund.
„Wie hast Du`s geschafft, dass dein Tabak trocken geblieben ist?“, fragte Remigius und kippte dabei einen Schwall Wasser aus seinem linken Stiefel. Baldur sah unverwandt nach draußen und lächelte in sich hinein.
„Geheimnisse, mein Freund, sind was Feines und würzen das Leben, auch wenn`s nur kleine sind. Du solltest Dir angewöhnen, Deine nicht so schnell zu verraten.“
Remigius warf ihm einen wütenden Blick zu. „Soweit ich mich erinnere, hast Du mich dazu gezwungen!“
„Du hättest einfach nur den Met ablehnen brauchen, mein Freund.“
„Ich bin nicht Dein Freund!“
Baldur betrachtete ihn amüsiert, wie er mit hochrotem Kopf und geballten Fäusten über ihm aufragte. Er erhob sich und sah Remigius fest in die Augen. „Ohne mich würdest Du das Amulett niemals finden. Dieses Arrangement ist zu unser beider Vorteil. Aber wenn Du aussteigen und nach Hause zurückkriechen willst, bitte, geh! Nachdem Du mir zurückgezahlt hast, was Du mir schuldest. Und damit das klar ist: Das Pferd ist genauso wenig ein Geschenk wie der Met, den Du literweise in Dich hinein gekippt hast.“
Remigius sah ihn hasserfüllt an, doch er schwieg und die Zornesröte wich langsam aus seinem Gesicht. Sie machte bald einer mutlosen Resignation Platz und niedergeschlagen senkte er den Blick. Baldur klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Kein Grund, sich zu grämen, mein Freund. Wir werden Dein Amulett finden und wenn wir es verkauft haben, sind wir beide ein gutes Stück reicher und jeder geht seiner Wege.“
Baldur wandte sich ab und ging in den hinteren Teil der Höhle davon. Kleine Rauchwölkchen stiegen in regelmäßigen Abständen über ihm auf. Remigius sah ihm einen Moment nach und setzte sich dann auf den kleinen Felsbrocken. So oft er ihn auch „mein Freund“ nennen mochte, dieser Strauchdieb würde ihm das Amulett nicht freiwillig überlassen, soviel war sicher. Unwillkürlich tastete er nach dem Dolch, der unter seinem Gewand verborgen war.
Er saß noch eine Weile sinnend auf dem Stein, als ein ohrenbetäubender Donnerschlag ihn plötzlich zusammenfahren ließ. Das Gewitter schien seine Kraft gesammelt zu haben und entlud sich nun direkt über ihnen. Blitze erhellten das düstere Grau vor der Höhle und Donnerschläge krachten, dass man meinen konnte, die Höhle stürze ein. Windböen trieben den Regen weit unter den überhängenden Fels und Remigius floh von seinem bequemen Sitzplatz. Die Pferde waren nervös und drängten sich dicht aneinander. Baldur kniete am Boden und versuchte, einen kümmerlichen Haufen trockener Äste zum Brennen zu bringen, doch der Wind blies die kleinen Flammen immer wieder aus. Als Remigius zu ihm trat, sah er kurz auf und stieß dann einen Fluch aus. Remigius schüttelte den Kopf.
„Das wird doch nichts. Geh schlafen, ich übernehme die erste Wache.“
Baldur brummte etwas Unverständliches und erhob sich dann, um sein Pferd abzusatteln. Hinter einem Felsvorsprung, der den Wind ein wenig abhielt, streckte er sich auf dem blanken Felsboden aus, den Kopf auf den Sattel gebettet. Remigius suchte sich einen Platz, von dem aus er den Höhleneingang im Blick hatte. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, da hallte Baldurs markerschütterndes Schnarchen durch die Höhle.
Remigius blinzelte träge, dann fuhr er auf. Er musste eingeschlafen sein, doch etwas hatte ihn geweckt, ein Geräusch, das als vage Erinnerung in seinem Kopf nachhallte. Er lauschte angestrengt. Der Regen prasselte nicht mehr erbarmungslos auf die Erde nieder, vielmehr plätscherte und tropfte er nun friedlich vom Himmel. Hin und wieder donnerte es, doch es war nur noch ein leises Grollen, das sich langsam entfernte. Der Wind hatte nachgelassen und die Pferde dösten vor sich hin. Die Welt beruhigte sich wieder. Plötzlich hoben die Pferde alarmiert die Köpfe. Remigius hatte es ebenfalls gehört: Ein einzelnes Heulen, das kurz darauf beantwortet wurde. Wölfe. Fluchend sprang er auf, um Baldur zu wecken, doch dieser war bereits auf den Beinen. Wieder ertönte ein Heulen, diesmal deutlich näher. Baldur stand in der Mitte der Höhle und kramte hektisch in seinen Taschen.
„Was zum Teufel tust Du da?“
„Wir müssen ein Feuer machen! Trag die Zweige vor den Eingang!“
Remigius raffte die trockenen Äste zusammen und rannte nach vorne, wo er plötzlich zurückprallte. Die Dunkelheit vor der Höhle bewegte sich. Er warf die Zweige auf den Boden und ergriff die Flucht.
„Sie sind hier! Sie sind direkt vor der Höhle!“
Wie zur Bestätigung ertönte ein vielstimmiges Heulen, das von den Felswänden widerhallte. Baldur hatte seine Zündutensilien gefunden und eilte Richtung Höhleneingang.
„Kümmere Dich um die Pferde, sonst laufen sie uns noch davon!“, rief er über die Schulter. Keinen Moment zu früh, denn schon sprengte die kleine Fuchsstute los, floh in Richtung des einzigen Ausgangs, den die Höhle besaß: Direkt auf die Wölfe zu, die nun bereits als einzelne Umrisse zu erkennen waren. Remigius warf sich nach vorne, bekam einen Zügel zu fassen und wurde ein paar Meter mitgeschleift, bevor er die Stute zum Halten brachte. Sein Schimmel war der Füchsin gefolgt, und stand nun augenrollend hinter ihr. Remigius packte auch ihn am Zügel und zog die beiden panisch hin und her springenden Pferde zurück nach hinten, so weit weg wie möglich vom Höhleneingang, wo Baldur unter lautem Fluchen endlich ein kleines Feuer in Gang gebracht hatte. Die Wölfe waren nun deutlich zu sehen, wie sie lauernd am Rande des Feuerscheins hin und her liefen. Ein tiefes Knurren erfüllte die Höhle. Remigius hatte Mühe, die beiden tobenden Pferde zu bändigen. Baldur klaubte weitere Äste aus einer Ecke, in der sich ein sorgsam gestapelter Vorrat befand, und warf sie links und rechts des Feuers auf den Boden, sodass der breite Höhleneingang bald einer lodernden Feuerwand glich. Die Wölfe schlichen noch eine Weile knurrend und geifernd in sicherem Abstand zu den Flammen vor der Höhle umher, dann zogen sie sich zurück. Remigius sank erleichtert gegen die Felswand, während Baldur das Feuer in Gang hielt und gelegentlich trockene Zweige nachlegte. Langsam beruhigten sich die Pferde und Remigius entspannte seine Hände, die sich um die Zügel gekrampft hatten. Baldur stand vor dem prasselnden Feuer und blickte nachdenklich über die Flammen hinweg in die Dunkelheit. Dieser gezielte Angriff war ungewöhnlich. Gelegentlich kamen einzelne Wölfe aus den Wäldern und rissen ein paar Schafe, doch die größeren Rudel blieben tief in den Bergen, wo es reichlich Wild gab. Um Menschen machten sie in der Regel einen großen Bogen. Gelegentlich hörte man von Wolfsangriffen auf Menschen, die allein und meist zu Fuß unterwegs waren, doch es handelte sich immer um einzelne Tiere, die nach einem langen Winter völlig ausgehungert jegliche Vorsicht fahren ließen. Baldur zog seine Pfeife aus der Manteltasche, fischte ein brennendes Ästchen aus dem Feuer und entzündete die Mischung aus Huflattichblättern und Beifuß. Sie würden wachsamer sein müssen. Wer konnte wissen, was dieser Wald noch für Überraschungen bereithielt?
Der Morgen kam mit kühler, sauberer Luft und zarten Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen stachen und den Nebel zum Leuchten brachten, der vom nassen Waldboden aufstieg. Es war ruhig und friedlich, als hätten die Geschehnisse der letzten Nacht niemals stattgefunden. Das Feuer im Höhleneingang war zu mehreren kleinen Häufchen Asche zusammengesunken, von denen hier und da noch dünne Rauchfahnen aufstiegen. Die beiden Männer brachen zeitig auf. Remigius war guter Dinge und summte vor sich hin, während sein Schimmel durch den aufgeweichten Waldboden pflügte.
„Was für ein wunderbarer Morgen, so friedlich. Kaum zu glauben, dass wir gestern um ein Haar draufgegangen wären!“
„Hm“, brummte Baldur leise. „Zu friedlich für meinen Geschmack.“
„Wie meinst Du das?“
Baldur schwieg, drehte sich im Sattel um und blickte hinter sich, dann konzentrierte er sich wieder darauf, das Unterholz zu beiden Seiten des Weges im Auge zu behalten. Remigius sah sich ebenfalls um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Der Weg hinter ihnen war leer und es war still, nicht einmal ein Rauschen in den Baumkronen war zu hören. Er trieb seinen Schimmel vorwärts und drängte sich neben die Fuchsstute.
„Sag doch! Was meinst Du damit?“
Baldur presste die Lippen aufeinander, dann tippte er an sein rechtes Ohr. „Hörst Du das nicht?“
Remigius lauschte angestrengt. „Ich höre gar nichts.“
Baldur nickte knapp. „Eben. Kein Gezwitscher.“
Beklommenes Schweigen senkte sich über die beiden Reiter. Die Pferde schienen ihre Anspannung zu spüren, denn sie beschleunigten ihren Schritt, die Köpfe hoch erhoben und die Ohren in ständiger Bewegung. Doch die Stille hielt an und nichts passierte. Der Wald schien wie ausgestorben. Kein Blatt, kein Ästchen bewegte sich.
Nach einer Weile brach Baldur das Schweigen. „Wenn Du eine Nymphe wärst, würdest Du ein Moor mit oder ohne See in der Nähe wählen?“
Remigius überlegte kurz. „Mit See. Der Mond spiegelt sich auf dem Wasser, so kann sie ihn berühren und sein Leuchten verdecken.“
Baldur nickte langsam. „Ja, das denke ich auch. Es gibt meines Wissens sieben größere Moore in diesen Bergen, davon liegen zwei unmittelbar an einem See.“
„Und Du weißt, wie wir dorthin kommen?“
„So ungefähr. Ich bin einmal hier in den Bergen gewesen und wir kamen an einem der beiden Moore mit See vorbei. Die Richtung habe ich noch ungefähr im Kopf. In zwei bis drei Tagen sollten wir dort sein. Von dem anderen Moor hat mir mal ein Landstreicher erzählt. Der hatte nicht mehr alle Kerzen auf dem Leuchter, aber er hat recht präzise beschrieben, wo es sich befindet.“
Plötzlich ertönte ein lautes Krachen. Die beiden Männer zügelten ihre Pferde und blickten nach rechts, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es war wieder still, doch die Pferde tänzelten nervös. Dann ertönte es wieder, es klang wie berstendes Holz und Baumstämme, die auf Felsen krachten. Etwas Großes und Schweres bahnte sich seinen Weg durch den Wald, und es hielt direkt auf sie zu. Die Pferde entschieden sich einhellig für die Flucht und spurteten los. Im wilden Galopp querfeldein klammerten sich ihre Reiter an die Zügel, duckten sich tief über die wehenden Mähnen und beteten mit geschlossenen Augen, der Gaul möge nicht gegen ein größeres Hindernis prallen. Was auch immer sich durch das Unterholz walzte, es nahm die Verfolgung auf. Zweige peitschten den Reitern über Gesicht und Körper, zerrissen Ärmel und Hosenbeine und hinterließen blutige Schrammen. Die Pferde jagten unter hohen Buchen dahin, sprangen über Felsen und umgestürzte Bäume, brachen durch dichtes Unterholz. Das Krachen hinter ihnen hielt eine Zeitlang mit, dann fiel es zurück, wurde immer leiser, bis es irgendwann verstummte. Auch die Pferde wurden allmählich langsamer, bis sie schließlich schwer atmend, zitternd und dampfend vor Schweiß mitten im Wald stehen blieben. Baldur richtete sich langsam auf und ließ sich vorsichtig aus dem Sattel gleiten. Suchend sah er sich um. Remigius hing immer noch mit zusammengekniffenen Augen über dem Hals seines Schimmels.
„Verdammter Mist!“ Verzweifelt fuhr sich Baldur mit einer Hand durch die Haare. Seinen Schlapphut hatte er bei der wilden Hatz verloren.
Remigius öffnete vorsichtig ein Auge, dann schlug er auch das andere auf und rutschte, an den Hals seines Pferdes geklammert, aus dem Sattel. „Wo sind wir?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Baldur drehte sich einmal um sich selbst, dann setzte er sich zu Füßen einer mächtigen Fichte und lehnte sich erschöpft gegen den rauen Stamm. „Ich erkenne nichts wieder. Wenn die Pferde einigermaßen geradeaus gelaufen wären, hätten wir zumindest die ungefähre Richtung, aber so ...“
„Wir können hier nicht bleiben! Was, wenn dieses ... Etwas unsere Fährte wieder aufnimmt?“
„Ich weiß, ich weiß. Lass mich nur einen Moment nachdenken.“ Baldur rieb sich die Augen und stützte den Kopf in die Hände. Eine lange Schramme zog sich quer über seine Stirn. Remigius trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
„Hör auf, herumzuzappeln, Du machst mich verrückt“, herrschte Baldur ihn an. Er stand auf, machte ein paar Schritte in die eine Richtung, dann ein paar in die andere. Schließlich straffte er sich, drehte sich um und kam entschlossenen Schrittes zurück. „Aufwärts. Immer aufwärts.“
Remigius sah ihn fragend an.
„Wir waren auf dem Weg den Berg hinauf und ich glaube, dass wir uns immer noch an seiner Flanke befinden. Das heißt, wenn wir immer bergauf reiten, müssten wir irgendwann wieder auf unseren Weg treffen.“
Sie erklommen ächzend ihre Rosse und zogen los, querfeldein den Berg hinauf. Der Wald wurde immer enger, und obwohl es erst früher Nachmittag sein konnte, schien es mit jedem Schritt dunkler zu werden. Die hohen Fichten neigten sich einander zu, bildeten einen undurchdringlichen Baldachin, der alles Licht verschluckte und die Reiter in dämmrige Düsternis hüllte. Sie ritten dem Licht weit vor ihnen entgegen, doch die Dämmerung begleitete sie, wie der Schatten einer großen Wolke, die mit ihnen zog. Als Baldur einen Blick zurück warf, konnte er nicht allzu weit hinter ihnen Lichtflecken auf dem Waldboden erkennen. Er sah wieder starr nach vorne und presste die Zähne zusammen. Was hier passierte, ging über eine ungewöhnliche Anhäufung von Zufällen inzwischen weit hinaus. Er hatte das dumpfe, nagende Gefühl, dass sie, ohne es zu merken, vom Jäger zum Gejagten geworden waren. Er warf einen schnellen Blick auf Remigius, der geistesabwesend auf seinem Pferd saß. Die Kleider hingen in Fetzen von seinem hageren Körper, der mit kleinen Schnitten und Abschürfungen übersät war. Baldur brauchte nicht an sich herunter zu sehen, um zu wissen, dass er ein ähnliches Bild abgab. Man hatte sie eindeutig zu Gejagten gemacht.
„Vielleicht sollten wir umkehren.“ Baldur hatte nur leise gemurmelt, doch Remigius hob ruckartig den Kopf und starrte ihn an.
„Irgendetwas will uns aus diesem Wald vertreiben. Oder irgendjemand. Wir sollten zurück reiten, bevor es uns erwischt.“
„Ich fass es nicht! Du hast mich zu dieser ganzen Sache gezwungen, hast behauptet, Du wüsstest, wo das Amulett zu finden ist und jetzt, wo wir fast da sind, willst Du den Schwanz einziehen und verschwinden?“ Remigius schnaubte wütend. „Du bist ein jämmerlicher Feigling, einer, der große Sprüche klopft und dann nicht die Eier hat, zu kämpfen, wenn`s schwierig wird! Du bist ein Aufschneider ohne Rückgrat! Und dümmer, als ich dachte. Dass man uns daran hindern will, zum Moor zu gelangen, beweist doch nur, dass wir auf der richtigen Spur sind!“
Angesichts dieser Flut von Beleidigungen war Baldur vor Zorn hochrot angelaufen, doch als Remigius seine Tirade beendet hatte, schwieg er nachdenklich. An diesem dürren Kerl war mehr dran, als er geglaubt hatte, und bei allen Teufeln, er hatte Recht! Die Frage war nur, wie oft sie derartige Angriffe noch überleben konnten. Ihm grauste vor der Vorstellung, was der Wald wohl als Nächstes für sie bereithalten würde.
„Na schön“, knurrte er, „wir reiten weiter. Aber wenn Du an Deinem Leben hängst, kann ich Dir nur raten, mich nie wieder Feigling zu nennen.“
Die nächsten Stunden verbrachten sie in finsterem Schweigen. Irgendwann senkte sich tiefschwarze Nacht über den Wald und sie rasteten, wachten abwechselnd, während sich der andere in unruhigem Schlaf hin und her wälzte. Die unnatürliche Stille und die Abwesenheit jeglichen Lichts überreizten die Sinne, ließen in ihren Köpfen Geräusche und geisterhafte Schemen entstehen, die nicht existierten. Der Morgen kam mit grauem, dämmrigem Zwielicht und erschöpft machten sie sich wieder auf den Weg, immer weiter den Berg hinauf.
Der Aufstieg wurde zunehmend mühsamer und die Pferde taten sich schwer, kämpften sich über Geröllhalden und blanken Fels, an den sich verkrüppelte Bäume klammerten. Als die Fuchsstute ins Straucheln kam und beinahe den Abhang hinabstürzte, saßen Baldur und Remigius ab und setzten ihren Weg, die Pferde am Zügel führend, zu Fuß fort. Um die Mittagszeit, vielleicht war es auch bereits Nachmittag, wer konnte das bei dem trüben Dämmerlicht schon sagen, erreichten sie eine flache Senke, die von hohen Buchen und einzelnen Eichen bestanden war. Sie ließen die Pferde grasen und ruhten sich eine Weile aus. Weit oben, irgendwo in den Baumwipfeln, krächzte ein Vogel. Baldur und Remigius lagen ausgestreckt auf dem Waldboden und dösten.
Ein lautes Flügelschlagen, nur kurz, ertönte links über ihnen. Baldur öffnete schläfrig die Augen und stützte sich auf die Ellbogen. Die Pferde grasten nicht mehr, sondern hatten aufmerksam die Köpfe gehoben und lauschten. Es wurde unmerklich dunkler und ein Rauschen fuhr durch die Wipfel, schwoll an, als wäre aus dem Nichts ein Sturm aufgezogen. Baldur legte den Kopf in den Nacken, blickte nach oben und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Baumkronen waren kaum noch zu sehen, stattdessen verdeckten schwarzglänzende Flügel den Himmel, die flatternd durcheinander wimmelten. Mit einem Satz war er auf den Füßen, weckte Remigius mit einem Tritt in die Seite und rannte zu den Pferden. Die Krähen gingen bereits zum Angriff über und die Pferde stürmten los, preschten kopflos den Hang hinab, über Felsbrocken und Geröll. Nach ein paar Metern stürzte der Schimmel auf einer glatten Felsplatte, schlitterte bergab und prallte gegen einen Baum. Wild mit den Hufen strampelnd, versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, doch ein Geschwader Krähen stieß schon auf ihn herab. Schwarze Flügel bedeckten seinen um sich tretenden, zuckenden Leib. Die Vögel hackten wie von Sinnen auf das arme Tier ein, bis es sich schließlich nicht mehr regte. Als die Krähen aufflogen, war von ihm nur noch eine unförmige Masse übrig, die entfernt an ein Pferd erinnerte, hier und da bedeckt von Fetzen weißen Fells, auf denen tiefrote Tupfer leuchteten. Seine Kameradin rannte um ihr Leben und war bald außer Sichtweite. Die Vögel hatten sich aufgeteilt und machten nun Jagd auf Remigius und Baldur, die im Zickzack durch die Senke hetzten. Sie holten schnell auf und attackierten die Flüchtenden. Remigius zog den Kopf ein, als ihn ein Schnabelhieb im Genick streifte, ein weiterer hinterließ eine tiefe Wunde an der Schulter. Baldur fischte im Laufen einen langen Ast vom Boden und wirbelte ihn über seinem Kopf im Kreis. Es klatschte zweimal laut, als Holz auf befiederte Körper traf, doch er sah sich nicht um, sondern rannte weiter und zog den Ast in unregelmäßigen Kreisen durch die Luft. Sie hatten die Senke fast vollständig durchquert, als vor ihnen ein niedriger, langgezogener Steinhaufen auftauchte, der an ein primitives Mäuerchen erinnerte. Remigius sprang mit einem großen Satz hinüber und Baldur hechtete hinterher. Plötzlich ließen die Krähen von ihnen ab und begannen, wie Raubvögel hoch über ihnen zu kreisen. Remigius rannte weiter, doch Baldur, der auf dem Bauch gelandet war und verwundert wahrnahm, dass er entgegen jeder Wahrscheinlichkeit noch lebte, erkannte ihre Chance. Er richtete sich halb auf und schleuderte Remigius im vollen Lauf den Ast zwischen die Füße. Remigius stieß einen spitzen Schrei aus, schlug der Länge nach hin und riss sofort schützend die Arme hoch, bedeckte Kopf und Nacken in Erwartung der tödlichen, hackenden Schnäbel. Als nichts geschah, ließ er langsam die Arme sinken und hob den Kopf. Baldur stand nicht weit von ihm entfernt und starrte angestrengt nach oben. Remigius folgte seinem Blick. Die Krähen zogen in einiger Entfernung über ihnen weite Kreise. Er rappelte sich auf und trat zu Baldur, der sich nun stirnrunzelnd umsah. Sie befanden sich im Innern einer etwa kreisrunden Fläche, die von lose aufeinander geschichteten Steinen begrenzt wurde. Fünf mächtige Eichen unterbrachen diese Grenzlinie in regelmäßigen Abständen.
„Was ist das hier?“, flüsterte Remigius.
Einzelne Krähen verließen nach und nach den kreisenden Schwarm und ließen sich in den umliegenden Bäumen nieder. Baldur begann, die Grenzlinie abzuschreiten, ohne die Vögel in den Bäumen aus den Augen zu lassen.
„Ich glaube, das ist ein Bannkreis, oder etwas Ähnliches“, murmelte er. Geistesabwesend fuhr er mit der Hand über die rissige Borke einer Eiche, die danach dunkelrot glänzte, wo er sie berührt hatte.
Der Boden im Innern des Kreises war frei von Steinen, offensichtlich hatte jemand jeden einzelnen aufgeklaubt und zur Grenzlinie getragen, um sie zu markieren. Baldur überlegte kurz, dann streckte er einen Arm über den Steinhaufen nach draußen. Sofort stieß sich eine kleine Gruppe Krähen von ihren Ästen ab und hielt im Sturzflug auf ihn zu. Hastig zog er seinen Arm wieder zurück. Die Vögel wichen nach rechts und links aus und kehrten auf ihre Plätze in den Baumkronen zurück.
„Komm mal hier rüber!“, rief Remigius. Er stand in der Nähe einer Eiche. Etwas lag vor ihm im Gras. Baldur trat zu ihm und gemeinsam blickten sie auf den ausgemergelten Körper herunter, der dort lag, als ob er schliefe. Der junge Mann musste schon eine Weile tot sein, denn die mit der Verwesung einsetzende Schrumpfung der Haut hatte die Lider zurückgezogen, sodass er mit milchigen Augen ins Leere starrte. Dennoch war sein Leichnam weitestgehend unversehrt. Die Haut war grau verfärbt und unter den Wangenknochen eingefallen, die Zähne zu einem bizarren Grinsen entblößt.
„Ich sehe keine Maden“, sagte Remigius leise. „Hier müsste es vor Fliegen nur so wimmeln.“
Baldur nickte finster. „Der Kreis scheint nicht nur Vögel auszusperren.“
„Was glaubst Du, warum ist er nicht geflohen?“
Baldur ließ den Blick über die Krähen schweifen, die in den Bäumen rings um den Bannkreis Stellung bezogen hatten und ihre glänzenden, schwarzen Augen unverwandt auf die beiden Männer richteten.
„Ich glaube, er konnte es nicht. Die Schrecken, die ihn außerhalb dieses Kreises erwarteten, waren grausamer als der Hungertod im Innern“, sagte er leise.
Sie betrachteten ihn eine Weile stumm und sahen sich selbst dort liegen. Schließlich gab sich Baldur einen Ruck, trat einen Schritt vor und sank auf die Knie. Er zog dem Toten den Mantel aus und schickte sich dann an, ihm die Stiefel abzustreifen. Remigius sah ihm entgeistert zu. „Was tust Du da? Du kannst doch einem Toten nicht die Kleider stehlen!“
Baldur biss die Zähne zusammen und zog und zerrte an dem linken Stiefel. „Ich denke, er braucht sie nicht so sehr wie ich.“ Angewidert wandte sich Remigius ab.
Sie verbrachten drei Tage im Innern des Bannkreises. Gelegentlich flog eine einzelne Krähe auf, entfernte sich, um dann einige Stunden später auf ihren Platz in den Baumkronen zurückzukehren. Die pechschwarzen Vögel waren stumm, sie flatterten nicht, stritten nicht und schienen weder Hunger noch Durst zu verspüren. Sie starrten nur, lauerten, und nachts ging ein schwaches Glimmen von ihren kleinen Augen aus.
Remigius saß oft in der Nähe des Leichnams und betrachtete ihn. Er schien die Gesellschaft des Toten der Baldurs vorzuziehen. Doch es gab ohnehin nichts zu sagen. Ein kleines Rinnsal, das einen kurzen Schlenker durch den Kreis machte, bewahrte sie vor dem Verdursten, doch innerhalb der Steine gab es nichts Essbares. Jegliches Getier mied den Bannkreis.
Der dritte Tag kam wie die vorherigen, mit düsterem Zwielicht, und die Untätigkeit und der Hunger zermürbten quälend langsam Körper und Geist. Baldur lag teilnahmslos unter einer Eiche, den Kopf auf eine Wurzel gebettet und die Augen halb geschlossen. Remigius betrachtete nachdenklich den verwesenden Körper. Plötzlich ruckte sein Kopf herum und er starrte die Vögel an, blickte wieder zurück zu dem Toten und sprang dann auf.
„Ich ... Ich habe eine Idee! Baldur, wach auf!“
Baldur hob matt den Kopf. „Du hast eine Idee? Gott steh uns bei.“
„Wir werfen ihn raus!“
„Was?“ Baldur richtete sich auf und blickte Remigius verständnislos an. „Wen?“
„Den Toten! Wir werfen ihn so weit wir können, die Krähen werden sich auf ihn stürzen und wir rennen wie der Teufel!“
Baldur kratzte sich am Kopf und dachte nach. „Woher weißt Du, dass sie auf die Leiche losgehen werden? Und dass sie sich nicht sofort auf uns stürzen, wenn wir aus dem Kreis rennen? Wie willst Du sichergehen, dass sie uns nicht verfolgen und einholen und mit ihren spitzen Schnäbeln abschlachten wie die Karnickel?“
„Hast Du eine bessere Idee?“
Baldur presste die Lippen aufeinander und schwieg.
„Ich kann Dir nicht versprechen, dass es funktioniert. Aber alles ist besser, als hier drin jämmerlich zu verrecken.“ Remigius verschränkte die Arme und sah ihn herausfordernd an.
Baldur sann eine Weile vor sich hin, dann nickte er langsam. „Wenn wir hier drin bleiben, sterben wir auf alle Fälle. Und ich bin es leid, zu warten.“
Gemeinsam schleiften sie den Toten ein kurzes Stück die Mauer entlang, bis sie freies Feld hatten. Er war überraschend schwer. Baldur stützte schwer atmend die Hände auf die Oberschenkel. „Also, ich nehme die Füße, Du die Arme und dann holen wir zweimal Schwung. Bei drei lassen wir los. Dann einmal quer durch den Kreis und auf der gegenüberliegenden Seite raus. Wir haben größere Chancen, wenn wir uns aufteilen. Du rennst nach links, ich nach rechts. Alles klar?“
„Alles klar. Nein, warte! Wie finde ich zum Moor?“
„Ich weiß selber nicht, wo wir sind, geschweige denn, wie wir zum Moor kommen. Aber wenn wir das hier überleben, treffen wir uns oben auf dem Berg. Dann sehen wir weiter.“
Sie packten den Leichnam, holten Schwung und er klatschte keine zwei Meter entfernt gegen einen niedrigen Felsen. Baldur und Remigius spurteten durch den Bannkreis, während die Krähen zu hunderten über den toten Körper herfielen. Als sie den Kreis verließen, nahmen ein paar wenige die Verfolgung auf, doch sie ließen bald von ihrer flüchtenden Beute ab und kehrten zu dem gemeinschaftlichen Mahl zurück. Remigius rannte, ohne sich umzusehen, bis ihn die Kräfte verließen. Dann verkroch er sich erschöpft in die nächstbeste Felsspalte und fiel in einen unruhigen Schlaf voller tiefschwarz glänzender Flügel und spitzer, todbringender Schnäbel.
Als er erwachte, war es finstere Nacht. Draußen vor seiner Felsspalte sah er in einiger Entfernung kleine Lichter durch die Bäume schimmern. Er zwängte sich hinaus und lief darauf zu, doch sie schienen sich zu bewegen, flackerten, erloschen, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen, lockten ihn mal hierhin und mal dorthin und so bewegte er sich im Zickzack an der Bergflanke entlang. Es schienen Stunden zu vergehen, in denen er im Halbdunkel durch den Wald stolperte. Die kleinen Lichter zogen ihn magisch an, zwangen ihn in Schleifen und Kurven den Berg hinauf. Manchmal hüpften sie auf der Stelle, als machten sie sich über ihn lustig. Und irgendwann, ohne dass er wusste, wie es dazu gekommen war, stand er mit einem Mal am Ufer eines Sees. Die Lichter schossen über das Wasser, das in einiger Entfernung nahtlos in ein Moor überging. Dort stand eine schlanke, hochaufgeschossene Gestalt. Die Irrlichter tanzten um sie herum und sie fuhr mit den Händen durch die Luft, als würde sie die Lichtlein sanft streicheln.
Remigius begann, den See zu umrunden und traf auf halber Strecke auf Baldur, der soeben aus dem Wald trat. Wortlos gingen sie auf das Moor zu, wo die schlanke Gestalt der Nymphe sie bereits erwartete.
Ihre Haut schimmerte grünlich, perlmuttfarbene Haare wanden sich in nassen Strähnen über ihren Rücken. Die Nymphe musterte ihre ungebetenen Gäste aus dunklen, amphibisch wirkenden Augen. Ihr Blick hinterließ ein Brennen auf der Haut und Remigius wand sich unter Schauern, während Baldur um Beherrschung rang und mit zusammengebissenen Zähnen zurückstarrte. Ein leises Lächeln entblößte eine Reihe ebenmäßiger, spitzer Zähne. Sie neigte den Kopf leicht zum Gruß.
„Ihr verirrten Menschlein, was ist euer Begehr?“ Ihre samtige Stimme floss in einem wellenartigen Singsang dahin. Die Hände bewegten sich anmutig, während sie sprach.
Remigius sank auf die Knie. „Ich bin auf der Suche nach einem magischen Amulett, das meiner todkranken Frau das Leben zurückgeben kann. Man erzählt sich, es sei in Eurem Besitz.“
„So, erzählt man sich das?“ Sie lächelte amüsiert und wandte sich Baldur zu. „Und Du? Was führt Dich in mein Reich? Hast auch Du eine todkranke Frau, die auf Deine Rückkehr wartet?“
Baldur schwieg trotzig. Sie betrachtete ihn eine Weile lauernd, dann bleckte sie die Zähne und zischte: „Ein Räuber auf der Suche nach versunkenen Schätzen, ein niederes Ding, das sich an vergangenem Leid bereichert und seine schleimige Spur der Niedertracht in den Leben anderer hinterlässt, eine gierige, kleine Schmeißfliege.“ Langsam kam sie näher. Baldur erbleichte, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Mit den fließenden Bewegungen eines Raubtieres umkreiste sie ihn, bis sie direkt hinter ihm stand. Ihr Gesicht näherte sich seinem linken Ohr und sie flüsterte: „Ich werde mich gut mit Dir amüsieren, kleine Schmeißfliege.“ Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er knirschte leise mit den Zähnen und begann zu zittern. „Nur Geduld. Alles zu seiner Zeit“, raunte sie ihm ins Ohr.
Remigius hatte unterdessen den ledernen Beutel aus dem Absatz seines Stiefels gezogen und streckte ihn der Nymphe flehend entgegen. „Bitte, ich gebe Euch alles, was ich besitze, wenn Ihr mir nur das Amulett überlasst, um meine geliebte Frau zu retten!“
Sie ließ von Baldur ab und als sie sich zu Remigius umdrehte, lächelte sie sanft. Sie trat zu ihm und beugte sich herab. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen und er nahm einen schwachen Geruch nach Algen wahr.
„Ihr Menschen und euer klimpernder Tand. Was soll ich mit Deinen wertlosen Metallplättchen anfangen?“ Lauernd legte sie den Kopf schief. „Wie sehr liebst Du Dein Weib, kleines Menschlein? Was bist Du bereit zu opfern, um ihr Leben zu retten?“ Sie richtete sich auf und blickte verträumt in die Ferne. „Es verlangt mich nach Gesellschaft, nach Unterhaltung. Es ist so einsam in diesen Bergen.“
„Ich verstehe nicht ...“
„Ein Leben für ein Leben. Das ist nur recht und billig.“
Remigius blickte sie verzweifelt an. Tränen liefen über seine Wangen. „Ihr verlangt, dass ich meine Frau verlasse, um sie zu retten? Wie könnte ich, der Kummer würde sie vernichten! Ich würde nur den einen Tod gegen einen anderen eintauschen.“
Die Nymphe sah träumerisch auf ihn herab. „Wie viele Tagesreisen bist Du von Deiner Heimat entfernt, kleiner Mensch?“
„Ich brach vor etwa 60 Tagen auf.“
„Mein Lieber, ich befürchte, Deine Frau weilt längst nicht mehr unter den Lebenden. Und selbst wenn sie noch lebte, so wärest Du doch nicht rechtzeitig zurück, um sie zu retten. Du hast sie bereits verloren.“
Remigius starrte sie an, erkannte die Wahrheit in ihren dunklen Augen. Ein leises Wimmern drang aus seiner Kehle, dann schlug er die Hände vor das Gesicht und brach am Rande des Moores zusammen. Seine Finger gruben sich in die morastige Erde und sein ganzer Körper zuckte in endlosen Krämpfen des Weinens. Die Nymphe kniete sich neben ihn, summte leise und strich liebevoll über sein Haar.
Baldur kämpfte unterdessen gegen die Starre, die von ihm Besitz ergriffen hatte und als er sich endlich wieder bewegen konnte, schlich er sich davon und begann zu rennen, sowie er außer Sichtweite des Moores war. Der Nymphe blieb seine Flucht freilich nicht lange verborgen, denn er polterte durch den Wald, dass sämtliche Vögel, einschließlich ihrer treuen Krähen, in weitem Umkreis erschrocken aufflogen. Sie zischte verärgert und überließ den schluchzenden Remigius seiner Trauer. Mit einer knappen Geste schickte sie die Irrlichter aus, die sich emsig auf die Suche machten und Baldur in einem Bogen wieder zu ihrer Heimstatt zurücklockten. Die Nymphe saß bereits wartend auf einem umgestürzten Baum, der weit ins Moor hineinragte. Auf den letzten Metern drängten und schubsten ihn die kleinen Irrlichter, bis er direkt vor ihr stand. Sie bleckte die Zähne und fixierte ihn mit Augen, die nun schwach grünlich leuchteten.
„Du unartiges kleines Insekt! Niemand darf diesen Ort jemals wieder verlassen! Niemand darf dort unten im Tal berichten, wo dies` Moor zu finden ist“, fauchte sie. Sie riss sich eine Strähne ihres silbrigen Haares aus, trat hinter ihn und legte sie Baldur um den Hals, zog sie fest, dass er nach Luft schnappte. Mit den Händen fuhr sie langsam die Konturen seiner Silhouette nach, ohne ihn zu berühren und murmelte ein paar Worte in einer Sprache, die älter war, als die Erinnerung der Menschen zurückreichte. Baldurs Körper wurde von einem grünen Schimmer überzogen, schrumpfte, immer weiter, bis er nicht mehr zu sehen war und statt seiner eine dicke Kröte auf dem morastigen Boden saß. Die Nymphe hob sie auf und trug sie ins Schilf, wo es ihr bereits laut entgegen quakte. Sie setzte sie auf den weichen Boden und Baldur, die Kröte, verschwand mit zwei ungelenken Hüpfern im Schilf.
Remigius hatte keine Tränen mehr. Er hatte sie alle aufgebraucht und saß nun in dumpfer Verzweiflung auf der schwarzen Erde. Er hatte versagt. Heimzukehren erschien ihm ebenso sinnlos, wie zu bleiben. Und so ging er auf das Moor hinaus und verschwand in den Nebelschwaden. Die erzürnte Nymphe stieß einen schrillen Schrei aus und flog ihm hinterher, doch selbst die Irrlichter konnten ihn nicht mehr finden. In den Dörfern erzählt man sich seither, er geistere nun in mondlosen Nächten über das Moor, auf der Suche nach seiner geliebten Frau, immer verfolgt von der Nymphe, die in ihm ihren Gefährten gefunden zu haben glaubte.