Montagabend
An diesem Montagabend zeichnete das fahle Licht der Straßenlaternen erneut meterhohe Silhouetten mehrerer Hundertschaften an die farblosen Häuserwände der Stadt. Die unheimlichen Schattenrisse hasteten geisterhaft über den kalten Stein.
Männer und Frauen, die Soldaten, so schien es mir damals, wurden begleitet von einem wilden Stimmengewirr. Aus der Ferne klangen die vorübermaschierten Soldaten wie ein tiefgrollender Donner. An jedem Montagabend war ich nun ein stiller Beobachter dieses unwirklichen Schauspiels. Und an jedem Montagabend wurden die Züge länger und länger.
Einmal, ich weiß es noch genau, glaubte ich, das Gesicht meines Vaters inmitten der Reihen erkannt zu haben. Er sah nicht zu mir, aber wie die meisten der anderen Soldaten wirkte auch sein Blick entschlossen. Ich war zu jung, als dass ich des Winters unlängste Geschehnisse hätte verstehen können.
Ich freute mich immer, wenn ich am Dienstagmorgen meinen neuen Freunden in der Schule von den Soldaten erzählen konnte. Manchmal spielten wir dann, wir seien selbst Soldaten. Wedat, ein neuer Junge in meiner Klasse, verkroch sich dann meistens in der hintersten Ecke des Raumes und sprach kein Wort mit uns. Die Lehrerin sagte uns an seinem ersten Tag, er sei von sehr weit her und
dass wir ihn allesamt in unserer Klassenmitte willkommen heißen sollten. Deshalb wollte ich auch, dass er sich mir und meinen Freunden und unserem Spiel anschloss. Doch er sagte, er möge es nicht. Er möge es nicht, dass wir so taten als würden wir einander erschießen. Es mache ihn traurig. Es mache ihm Angst. Es mache, dass ihm Bilder von sehr weit her erschienen. Bilder, von der Baracke in der er und seine Familie hausten. Bilder, von verdorbenen Lebensmitteln, die sie sich
erklauen mussten. Bilder, in denen Menschen nicht nur spielten einander zu erschießen. Dann weinte er. Er weinte und zitterte so sehr, dass ich ihn kaum zu beruhigen wusste und es machte mir Angst.
Am Nachmittag dachte ich nochmal an meinen Schulfreund von sehr weit her und es machte mich wütend, dass Wedat soviel Unrecht erfahren musste. Und auch ich fing an zu weinen. Aber gleichzeitig freute ich mich, dass es hier friedlich war, dass wir ein
wärmendes Haus hatten anstatt einer Baracke, dass wir zu Essen hatten und dass hier an jedem Montagabend Patrouillenzüge der Soldaten durch die ganze Stadt zogen, die sicher versuchten Wedat und seine Famile und auch mich zu beschützen.
Ja, ganz sicher sogar. Das waren gute Soldaten.
Dachte ich damals.
*Wedat: arab., männlicher Vorname/Bedeutung: Liebe; Freundschaft