Monsterkram
Frank Riedels Leben war eine Larve gewesen; jetzt, mit 39 Jahren, riss ihm der rauhe Wind der Wirklichkeit den Kokon in Stücke, die Enden flatterten haltlos davon, und heraus kroch kein Schmetterling, sondern eine Totgeburt.
Mit einer Mischung aus Verachtung und Trauer richtete er seinen Starrblick auf den Einband vom Buch der Morde, das auf dem Schreibtisch neben seiner mechanischen Adler-Schreibmaschine lag. Die zwanzig besten Einsendungen zum Miss-Marple-Preis 2010. Seit heute im Handel, und er war nicht dabei. Er war mit Ladenöffnung um Punkt neun ins Haus der Bücher gestürmt, hatte ein Exemplar gekauft und sich zu Hause daran gemacht, die knapp vierhundert Seiten durchzublättern. Immer wieder war er mit einem Wutschrei von der Couch aufgefahren, hatte das Buch in die Ecke gepfeffert, nur um es wieder aufzuklauben und zwanghaft weiterzulesen. Dieser Schund also hatte den Weg zwischen die Buchdeckel gefunden? Diese lieblos orchestrierten Geschichten nach dem Baukastenprinzip einer Bestseller-Anleitung, diese Charakterschablonen, diese verwahrloste Sprache?
Was, bittschön, hatte der Jury an seinem Beitrag nicht gefallen? Er hatte doch alles reingelegt in diesen seinen letzten Versuch (er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie viele letzte Versuche er bereits hinter sich hatte). Seinen Job hatte er verloren, Tina hatte er verloren. Freunde hätten ihm hier wohl vorgehalten, er sei es schließlich gewesen, der vor zwei Jahren den Job gekündigt und Tina vor die Tür gesetzt hatte, bloß um Ruhe für seine Schreiberei zu finden, aber was wussten die schon?
Ein halbes Jahr an diesen bekackten zwanzig Normseiten gesessen – alles für die Katz.
Mitten in seine Tobsuchtsanfälle hinein hatte die Abramsky von nebenan Sturm geklingelt. Ob etwas geschehen sei.
„Nein!“, hatte er ihr ins besorgt dreinschauende Gesicht gebellt. „Nein! Alles ist wie immer. Das ist es ja.“
Damit hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen und sich wieder dem Buch gewidmet, vor allem dem Preisträger Mario Bender, den er bis vor einiger Zeit seinen besten Freund genannt hatte. Der Blödmann hatte mit einer weiteren Episode über seinen Kommissar Karl-Heinz Stern fünftausend Euro Preisgeld eingestrichen. Es war eben jener Mario Bender, der, wie die Kurzvita in schönster grimm’scher Tradition Auskunft gab, seit Kindestagen davon geträumt hatte, Krimis zu schreiben, und der sich nach nunmehr drei Romanen und einigen Kurzgeschichten anschickte, mit seinen „mörderisch spannenden und intelligenten Werken“ (intelligenten? Großer Gott!) den Olymp des Whodunit zu betreten.
Speiübel konnte einem dabei werden.
Nur dass Riedel übers Speiübelwerden hinaus war.
Ihn drängte danach, noch einmal seinen alten Freund zu treffen. Er schleppte sich zum Telefon und wählte zum ersten Mal seit Monaten wieder diese Nummer.
Einer der letzten sonnigen Oktobervormittage hatte das Café Extrablatt am Moerser Altmarkt mit lachenden und lärmenden Menschen befüllt, aber Riedel bekam noch einen freien Tisch. Bender hatte ihn reserviert. Was sonst.
Riedel wartete eine Viertelstunde, dann kam er um das Denkmal auf der Platzmitte geschritten und nahm Kurs auf das Cafè: Eine Frohnatur in Nadelstreifen, das Hemd leger aufgeknöpft, die nackenlangen Haare blondgesträhnt, der reine Stutzer.
„Hast zugenommen“, bemerkte Riedel zur Begrüßung.
„Und du bist käsig wie immer“, gab Bender zurück. Er reichte Riedel die Hand. „Mensch, wie lange ist das jetzt her? Vier Monate bestimmt, oder?“
„Februar.
„Ah, Februar. Doch schon. Mann, ich freu mich vielleicht. Hast du noch nichts bestellt?“
„Hab auf dich gewartet.“
Bender winkte einem Kellner. „’Nen großen Latte Macchiato, bitte. Und für meinen Freund hier ...“ Bender wandte sich an Riedel. „Was willst du trinken? Du bist eingeladen.“
„Spar dir die Almosen, ich zahl selbst“, sagte Riedel. „Eine kleine Tasse Kaffee, bitte.“
Der Kellner, der Bender unverwandt mit großen Augen bestaunt hatte, verschwand.
„Was is’ los mit dir?“, erkundigte sich Bender. „Warum so motzig bei dem schönen Wetter?“
Riedel zog das zerfledderte Buch der Morde aus einem Leinenbeutel und legte es auf den Tisch. „Das hier“, sagte er und stach grimmig mit dem Zeigefinger auf den Einband ein, „das ist los.“
„Mein Buch?“
„Es ist nicht dein Buch!“, giftete Riedel so laut, dass einige Gäste sich zu ihnen umsahen – jedenfalls die Gäste, die nicht ohnehin schon laufend einen verstohlenen Blick zum Krimigott herüberwarfen. Gedämpft fuhr er fort: „Es ist ’ne Anthologie. Du bist bloß mit drin, kapiert?“
Benders gezupfte Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hör mal, Frank: Ich hab keine Lust, mich auf die blöde Tour anmachen zu lassen. Ich dachte, wir könnten mal wieder ...“
„Könnten was?“, fuhr Riedel ihm in die Parade. „Komm mir nicht mit Freundschaft. Als ginge es darum!“
„Um was dann?“
„Ich habe auch einen Beitrag eingereicht.“
„Und?“
„Du weißt doch genau, dass ich nicht genommen wurde.“
„Was hast du denn hingeschickt? Wieder was von deinem Monsterkram?“
„Nur, weil du’s nicht verstehst, ist es noch lange kein Kram.“
„Ich meint’ ja nur. So was liest doch keiner.“
„Ach, und du kannst das beurteilen, oder wie?“
Bender lehnte sich zurück und verschränkte mit dem souveränen Habitus eines Auflagenmillionärs die Arme vor der Brust. „Besser als du jedenfalls. Wenn ich dir ’nen Rat geben darf: Vergiss die Monster. Schreib Krimis. Oder was Historisches. Das geht wie geschnitten Brot.“
„Ist es das, was du unter Literatur verstehst? Ja? Geschnitten Brot?“
„Und wenn? Immerhin verkauft sich mein Stern bestens.“
„Alles bloß Marketing. Mach dir doch nichts vor: Du kannst nicht schreiben. Kannst du einfach nicht.“
Bender winkte ab. „Ich weiß ja, von wem das kommt.“
„Weißt du das?“
„Ja, von einem, der immer noch auf so ’nem alten Trödelmarktkasten rumtippt.“
„Das Ding hat Stil!“
„Toller Stil, gratuliere. Du kannst mit deinem Geschreibsel ja nicht mal deine Brötchen bezahlen.“
„Und du träumst seit deiner Kindheit davon, Romane zu schreiben.“ Riedel schlug das Buch auf, riss die Seite mit Benders Kurzvita heraus und klatschte sie auf den Tisch. „Stammt der Scheiß von dir?“
„Der Verlag hat mich darum gebeten.“
„Seit deinen Kindertagen? Ich war es, der dich zum Schreiben gebracht hat. Ich!“
Das hatte er tatsächlich, damals vor vier Jahren, als Bender herausfand, dass seine Katrin zum Klischeeseitensprung schlechthin angesetzt und ihn mit dem Postboten betrogen hatte. „Ausgerechnet dieser Glatzenarsch“, hatte Bender sich bei Riedel die Augen ausgeheult, als wäre das irgendwie von Belang; Riedel sah keinen Unterschied darin, ob nun der Briefträger oder ein fremder Atomphysiker die eigene Frau vögelte; der Stachel saß immer an derselben Stelle. Katrin hatte Bender ihre Klischeegründe dargelegt: Er sei ja nie da, habe nie Zeit für sie und die Kinder, nur noch seine Arbeit im Kopf. So sehr war Bender in seine Jugendliebe vernarrt, dass er ihr nicht nur verzieh (viele Tränen, viel Streit, aber letztlich dann doch), sondern gleich auch noch seine Stelle hinschmiss – er, der sich, nur mit einem Ach-und-Krach-Hauptschulabschluss in der Tasche, bis zum Abteilungsleiter eines Elektrokonzerns hochgerackert hatte. Ein Wahnsinn. Aber ein lohnender Wahnsinn.
„Ich muss was finden, das mir Zeit für meine Familie lässt“, hatte er Riedel damals verkündet und aber Überwachung gemeint.
„Kannst ja auch mal was schreiben“, hatte Riedel scherzhaft entgegnet.
Was Bender dann auch tat. Sechs engbedruckte Seiten über eine vernachlässigte Ehefrau, einen glatzköpfigen Postboten (mit kleinem Schwanz) und einen gehörnten Ehemann, der die beiden in flagranti erwischte, seiner Liebsten edelmütig verzieh und dem Zustell-Kojak mit der Küchenschere die Eier abschnitt. Riedel hatte korrigiert, Tipps gegeben – und sich insgeheim gescholten, seinen besten Freund auf eine offenkundig unlesbare Fährte gesetzt zu haben.
Aber der kannte kein Halten mehr. Nach vier weiteren Kurzgeschichten wähnte er sich reif für die Königsdisziplin.
„Ich sag dir was, Frank: Das macht richtig Spaß, ich glaub, ich werd’ Bücher schreiben. Richtig dicke Bücher. Hab auch schon ’ne Idee. Ein Kommissar mit so’n paar kauzigen Macken, der ungewöhnliche Morde aufklärt. Ich glaub, ich nenn ihn Stern. Karl-Heinz Stern. Mein Opa hieß Karl-Heinz. Was meinst du?“
„Ganz ehrlich? Karl-Heinz Stern klingt nicht sexy.“
„Spielverderber. Du wirst schon sehen.“
Und ja, Riedel hatte es gesehen. Verlage, die sich um die Rechte balgten, begeisterte Rezensionen, jubelnde Leser, der Schrei nach mehr!, mehr!, mehr! Karl-Heinz Stern, der neue Stern am Ermittlerhimmel. Bislang drei Romane mit einer Gesamtauflage von über fünf Millionen.
„Ich war es“, legte Riedel in ihrem Disput nach. „Nur wegen mir kannst du dir all die schönen Sachen leisten. Du bist mir was schuldig.“
Der Kellner brachte das Bestellte. Bender nippte an seinem Getränk und tupfte sich mit einem Taschentuch, das seine Initialen trug, den Mund ab. „Was sollte ich dir schuldig sein?“
„Der Gefallen, letztes Jahr, wie war’s denn damit? Ich hatte dich so darum gebeten, aber es hat dich nicht gekümmert.“
„Welcher Gefallen?“
Riedel schnaufte. „Mein Exposé, die Leseprobe, schon vergessen? Hast du’s jemals deinem Agenten gezeigt?“
Die winzige Pause, die Bender vor seiner Antwort einlegte, die kaum erkennbare Erweiterung seiner Pupillen, das stoßgebetsartige Verschränken seiner Finger – ganz genau wie in der Schule. Riedel wusste: jetzt lügt der Arsch dich an.
„Ich hab sie ihm gezeigt.“
„Ach, wirklich? Du, sein bestes Pferd im Stall, und ich bekomm nicht mal ’ne Absage von dem Kerl? Nicht mal’n dämlichen Formbrief für meine Sammlung?“
„Er hatte sicher viel zu tun, woher soll ich das wissen, Himmel noch mal.“
„Nein, Mario, du hast es ihm nie gegeben. Weil du nämlich Schiss hast.“
„Wovor Schiss?“
„Dass keiner merkt, was du für’n Stümper bist. Dass jemand sagen könnte, he, guck mal, der Riedel hier, der schreibt um einiges besser als unser Bender. Den sollten wir rausbringen, da sollten wir unser Geld reinstecken und ’ne schön große Kampagne aufziehen. Dann verkauft’s sich auch. Dein Stern wär ’ne Schnuppe, so schnell kannst du gar nicht Postbote sagen. Du hast doch nie verstanden, was das heißt: Literatur. Schreiben ist ein Schöpfungsakt. Du solltest es mit etwas mehr Ehrfurcht behandeln. Es ist wie ein Gottesacker, auf dem man nur geistverlesenen Samen sät. Aber du ...“ – Riedel holte aus und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Tassen klapperten – „... du machst daraus ein verdammtes Rübenfeld!“
Der Kellner eilte herbei. „Alles in Ordnung, Herr Bender? Belästigt Sie der Mann?“
Bender winkte mit staatsmännischem Gestus ab. Der Kellner zog davon, blieb aber in einiger Entfernung an einem Tisch stehen und folgte dem Beispiel aller Gäste: er behielt die Streithähne verstohlen im Blick.
Bender beugte sich vor, und mit väterlicher Herablassung sagte er: „Hör mal gut zu, du Farbband-Shakespeare: Ich kann nichts für dein armseliges Leben. Dein Problem ist, dass du furchtbar neidisch bist. Der Neid zerfrisst dich wie ... wie ...“ – Bender überlegte einen Augenblick, bis er den treffenden Ausdruck fand – „... wie Säure. Das ist nicht gut für dich.“
„Du blöder Hund“, brüllte Riedel und packte Bender über den Tisch hinweg am Revers. „Ihr kotzt mich an, du und deine faden Metaphern und dein alberner Stern. Säße ich in einer Jury, du hättest nicht den Hauch einer Chance.“
„Du bist aber in keiner Jury“, keuchte Bender und versuchte sich loszumachen. „Und du wirst auch nie in einer sitzen.“
Der Kellner kam mit einem Kollegen herbeigesprungen. Sie schnappten sich den Wütenden, rissen ihm die Arme auf den Rücken. Bender nutzte die Gelegenheit, griff in Riedels Nacken und drückte ihn mit dem Gesicht hinab auf das Buch der Morde. Keuchend versuchte Riedel, sich loszumachen. Er atmete den Geruch frischer Druckerschwärze ein, hörte das Stimmengewirr um sich herum. Jemand rief nach der Polizei, aber Bender hatte etwas dagegen.
„Keine Polizei“, hörte Riedel ihn sagen. „Der Versager hat genug Probleme.“ Dann stopfte Bender das Buch in Riedels Jackentasche und gab ihm noch einen Rat: „Lies das. Kannst ’ne Menge daraus lernen. Dann wird das auch was mit dir.“
Auf sein Zeichen hin ließen die Kellner Riedel los. Der rappelte sich auf, sah die gespannte Meute, die auf einen neuerlichen Ausbruch vorbereitet war, und gab auf.
Ohne ein weiteres Wort verließ er das Café und suchte seinen Weg über den Altmarkt, beobachtet von dutzenden Augenpaaren.
Es ist nicht wie Säure, dachte er. Es ist Seelenkrebs.
Auf eigentümliche Art und Weise traurig darüber, eine passable Metapher gefunden zu haben, machte er sich auf den Heimweg.
Wie er hierher auf seine Couch gekommen war, wusste er nicht zu sagen. Draußen dämmerte bereits der Morgen, und das hieß, dass er fast einen ganzen Tag im Stumpfsinn seiner Grübeleien verbracht hatte, splitternackt und mit ausgedörrter Kehle. Das letzte, an das er sich erinnerte, war Benders feixendes Gesicht und wie dieser ihm das Buch der Morde zugesteckt hatte; bei dem Gedanken daran fühlte er sich wie einer, den ein räudiger Köter auf der Straße angepisst hatte und der den Gestank nun nicht mehr los wurde, auch wenn die auf Seiten gedruckte Ausscheidung längst im Papierkorb lag, neben dem Haufen achtlos abgestreifter Kleidung.
Bilder und Stimmen aus der Vergangenheit tauchten in ihm auf, schmiegten sich an ihn, flüsterten ihm süße Erinnerungen an lang vergangene Zeiten zu. Müde lächelnd gab er sich ihnen hin, für eine Weile eingewoben in ein verklärtes Traumgebilde, das einmal seine Kindheit gewesen war.
Wie anders doch sein Leben jetzt. Er brauchte sich bloß umzusehen, die Bude war mit den Exponaten seines Scheiterns randvoll. In der Schreibtischschublade Tinas Fotos und Briefe, verpackt in einen Schuhkarton. Der Stapel ungeöffneter Rechnungen, die er von der Stütze nicht mehr bezahlen konnte. Der Ordner voll Absagen von Verlagen und Literaturagenten.
Gott, er hatte die Donquichotterie seines Lebens gründlich satt. Wofür alle Leidenschaften, wofür alles Streben, wenn die Windmühlen sich unbeirrt weiterdrehten, immer rundherum?
Langsam erhob er sich von der Couch, trottete hinüber zum Schreibtisch und ließ seine Finger über das Metall der Adler streifen. Er las den letzten Satz, den er vorgestern geschrieben hatte. Besonders gelungen, war sein Urteil gewesen, aber jetzt, mit etwas Abstand, erkannte er, was es wirklich war: eine traurige Buchstabenreihung, holprig, bemüht, nicht zu verlegen – so wie der Rest seines Schaffens.
Die Erkenntnis ließ sich nicht länger verdrängen: Das war das Ende aller mühsam genährten Hoffnungen und Träume. Das Ende vom sich Reinknien.
Er setzte sich auf den Stuhl, griff nach der Rasierklinge, die für Korrekturzwecke stets neben der Schreibmaschine lag. Diesmal merzte er keinen Tippfehler aus, sondern gleich das ganze schundige opus magnum (ein nettes Oxymoron, wie er fand; so zum Abschluss).
Er bildete mit der linken Hand einige Male eine Faust, bis die Adern kräftig unter der Haut hervortraten, setzte die Klinge an und schlitzte sich das Fleisch auf. Der Schmerz war unerwartet heftig. Frank stöhnte und presste die Zähne tief in ihre Kiefertaschen. Bloß nicht aufgeben jetzt. Das hier war nicht der Hilfeschrei eines von Weltschmerz ummantelten Jugendlichen, der sich ein wenig den Arm ritzt und ein paar Tropfen Blut hergibt, in der romantischen Hoffnung, rechtzeitig gefunden zu werden, und danach wird dann alles wieder gut, alles wieder gut. Nichts wird jemals gut.
Frank wusste genau, was zu tun war. Ulnar-Arterie. Radial-Arterie. Die Blutstraßen des Armes. Ironischerweise verdankte er sein Wissen darum einer lange zurückliegenden Recherche für Ihr könnt mich alle mal.
Das Blut pulste in heftigen Spritzern aus ihm heraus, taufte Schreibmaschine und Tischplatte, wurde von den Cellulosefasern des Papiers aufgesaugt. Er legte die Klinge zur Seite und sank über der Adler zusammen, umklammerte sie wie eine treue Geliebte beim letzten Lebewohl.
Nach einer Weile wich der Schmerz allmählich einer träumerischen Müdigkeit. Er malte sich die Selbstvorwürfe der Zurückbleibenden aus, ihre Betroffenheit, ja, vielleicht sogar ihre Trauer, wenn sie ihn fänden – nackt und ausgeblutet an dem Platz, der ihm der liebste auf der Welt gewesen war, in guten Stunden jedenfalls. Sollte er Ihnen da nicht ein kleines Abschiedswort mit auf den Weg geben? Sterbensmatt raffte er sich noch einmal auf. Die linke Hand war nicht mehr zu gebrauchen, völlig taub und blutbesudelt, aber die Rechte funktionierte noch, und unter Aufbietung aller ihm nun immer rascher schwindenden Kräfte tippte er sein Vermächtnis in die Adler:
ich bin unsterblich, denn worte sind unsterblich
Er sackte zurück, einen Schleier aus Tränen und Tod vor den Augen. Das letzte, das er sah, war sein Blut auf dem Gehäuse der Adler, wie es langsam in das Metall sickerte. In das Metall? Er kam nicht mehr dazu, dieser Frage nachzuspüren. Die Sinne schwanden ihm, und das war das Ende.
Es war keineswegs das Ende. Als Frank erwachte, fand er sich in einen Himmel aufgefahren, der seinem Wohnzimmer bis aufs letzte Detail glich. Weder hielt der Allvater eine Begrüßungsrede, noch ließ ein harfeklampfendes Engelein sich blicken; statt dessen lagen da weiterhin seine ungeöffneten Rechnungen. Also, von einem Zustelldienst im Himmel hatte er noch nie gehört, schon gar nicht von Schmerzen, wiewohl er sie hatte: entsetzlich irdische Schmerzen.
Sein linker Arm war ein nutzloses Stück kochenden Fleisches, dass ihm von der Schulter herabhing. Auf seinem Unterarm zogen sich breite Krusten wie die stümperhaften Nähte eines Chirurgen, der ihn nach einem Unfall lustlos wieder zusammengeflickt hatte.
Hatte er sich denn aus dem Leben geschnitten, nur um in eben diesem wieder zu erwachen? Langsam dämmerte ihm, dass er’s vermasselt hatte.
Er las die allerletzten Zeilen seines Daseins.
ich bin unsterblich, denn worte sind unsterblich
Das Papier in der Schreibmaschine war rot von seinem Blut, nur diese zwei Zeilen waren seltsamerweise davon ausgenommen.
Er stand auf, atmete gegen den Schwindel an und lief auf wackligen Beinen rüber ins Bad, wo er vor seinem totenblassen Gesicht zurückschrak; als wär kein Blut mehr drin. Und wenn er sich seinen Arm besah und an die Sauerei im Wohnzimmer dachte, dann fragte er sich ernstlich, wie er hier stehen und sich überhaupt noch etwas fragen konnte.
Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie er aus der Nummer wieder herauskommen sollte, ohne dass er einen Arzt herbeirief, der ihm nach einer netten kleinen Fragestunde für die nächste Zeit eine Unterkunft in der Klapse buchen würde.
Und vor allem: ohne das Muttern erfuhr, was ihr kleiner Liebling grad angestellt hatte.
Verzweifelt schleppte er sich ins Wohnzimmer zurück und sank auf den Stuhl.
Hört auf, verdammt, dachte er, aber die Schmerzen ignorierten ihn.
Wieder fiel sein Blick auf die Zeilen.
ich bin unsterblich, denn worte sind unsterblich
Darunter war noch eine Zeile Platz für weitere Worte. Etwas ihn ihm drängte darauf, den Leerraum mit seinem innigen Wunsch auszufüllen.
Mit der Rechten betätigte er den Transporthebel; in seiner Kraftlosigkeit war ihm, als bewegte er einen Kleinbus. Dann tippte er:
ich will keine schmerzen haben
Wenn’s doch nur so einfach wäre, dachte er bitter.
Überrascht stellte er fest, dass seine Schmerzen nachließen. Er schrieb es der Gewöhnung zu – so, wie er sich an Zahnschmerzen gewöhnte, wenn er sie nur ein Weilchen aushielt. Aber es dauerte nicht lange, und die Schmerzen in seinem Arm waren gänzlich verschwunden.
Sollte etwa ...?
Mit einem Ruck streckte er den Rücken durch – der verhunzte linke Arm schlegelte fühllos über die Schreibtischplatte – und starrte auf das Papier. Kein Platz mehr für weitere Worte.
Kindischer Narr, schimpfte er sich, während er den eingespannten Bogen mit einem lauten Ratsch aus der Walze zog, aus der Mitte des Stapels auf dem Tisch ein reinweißes Blatt fischte und es mit fiebrig zitternden Händen in die Maschine spannte, für einen Einarmigen keine leichte Übung.
Mit dem rechten Zeigefinger tippte er die nächsten Worte, zaghaft, als habe er Angst, die Typenhebel abzubrechen.
meine wunden sind verheilt
Die Augen traten ihm heiß und trocken aus den Höhlen, so sehr beglotzte er seine nutzlos gewordene Gliedmaße, die wie achtlos drapiert auf dem Tisch auflag. Nichts geschah. Wie war er bloß auf den dämlichen Gedanken gekommen, dass ...
Am Handgelenk bröckelte ein Fitzelchen Kruste ab, fiel auf den Tisch und löste sich dort auf. Jesus! Der Prozess nahm Fahrt auf. Die klaffenden Schnitte durch Haut, Fett und Muskelfleisch schlossen sich. Bald schon war es wieder sein guter alter linker Arm, und wenn er ihn auch zu wenig mehr als zum Tippen und Arschabwischen gebrauchen konnte, so war er doch heilfroh, den alten Heimkehrer so vollkommen wohlauf begrüßen zu können. Nicht mal ’ne Narbe war geblieben.
Riedel klappte der Kiefer nach unten. Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel und nässte sein Kinn. Eilig schrieb er sich ausreichend Blut zurück in seinen Körper, und als seine Gliedmaßen wieder gebrauchstüchtig waren, drosch er mit der linken Faust einige Male kräftig auf den Tisch. Wie zum Applaus hüpfte die Adler klappernd auf der Platte herum.
Die Erkenntnis trieb ihn so heftig auf die Beine, dass der Stuhl hintüber kippte. Mit geballten Fäusten und wippendem Schwanz tanzte er eine Zeitlang im Wohnzimmer auf und ab. Er stellte sich in diesem Moment nicht die Frage nach dem Warum, er dachte nur an die Möglichkeiten, bei Gott, all diese Möglichkeiten!
Als Nächstes begann er mit dem Üben.
Er schrieb Der Vorhang ist dunkelblau, und kurz darauf wechselte der Vorhang übergangslos vom hässlichen Mintgrün, das Tina noch mitausgesucht hatte, in ein sattes Dunkelblau.
Er schrieb Das Bild hängt über dem Fernseher. Das messinggerahmte Stilleben verschwand von seinem Platz über dem ledernen Dreisitzer und erschien an der Wand über dem Fernsehgerät.
Dann schrieb er den Fernseher an und zappte mit den Zifferntypen durch das grellbunte Kaleidoskop medialer Verblödung. Auf einem Nachrichtenkanal sprach eine Staatssekretärin des Verteidigungsministeriums den Angehörigen von Bundeswehrsoldaten gerade ihr ungerührtes Mitgefühl aus. Kurzerhand schrieb er ihr einen Schnäuzer ins Gesicht und erfreute sich an ihrem Gegrabsche unter die Nase und ihrem verwirrten Entschuldigungsgebrabbel, bis es ihn langweilte und er den Fernseher wieder ausschrieb.
Er hätte sich wohl noch für ein geraumes Weilchen in diesen Spielerein verloren, wäre nicht sein Blick auf das Buch der Morde im Papierkorb gefallen. Ein Gedanke kam ihm, die Idee für eine Geschichte, wie er sie noch nie geschrieben hatte. Er sprang auf, streifte sich Jeans, Shirt und Turnschuhe über.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sich die Aussicht auf das Schreiben wieder großartig an. Keine Spur von quälenden Selbstzweifeln, kein Infragestellen seiner schöpferischen Kraft, keine Grübeleien darüber, wie es wohl den Lesern gefiele.
Für ihn gab es da keinen Zweifel: dies hier würde sein Meisterwerk werden.
Bevor er lostippte, fiel ihm noch etwas ein, das George Bernhard Shaw einmal geschrieben hatte:
Worte sind die mächtigste Waffe, die die Menschheit besitzt.
Mann, da war was dran.
Während der Signierstunde hatten die Leser ihn mit Fragen nach Karl-Heinz Sterns kommenden Abenteuern bestürmt. Jetzt stand Mario Bender, nadelgestreift und mit der Gewissheit, seinen überwiegend weiblichen Anhängern mit ein paar hingekritzelten Worten den Tag versüßt zu haben, fröhlich pfeifend in der Herrentoilette der Pfeiffer’schen Buchhandlung und verewigte sich in dem Urinal, indem er liegende Achten über dem WC-Stein pinkelte. Er war grad bei der siebten oder achten Schleife, als die Wand vor ihm verschwamm. Schlaganfall, dachte er entsetzt; mein Gott, sie werden dich finden, mit offenem Hosenschlitz auf einem Buchhandlungsklo; pack bloß den Pimmel wieder ein.
Zwanzig Minuten später betrat Benders Agent die Toilette. Seit dem ersten Kassenschlager behütete er seinen Klienten wie ein eifersüchtiger Ehemann und war sich auch als Klowächter nicht zu schade. Er fand Bender nicht, dabei gab es in dem ganzen Raum kein einziges Schlupfloch, das groß genug gewesen wäre, Bender hindurchzulassen.
Der Agent schlug Alarm, aber auch die Herbeieilenden suchten vergeblich.
Das Verschwinden des Autors blieb ein Rätsel, das der Agent noch auf seinem Totenbett begrübeln sollte.
Der Hallenkomplex war alles andere als luxuriös, aber um Annehmlichkeiten ging es Riedel nicht. Es war der perfekte Ort, um Bender eine Lektion zu erteilen.
Der gesamte Komplex war bereits vor Monaten geräumt worden. Riedel war die einzige Attraktion in der Haupthalle, die eine Länge von gut und gerne hundert Metern hatte. An ihren beiden Enden gähnten hohe Toröffnungen in den Mauerwänden, Durchlass zu weiteren Hallen. Das elektrische Außentor in der Seitenwand war heruntergelassen, und da der Strom abgeschaltet war, hatte es seine ursprüngliche Funktion verloren. Hier und da konnte Riedel noch die flachen Betonfundamente erkennen, auf denen früher die großen Maschinen gestanden hatten. In den guten Zeiten hatten sie hier schwere hydraulische Bergbaustempel gefertigt und gewartet; an diese Zeiten erinnerte nur noch der vage Geruch von Maschinenöl.
Riedel saß an einem Mahagonitisch (diesen Luxus hatte er sich denn doch erlaubt) im Zentrum der Haupthalle, mit der Schreibmaschine, einem Stapel Papier und dem Buch der Morde vor der Nase. Voll Ungeduld wartete er auf seinen alten Freund, diesen Schierenkomödianten. Er wollte gerade eine erneute Anweisung tippen, als Bender aus dem Nichts in der Halle erschien. Der Schriftsteller taumelte zur Seite, bis er sicheren Schritt gewann. Mit großen Glubschaugen beglotzte er Riedel. Der hätte lachen mögen: Benders Gesicht war ein einziges verschrecktes Fragezeichen.
„Hallo Mario“, sagte Riedel und neigte zur Begrüßung ein wenig den Kopf. Es fiel ihm schwer, ruhig sitzen zu bleiben – das Gefühl des nahen Triumphes jagte ihm Hummeln durch den Anus.
Bender schüttelte den Kopf, wie um ein hartnäckiges Trugbild zu vertreiben.
„Wo bin ich hier?“, fragte er.
„In meiner Welt“, sagte Riedel und klatschte vergnügt in die Hände. „In einer Welt der großen Literaten. Oder willst du etwa behaupten, du gehörst nicht hierher? Bist doch sonst nicht so bescheiden.“
Bender gab keine Antwort. Er grabschte haltsuchend nach seiner Krawatte, blickte sich eulenhaft um und fand augenscheinlich doch keine vernünftige Erklärung für die Situation. Langsam tat er einige Schritte auf die Riedel gegenüberliegende Toröffnung zu.
„Wohin so schnell, mein Lieber?“, rief Riedel ihm zu. Die Worte hallten von den Wänden wider. „Du gehst nirgends hin, kapiert? Ich hab dich nicht hergeholt, nur damit du den Sittich machst.“
Bender blieb stehen. „Du hast ... was?“
„Dich hergeholt.“
Bender starrte ihn mit offenem Mund an. Ach, hätte ich doch nur einen Fotoapparat zur Hand, dachte Riedel, die dämliche Fresse wäre wert gewesen, festgehalten zu werden.
„Gottnocheins, Frank: Was läuft hier?“
„So ging mir das auch immer: Was läuft da? Bei jedem Blick auf die Bestsellerlisten hab ich mich das gefragt. Bei jedem Blick auf meine Absageschreiben hab ich mich das gefragt. Aber mit der Fragerei ist jetzt Schluss.“ Er hob den rechten Arm, und bei jedem der nun folgenden Wörter bohrte er mit dem Zeigefinger ein Loch in die Luft. „Ich bin nicht mehr der Blödi, auf den du runterlächeln kannst. Ich bin hier, um dir was klarzumachen.“ Er legte eine kleine Pause ein, um den Moment vollends auszukosten. Dann: „Lass mich dir ein paar Leute vorstellen.“
Er tippte einige Zeilen. Zu seiner Linken erschien ein Doppeltisch im rechten Winkel zu dem seinigen, dann zwei Stühle mit der Lehne zum Außentor, und dann folgten ein Mann und eine Frau nach, beide in Riedels Alter. Die Ankömmlinge nahmen ihre Mirnichtsdirnichts-Manifestation in aller Seelenruhe hin.
Bender schrie auf und machte Anstalten, sich umzudrehen und davonzulaufen.
„Bleib stehen!“, befahl Riedel. „Sag ‚Guten Tag’ zu deinen Kritikern.“
„Kritiker?“ wiederholte Bender und tat einen rückwärtigen Schritt.
Der Mann und die Frau nickten lächelnd.
„Ju-ro-ren!”, ergänzte Riedel. „Und jetzt komm verdammt noch mal hierher!“ Er zeigte auf die Stelle zu seiner Rechten, genau gegenüber des Jurorentisches.
„Ich komm nirgendwohin!“, erwiderte Bender.
„Doch, du wirst“, beharrte Riedel.
„Du kannst mich!“
„Genau“, sagte Riedel. „Ich kann dich, aber du mich nicht. Das ist das Schöne an der Geschichte. Weißt du noch, was du gestern im Café zu mir gesagt hast? Die Sache mit dem Monsterkram?“
„Mir scheißegal, was ich gesagt hab.“
„Du hast gesagt, ich solle die Monster vergessen. Das interessiere keinen. Nun, das mag da draußen so sein, aber hier, das versprech ich dir, hier wirst du anders pfeifen. Gib gut acht, mein Freund.“
Riedel tippte wieder etwas in die Adler und lehnte sich dann zufrieden zurück. Bender, der die Toröffnung fast erreicht hatte, blieb abrupt stehen und lauschte.
Aus der zweiten Halle drangen tiefe, rauhe Atemzüge herüber. Die Lunge, die sie befüllten, musste riesig sein.
Bender hielt offensichtlich nicht mehr viel von seinem Fluchtweg. Er schlich zurück zur Hallenmitte.
„Was ist das?“, raunte er Riedel schreckensbleich zu, die Augen unverwandt zum Tor gerichtet.
„Eine Überraschung“, sagte Riedel lächelnd.
Ein dröhnender Schlag ließ den Hallenboden vibrieren.
„Bitte ...“, stammelte Bender nebst einigem wirren Zeug, dessen Sinn wohl nicht einmal er selbst kannte.
Der gewaltige Schädel eines Tyrannosaurus Rex senkte sich aus seinem Versteck in die Toröffnung. Seine großen Nüstern scheuchten Staubgirlanden auf, die im hereinfallenden Sonnenlicht durch das Tor tanzten.
„Gott Herr Jesus hilf!“, wimmerte Bender und rannte auf das gegenüberliegende Tor in Riedels Rücken zu.
Die Tyrannenechse zwängte sich in die Haupthalle, richtete sich zu ihren vollen sechs Metern auf und lief dröhnend los. Auf Höhe der Hallenmitte überholte sie den Flüchtling, machte kehrt und versperrte ihm den Weg. Vor Angst nach Luft schnappend blieb Bender neben Riedels Tisch stehen.
Der T-Rex beugte seinen Schädel hinab, öffnete sein mit Reißzähnen bewehrtes Maul und brüllte Bender eine nach Fäulnis stinkende Warnung zu.
Bender sackte auf die Knie und schlug die Arme über seinem Kopf zusammen, als böte das auch nur den geringsten Schutz gegen das Tier. Der T-Rex aber hielt bloß Stellung; anscheinend stand ihm der Appetit nicht nach Mensch, oder etwas anderes hielt ihn davon ab, seinem Jagdtrieb zu folgen.
„Komm wieder hoch!“, sagte Riedel, der das Schauspiel gleichermaßen fasziniert wie befriedigt beobachtet hatte.
Bender schaute unter seinen zitternden Armen hervor. Der T-Rex ragte nur wenige Meter entfernt wie ein Berg aus Fleisch und Muskeln vor ihm auf. Er sah das Spiel der Halsmuskeln, die massigen Hinterläufe, den schlagenden Schwanz, aber vor allem sah er diese mitleidlosen großen Augen, die ihn fixierten wie einen willkommenen Leckerbissen. Die zurückgebildeten Vorderläufe schaukelten in einem trägen Takt; fast schien der Räuber gelangweilt, jetzt, da er seine Beute gestellt hatte.
„Auf die Beine mit dir“, befahl Riedel. „Er tut dir nichts.“
Zögerlich richtete Bender sich auf. Sein Mund formte tonlose Worte.
Riedel lächelte breit. „Da staunst du, hm? Glaub mir, da geht’s mir nicht anders. Was für eine großartige Schöpfung.“ Er senkte die Stimme und fuhr drohend fort: „Ich habe dafür gesorgt, dass unser kleines Stelldichein nicht gestört werden kann. Niemand da draußen wird auch nur einen Mucks hören, ganz egal, welchen Radau wir veranstalten. Die Tore und Fenster sind fest verschlossen, und wenn ich sage fest, dann meine ich fest. Also vergiss es. Du kämst ohnehin nicht weit – unser Freund hier würde dir ein Davonlaufen sehr übelnehmen.“ Er schrieb einen kurzen Satz und sah gespannt zum T-Rex rauf. Der tat, wie ihm geheißen: reckte den Kopf noch weiter vor und leckte sich mit der knotigen Zunge über den Kiefer.
„Ich denke, wir können dann anfangen“, sagte Riedel zufrieden. „Bereit?“
„Womit denn anfangen?“, wagte Bender eine Frage.
Riedel langte nach dem Buch der Morde, betrachtete es mit gespieltem Widerwillen und warf es Bender wie einen flatternden Vogel zu. Der rührte sich nicht vom Fleck. Das Buch klatschte ihm gegen die Brust und fiel zu Boden.
„Heb es auf“, verlangte Riedel.
Als Bender nicht gleich gehorchte, motivierte ihn der T-Rex mit einem Knurren.
„Schon gut, schon gut“, keuchte Bender und beeilte sich, das Buch zu nehmen. „Und was jetzt?“
„Du wirst daraus lesen“, bestimmte Riedel.
„Le ... sen?“
„Was denn sonst? Du liest deine Siegergeschichte. Wollen doch mal sehen, was unsere Jury dazu sagt.“ Mit einer galanten Handbewegung deutete er auf den Mann und die Frau hinter dem Doppeltisch, die bislang kein einziges Wort gesprochen hatten. „Darf ich vorstellen: Iris und Marcel. Die besten Literaturkritiker, die wir haben. Du wirst sie nicht nicht kennen, sie kommen nämlich ...“ – bei diesen Worten tippte er sich lässig gegen die Stirn – „... hierher. Genau wie der Dino.“ Versonnen lächelnd strich er mit der Hand über das Gehäuse der Adler. „Ich hatte erst vor, selber die Jury zu übernehmen, aber dann dachte ich, du fändest es möglicherweise unfair.“
„Du bist verrückt“, sagte Bender.
„Du kannst es ja drauf ankommen lassen. Jetzt lies!“
„Bitte ...“
„Fang an!“
Bender schlug das Buch auf und begann mit seiner Geschichte.
„Lauter!“, forderte Riedel ihn auf. „Man hört ja nichts.“
Eine halbe Stunde las Bender vor, unterbrochen von vielen Räuspern und Verlesern; immer wieder schaute er hoch zum T-Rex. Als er die Nummer beendet hatte, warf er Riedel einen fragenden Blick zu. Der aber machte mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine verneinende Scheibenwischerbewegung und nickt zur Jury hinüber.
„Die haben jetzt über dich zu befinden.“
„Furchtbar!“, polterte Marcel ohne Umschweife los. „Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Der schrecklich gewollte Humor ist so pointenlos wie infantil. Ein schlaffer Spannungsbogen, ein Füllhorn voll überflüssiger Adjektive, der Wortschatz durchweg auf dem Niveau eines Viertklässlers, und die Emotionen sind so schwach herausgearbeitet, dass mir das Schicksal der Figuren völlig schnuppe ist. Hat das Machwerk jemals ein Lektorat durchlaufen?“
Solchermaßen kritisiert, sah Bender sich doch zu einer Frage herausgefordert. „Was ist denn falsch?“
„Was falsch ist?“, brauste Marcel auf, sehr zu Riedels Wohlgefallen; es war sein Zorn, der da aus seiner Figur sprach. „Exemplarisch für viele Stellen ... wie war das noch? Die Frau, diese Miranda ...“
„Amanda.“
„Ich rede! Also, diese Amanda läuft vor dem Mörder die Treppe zum Keller hinunter, und das auf ängstlichen Beinen? Ängstliche Beine? Ängstliche? Bist du noch bei Trost?“
„Ich versteh nicht ...“, brachte Bender verwirrt hervor.
„Da gibt’s nichts zu verstehen. Beine können sich nicht ängstigen, Punkt. Überhaupt, was weißt du schon davon. Ich werde dir mal zeigen, was das eigentlich ist: Angst.“
Marcel schnippte mit den Fingern. Der T-Rex tat zwei Schritte. Sein aufgerissenes Maul senkte sich auf den Schriftsteller herab, der stocksteif an seinem Platz verharrte.
„Du hast gesagt, er tut mir nichts!“, schrie er panisch zu Riedel hinüber.
Und du hast gesagt, du gibst es deinem Agenten“, gab Riedel gleichmütig zurück.
Bender verschwand bis zur Hüfte im Schlund des Sauriers. Die Kiefer schlossen sich so weit, dass die Zähne den Anzugstoff durchbohrten; aber der Räuber biss nicht zu. Langsam schob sich die Zunge des T-Rex aus dem Maul und beleckte die Beine seiner Beute bis rauf zum Schritt. Gedämpft war Benders Sterbensgejammer aus seinem zahnvergitterten Gefängnis zu hören.
Nach einer Weile schnippte Marcel ein zweites Mal. Sofort ließ der T-Rex den Schriftsteller wieder frei und stampfte vier Schritte zurück.
Bender sackte schluchzend zusammen.
„Hör auf zu flennen!“, schnauzte Riedel. „Wenn ich geheult hab, hat’s auch keinen interessiert. Sieh mich an. Na, mach schon!“
Bender hob den Kopf. Die Haare hingen ihm speichelnass bis über die tränenverquollenen Augen herab.
„Ahnst du jetzt, was Angst ist?“, fuhr Riedel fort. „Deine Beine interessiert’s ’n Scheiß, was grad war. Hier oben, hier im Kopf, da hausen alle Schrecken. Vergiss das nie! Die Angst vorm Tod, vorm Verlust, vorm Versagen – die sind alle hier oben drin. Die warten nur auf eine Gelegenheit, und dann schnappen sie zu. Glaub mir, ich weiß Bescheid.“ Er kämpfte gegen das Mitgefühl an, das er beim Anblick dieses Häufchen Elends in seinem ruinierten Anzug empfand und wandte sich an Iris. „Jetzt du.“
Iris räusperte sich. „Offen gestanden, mir hat es ganz gut gefallen.“
Riedel starrte sie zornig an. „Wie war das?“
„Es ist sicher keine große Literatur“, räumte sie ein. „Ich mein, die Geschichte ist so hilflos naiv geschrieben, dass es fast schon wieder rührend ist, aber das ist nicht der Punkt; der Punkt ist ...“
„Ja?“
„Es ist unterhaltsam. Es hat, nun: Charme.“
Da war es wieder, sein altes Problem mit dem Eigenleben seiner Frauenfiguren. Er fand sich einfach nicht zurecht im weiblichen Synapsengestrüpp. Ganz gleich, ob in der Realität oder auf dem Papier: Das Leben mit einer Frau war wie die Fahrt in einer Hormonachterbahn – man wusste nie, wann die Loopings kamen und die Welt auf den Kopf stellten, und es war so gut wie sicher, dass irgendwo auf der Strecke ein Schienenabschnitt fehlte, der einen aus der Spur warf.
Er tippte zwei Zeilen.
„Gib dir keine Mühe“, sagte Iris. „Mich beeinflusst du nicht.“
„Du tust jetzt, wofür du da bist!“
Er wartete Iris’ Antwort gar nicht erst ab. Schluss mit den Mätzchen, ein für allemal. In seiner Unbeherrschtheit und noch unter dem berauschenden Eindruck der Machtdemonstration an seinem alten Freund schrieb er die nächste Zeile – entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – aus dem Bauch heraus:
Der T-Rex schnappt sich die Emanze. Ein letztes Mal sehe ich ihre ängstlichen Augen, bevor sie im Rachen des Sauriers ver
Weiter kam er nicht. Ein heißer Hauch strich ihm über den Nacken, begleitet von einem tiefen Knurren, das ihm die Nackenhärchen aufrichtete. Rasch wandte Riedel sich auf seinem Stuhl um und blickte geradewegs in die Augen des T-Rex. Der hatte den Kopf vorgebeugt, die Zähne gefletscht und sog prüfend die Luft ein, als habe er Witterung aufgenommen.
Hier läuft was schief, stellte Riedel nervös fest. Er riss den Kopf herum und las das Geschriebene.
Ein letztes Mal sehe ich ihre ängstlichen Augen
Für die ängstlichen Beine wäre Bender vom T-Rex fast in Stücke gebissen worden. Und nun das: Ängstliche Augen. Angstvoller Blick hatte es heißen sollen, herrje. Benders dämliche Kinderschreibe hatte auf ihn abgefärbt.
Eilig legte er die Finger auf die Tasten, um seinen Fehler zu korrigieren, aber da traf ihn auch schon die Schnauze des T-Rex und rammte ihn mit der Wucht einer Abrissbirne vom Stuhl. Der Magahonitisch kippte um, die Schreibmaschine polterte über den Boden, die Blätter verteilten sich im Staub.
Riedel sprang auf die Beine und duckte sich unter dem zweiten Angriff des Sauriers weg. Der brüllte zur Decke hinauf und drehte sich suchend nach seiner Beute um. Die Adler, dachte Riedel entsetzt. Selbst in diesem Moment, da ihm die Todesangst die Eingeweide verflüssigte, war ihm klar, dass er ohne die Schreibmaschine niemals hier herauskäme. Er sah sie durch den Tunnel zwischen den Hinterläufern des T-Rex, vom umherschlagenden Schwanz in Staubwolken gehüllt, vielleicht zehn Meter entfernt, und doch unerreichbar für den Augenblick. Riedel blieb nichts, als auf eine spätere Gelegenheit zu hoffen.
Er spurtete los zur rückwärtigen Toröffnung. Bender nahm Kurs auf das gegenüberliegende Tor. Der T-Rex, sichtbar verwirrt, ließ seine Wut an der Jury aus. Als Riedel durch das Tor lief und einen kurzen Blick zurück wagte, verschwand Marcel gerade im Maul des Sauriers und wurde mit strampelnden Beinen in die Luft gehoben. Ein Biss, ein wildes Schütteln mit dem Kopf, und der abgetrennte Unterleib plumpste, sein Inneres verspritzend, auf den Boden zurück.
Von Iris und Bender war nichts zu sehen.
Riedel lief in die nächste Halle.
Wie weit war er gekommen? Waren es drei Hallen gewesen? Vier? Fünf? Nachgerade blind war er vorangeprescht. Seine vom jahrelangen Sitzen ungeübten Knie hatten schmerzend und knackend gegen das Laufen protestiert. Erst, als er durch eine breite Pfütze auf dem Boden platschte, kam er wieder halbwegs zur Besinnung. Er taumelte rüber zur Hallenwand, wo er sich schwer atmend mit einer Hand abstützte und seine Situation überdachte. Vielversprechend war sie nicht gerade; sie sah wie folgt aus:
Der gesamte Hallenkomplex war in quadratischer Form angelegt. Riedel war oft genug in den letzten Jahren an dem Gewerbegebiet vorbeigefahren, um das zu wissen. Über dem nächsten Toreingang hing ein verrostetes Schild mit der eingestanzten römischen Ziffer VI. Die Haupthalle trug sicher die Nummer I, folglich war er durch vier Hallen gekommen. Der T-Rex war ihm nicht gefolgt, steckte also noch irgendwo hinter ihm in einer der ersten Hallen. Aufgrund der quadratischen Gebäudeanordnung hieß das jedoch, dass er sich auch vor ihm befand. Im Grunde genommen brauchte der T-Rex nur ruhig abzuwarten, bis Riedel ihm auf seiner Flucht geradewegs wieder in die verkümmerten Arme lief.
Der Gedanke erschien Riedel lächerlich; das war bloß ein Tier, kein Fallensteller.
Aber hier zu stehen und sich in Überlegungen zu verlieren, brachte ihn auch nicht weiter. Er musste an die Adler ran. Sollte er den Weg zurück nehmen? Nein, ausgeschlossen. Er hatte nicht die geringste Ahnung vom Jagdverhalten eines T-Rex, aber vor seinem geistigen Auge sah er die Riesenbestie, wie sie den Schweißpartikeln seiner Fluchtfährte folgte. Früher oder später würde sie ihn hier aufspüren.
Also vorwärts, beschloss Riedel mit klopfendem Herzen. Er schlich an der Wand entlang bis zum Tor und spähte in Halle VI. Sie war anders als die vorherigen: Eine Scheibenfront trennte die gesamte rechte Hälfte der Werkshalle ab, dahinter lag die Kantine – Aussicht auf kleine Verschnaufpause.
Riedel eilte rüber zur Doppelschwingtür und huschte hinein.
Wie es aussah, hatten die Leichenfledderer der Konkursverwaltung keine Verwendung für das Interieur der Kantine gefunden. Die Maschinen und alle anderen Gerätschaften draußen waren fortgeschafft, dieser Raum aber wirkte unberührt. Die Stühle waren noch da, die Tische waren noch da – auf einem stand eine Vase mit einem verdorrten Pflänzchen darin. Selbst die Auslagentheke vor dem Durchgang zur Küche hatten sie zurückgelassen; die war doch sicher was wert.
Über das Stillleben hatte sich eine pudrige Staubschicht gelegt. Man hätte hier nur mal feucht durchwischen müssen, und der Laden hätte wieder proper wie früher ausgesehen.
In der Geborgenheit der Kantine drängten sich ihm von einem schwachen Funken Hoffnung getriebene Fragen auf: Konnte er hier überhaupt sterben, hier, in einer (seiner?) ... Geschichte? Oder was das alles einem Traume ähnlich, in dem der Schnitter auf ein kleines Ableben vorbeischaut und man doch am nächsten Morgen quietschfidel erwacht? Wenn der T-Rex ihn fraß, war es dann aus mit ihm? Er verspürte wenig Lust, die Antwort darauf herauszufinden.
Riedel betrachtete seine Silhouette in einer Scheibe. Durch sie hindurch hörte er die Stimmen aus der Warteschlange vor der Kantine, das Klirren von Stahl, die Bohrmaschinen und CNC-Fräsen, das Klacken der Kantbank. Schemenhafte Gestalten in Blaumännern liefen geschäftig umher. Als er eine dieser traumwandlerischen Gestalten fester in seinen Blick fasste, fuhr ihm ein Schreck bis tief ins Gedärm. Dieser eine Schatten war keine Einbildung. Er nahm vielmehr Kurs auf die Schwingtüren, und er war verdammt schnell.
Die Türhälften flogen auf. Riedel wusste, dass es hier drin kein Entkommen vor dem Räuber gab; er krampfte mit den Fingern haltlos in der Luft, öffnete den Mund zu einem letzten Schrei, aber der Laut verreckte winselnd hinter der Zungenwurzel – nicht der T-Rex stürmte seine lächerliche Trutzburg; es war Iris, das Gesicht von blutenden Wunden zerfurcht.
Sie stutzte. Dann stolperte sie auf ihn zu und fiel ihm weinend in die Arme.
Für einen bloßen Gedanken auf dem Papier war sie erstaunlich präsent. Riedel spürte ihren Atem, der warm über seinen Hals strich, spürte das Weich ihrer Brüste, hörte, wie sie Rotz schniefte. Sie roch aus dem Mund nach kaltem Kaffee, eine Trinkgewohnheit, die er fast allen seinen Figuren angedichtet hatte. Nur, dass er dieser Figur eben keine Eigenschaften verpasst hatte; nicht mal ihr Aussehen hatte er erwähnt. So also stellte seine Fantasie sich eine Frau vor, von der er nur den Beruf und den Namen kannte. Wie Bender sie wohl gesehen haben mochte?
„Hilf mir“, sagte Iris und klammerte sich fester an ihn.
Dabei konnte Riedel selbst alle Hilfe gebrauchen. Er flüchtete sich in eine Floskel. „Beruhig dich erst mal“, sagte er und strich ihr über die Haare. „Komm mit.“
Er nahm ihre Hand und zog sie hinter die Auslagentheke, wo sie beide erschöpft zu Boden sanken.
Iris sah Riedel flehentlich an. „Mach, dass er wieder weggeht.“
„Das kann ich nicht“, erwiderte Riedel verzweifelt. „Nicht hier. Nicht so.“ Panik ergriff ihn, und er platzte mit der nächsten Frage heraus: „Was ist mit der Schreibmaschine? Hast du sie gesehen? Funktioniert sie noch?“
„Weiß nicht. Ich bin einfach diesem Bender hinterher.“
„Und wo ist der?“
„Die Tür. Ich wollt’ da nicht rein. Das war ’ne Mausefalle. Bin einfach weiter. Aber Bender ist da durch. Vielleicht ist er schon draußen.“
Riedel schüttelte nachdrücklich den Kopf. „Nein, gewiss nicht. Hier kommt keiner raus, so lange ich nicht meine Schreibmaschine habe.“
„Warum hast du das getan?“
Jede Silbe: eine Anklage.
„Ich wollte diesem arroganten Affen eine Lektion erteilen, nichts weiter.“ Was sonst hätte er erwidern sollen? Natürlich wusste sie Bescheid – sie kam aus dieser von Worten geformten Welt.
„Marcel ist tot. Gehört das mit zu deiner Lektion?“
„Niemandem sollte etwas geschehen“, verteidigte er sich. „Du und Marcel, ihr seid doch nur Figuren. Es gibt euch nicht wirklich. Wie könnt ihr da sterben?“
Iris nahm seine Hand und schlug sie sich zornig gegen ihren Oberam. „Was glaubst du, was das ist? Fleisch und Blut und Leben.“ Sie fuhr sich über einen Kratzer im Gesicht und hielt ihm die rotglänzende Fingerkuppe hin. „Ich blute, also kann ich sterben.“
„Aber das ist doch verrückt.“
„Nein, das ist wahrhaftiges Schreiben. Du hasst Kritiker. Dein Zorn hat diese Geschichte diktiert. Wir sind deine Stellvertretertoten für die Welt da draußen.“
„Das ist nicht wahr!“
„Da oben vielleicht nicht“, sagte sie und tippte mit den Fingern gegen seine Stirn. Dann legte sie die Hand auf seine Brust und sagte: „Aber hier ist es wahr, hier ganz tief drin. Und deshalb werden wir sterben.“
Er wollte heftig widersprechen, spürte aber, dass der Boden vibrierte. Irgendwo in der Kantine klapperte etwas. Riedel erhob sich in den Knien und spähte durch die Scheibe der Thekenauslage. Das Klappern kam von der Vase, die in gleichmäßigen Intervallen auf der Tischplatte hüpfte.
„Er ist hier irgendwo“, flüsterte er heiser.
Aus der Werkshalle vor der Kantine drang ein gedämpftes Knurren zu ihnen herein. Ein Schatten senkte sich vor die Schwingtür – zwei riesige Augen starrten durch die Glashalbmonde herein.
Riedel warf Iris einen raschen Blick zu. Sie hatte sich, hechelnd wie ein Hund, eng an die Schanktür geschmiegt; ihr Körper bebte vor Angst. Ihre Lippen formten die tonlose Frage: „Ist er das?“, und Riedel konnte sehen, wie sehr sie nach seinem Kopfschütteln gierte, auch wenn ihr klar war, wer ihnen da seine Aufwartung machte.
Er nickte nur und wandte seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. Der T-Rex stupste die Türhälften an. Sie schwangen einen spaltbreit nach innen und klappten wieder zu. Der Saurier unternahm einen zweiten Anlauf, und diesmal schob er den ganzen Schädel nach.
Die Nüstern blähten sich. Ein rasselnder Atemzug.
Der riecht uns, dachte Riedel entsetzt.
Der T-Rex brüllte auf und brach mit seinem Körper durch die Schwingtür. Die Türhälften flogen aus den Angeln und rutschten an die gegenüberliegende Wand. Wild stampfte der Räuber durch den Raum, zertrümmerte Tische und Stühle, streifte mit seinem kantigen Schädel Deckenlampen und Styroporplatten herunter. Immer wieder warf er den Kopf ruckartig zur Seite und hielt witternd inne. Aus den Nüstern sprühte schleimiger Rotz gegen die verstaubten Scheiben und rann in morastigen Schlieren zum Boden hinab. Als der T-Rex unvermittelt zur Theke herübersah, duckte Riedel sich hinter die Metallblende.
Lauernd schlich der Räuber näher. Riedel hörte, wie er die Blende auf der anderen Seite eindrückte, bis sie sich mit einem twonk wieder ausbeulte.
Hilfesuchend tastete er nach Iris’ Hand, die seinen Griff überraschend fest erwiderte. Er bedeutete ihr mit einem Nicken, ihr in die Küche zu folgen, aber sie schüttelte nur den Kopf.
Er wusste, sie hatte recht – die Küche war keine Zuflucht. Für den Saurier so leicht zu knacken wie ein Bretterverschlag voll verschreckter Hühner.
Wie in einem Spiegel sah Riedel die fiebrige Angst in ihrem Blick, vermengt mit der grausigen Erkenntnis: der Tod ist gekommen. Nichts mehr würde sie retten. Ehe Riedel noch reagieren konnte, ließ sie seine Hand los, stürmte schreiend hinter der Theke hervor und lief hinaus in die Halle. Grollend stapfte der Koloss ihr nach.
Riedel nutzte die unverhoffte Chance und verließ die Kantine. Iris lief auf dem Weg zurück, den er hierher genommen hatte, und eben jetzt wurde sie von dem Saurier eingeholt. Ihr schrilles Sterben begleitete ihn, als er in die andere Richtung losrannte.
Halle VII. Halle VIII.
In Halle IX stieß er auf eine Tür, die zu den Toiletten führte. Er riss sie auf und sprang in die vermeintliche Sicherheit dahinter. Plötzlich stand Bender vor ihm. Er hielt eine Eisenstange in der Hand.
„Du blöde Sau!“, schrie er und drosch ohne Zögern auf Riedel ein.
Der konnte nur durch einen raschen Seitenschritt ausweichen und flüchtete in eine Scheißhauskabine.
„Warte, Mario!“, rief er, aber der Rasende ließ einen Hagel aus Schlägen gegen die Tür prasseln. Er schien nicht die Absicht zu haben, damit aufzuhören, bevor er Riedel nicht zu Matsch zerschlagen hatte.
„Hör mir doch nur ’n Augenblick zu, verdammt!“
Die Schläge hörten abrupt auf. In der Kabine nebenan wurde ein Klodeckel runtergeklappt. Etwas schabte über die Trennwand. Riedel schaute auf. Oben erschien Benders Gesicht, danach die Hand mit der Eisenstange.
„Ich bring dich um!“, schrie Bender und schlug mit einer Mordswut nach Riedels Kopf. Der ließ sich auf den Boden fallen, wo ihn die Stange einstweilen nicht erreichen konnte.
„Hör auf damit!“, brüllte er zu Bender rauf. „Nur ’ne Sekunde, ja?“
„Warum sollte ich?“, erwiderte Bender und beugte sich weiter in die Kabine hinein.
„Weil du ohne mich nie wieder hier rauskommst. Und weil nämlich, wenn du so weitermachst, das Vieh uns hören wird.“
Der T-Rex war offenbar ein Argument, das Bender gelten ließ. Er stellte das Schlagen ein.
„Was ist hier los?“, fragte er keuchend. „Was ist mit diesem Tier? Was ist das überhaupt für ’ne scheiß Halle? Besser, du erklärst mir das sofort, sonst hau ich dich kurz und klein.“
„Ich weiß nicht, wie ich ...“
„Erklär’s mir. Jetzt!“
„Es ist die Schreibmaschine“, beeilte Riedel sich zu sagen. „Frag mich nicht, wie es funktioniert. Ich weiß nur, dass es funktioniert. Ich schreibe etwas, und das ganze wird Wirklichkeit.“
„Du verarschst mich doch.“
„Dann ist der T-Rex also Verarsche, he? Du musst mir glauben!“
Bender blickte auf ihn herab, als habe er es mit einem Schwachsinnigen zu tun. „Hörst du dich eigentlich reden, Frank?“
„Ich hab das alles geschaffen. Weil ich dir ’ne Abreibung verpassen wollte. Und dann sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen.“
„Meinst du wirklich, dass ich dir den Quatsch abkaufe?“
„Tu, was du willst. Aber ich muss meine Adler wiederhaben. Sonst hängen wir hier fest.“
„Wir könnten einen Ausgang suchen“, wandte Bender ein, der nun doch nachdenklich geworden war.
„Es gibt keinen Ausgang.“
„Was ist mit den Fenstern?“
Riedel schnaufte resigniert. „Die Tore nicht, die Fenster nicht. Ich hab geschrieben, dass niemand sie öffnen kann, nicht von außen, schon gar nicht von innen. Du könntest mit ’nem Raketenwerfer draufhalten, keine Chance.“
„Deshalb also“, murmelte Bender, offensichtlich bereit, Riedels kruder Geschichte so langsam eine gehörige Portion Glauben zu schenken. „Ich hab versucht, die Fenster einzuschlagen. Nichts, nicht mal ’n Kratzer. Was bist du bloß für’n dämliches Arschloch, Frank, immer schon gewesen.“
„Können wir uns das für später aufheben? Wir müssen zurück in die Haupthalle.“
Bender lachte grimmig. „Ich geh da nicht wieder raus. Du hast diesen Wahnsinn angezettelt, jetzt kannst du ihn auch alleine regeln.“
„Ich schaff das nicht ohne deine Hilfe.“
Das war nicht ganz die Wahrheit. Riedel ging es nicht so sehr um Hilfe; er wollte bloß nicht alleine sein. Einer Eingebung folgend, reckte Riedel sich hoch, betätigte die Klospülung, und richtig: nichts geschah. „Siehst du das? Wir haben nicht mal Wasser. Was glaubst du, wie lange wir das durchstehen? Bitte, hilf mir.“
Bender kaute auf seiner Unterlippe. Es war ihm anzusehen, dass Hass und Vernunft in ihm miteinander stritten.
„Und?“, drängte Riedel.
Bender atmete geräuschvoll aus. „Gut“, sagte er schließlich, „gehen wir. Aber wenn du versuchst, mich zu linken, schlag ich dich tot.“
„Ist ’ne ziemlich Strecke“, raunte Bender.
Sie standen am Tor von Halle X, versteckt hinter dem Mauerwerk, und spähten in die Haupthalle.
„Halb so wild“, entgegnete Riedel, aber seinem kleinen Mutmacher glaubte er selber nicht. Gesetzt den Fall, er spurtete von hier los, und zu gleicher Zeit kam der T-Rex von der anderen Seite: allein die ungleich verteilte Schrittweite ließ am Ausgang dieses Wettlaufs keinen Zweifel aufkommen.
Im Moment war von dem Räuber jedoch nichts zu sehen. Nur die völlig eingestaubte Adler lag in der Hallenmitte, umgeben von einem Kranz aus losen Blättern.
„Er wird in einer der hinteren Hallen sein“, mutmaßte Bender.
Riedel hoffte es inständig.
„Dann los“, forderte Bender ihn auf und griff die Eisenstange fester. „Ich geb dir Deckung.“
Riedel fragte sich noch, woraus diese Deckung im Ernstfall bestehen sollte, dann trat er in die Halle. Schritt um Schritt näherte er sich der Schreibmaschine, bereit, jederzeit Fersengeld zu geben.
Bender folgte ihm auf dem Fuß. Riedel empfand so etwas wie Dankbarkeit für seinen Begleiter, auch wenn dessen Unterstützung wohl eher den Sinn hatte, Riedel nicht allein an die Schreibmaschine gelangen zu lassen. Er misstraut mir, dachte Riedel, und er konnte es Bender nicht einmal verübeln.
Bald erreichten sie den Punkt, ab dem nach Riedels Schätzung eine Umkehr nicht mehr möglich war. Wenn er jetzt weiterging und der T-Rex ließ sich blicken, dann gab es nur noch ein Vorwärts, hin zur Adler, und dann mach das mal, ein Blatt aufklauben und es in die Schreibmaschine spannen, um rasch ein paar Worte zu tippen, während ein sieben Tonnen schweres Raubtier dich jagt.
Er tat die nächsten Schritte. Ein leises Knirschen, als zerbröselte ein kleines Steinchen unter gewaltigem Druck; wenn Riedel sich nicht täuschte, war das Geräusch hinter der Wand zu Halle II erklungen.
Riedel vernahm den steten Rhythmus eines gewaltigen Herzschlages. Es war nur sein eigenes Herz, das ihm bis hinauf in die Schädeldecke dröhnte, aber die Feststellung beruhigte ihn kein bisschen. Eine Ahnung beschlich ihn: wir sind nicht allein.
„Los doch“, drängte Bender und stupste ihn an, weil Riedel stehen geblieben war.
Riedel raffte all seinen verbliebenen Mut zusammen und lief los. Er packte die Schreibmaschine, griff nach einem Blatt Papier und rannte mit triumphierendem Blick zurück, auf Bender zu, der eben jetzt an ihm vorbeisah und die Augen vor Grauen weit aufriss.
Dreh dich nicht um, hämmerte Riedel sich ein, während sein Herz einen Schlag übersprang. Er fasste die Schreibmaschine noch fester und stürmte weiter, Bender hinterher, der jetzt in wilder Flucht vor ihm herlief.
Ein entsetzliches Brüllen füllte die Halle aus. Der Boden schien unter Riedels Füßen zu tanzen. Die dröhnenden Schritte näherten sich so rasch, dass Riedel alle Hoffnung verlor, aber er lief weiter, das Tor war nun nicht mehr weit, dann nur noch eine Halle, und dann nichts wie rein in die Toilette. Komm schon, lieber Herr, dein Wille geschehe, dein Reich komme, aber doch nicht heute!
Ein brutaler Schlag traf seinen Rücken. Riedel wurde in vollem Lauf nach vorn geschleudert und prallte gegen Benders Rücken. Beide stürzten sie zu Boden. Bender verlor seine Eisenstange, die polternd davonrollte. Riedel umklammerte mit dem rechten Arm die Adler. Mit der linken Hand versuchte er instinktiv, den Sturz abzufedern; dabei entglitt ihm das Blatt Papier; langsam trudelte es davon, Richtung T-Rex.
Riedel sprang wieder auf. Sein Shirt war so zerrissen wie sein Verstand. Mächtige Kiefer schnappten nach ihm. Er konnte geradewegs in den Rachen des Räubers blicken. Ein rascher Ausfallschritt rettete ihn vorerst – die Zähne des T-Rex erwischten nur einen herabhängenden Fetzen des Shirts; ein Ruck, und der Stoff riss vollends entzwei. Mit nacktem Oberkörper hastete Riedel weiter, vorbei an Bender, der soeben auf die Beine kommen wollte. Er konnte seinem alten Freund nicht helfen; hätte er auch nur eine Sekunde auf ihn verwandt, sie wären beide verloren gewesen.
Mit der Adler im Arm stürmte er wie ein Quarterback auf dem Weg zum Touchdown voran. Hinter ihm konnte der T-Rex dem taumelnden Happen nicht widerstehen – Riedel hörte Benders letzten Schrei in dieser Welt, gefolgt von einem Knacken, das ihm auf grausige Weise nur allzu vertraut war.
Unbeschadet erreichte er die Toiletten, flitzte hinein und warf die Tür hinter sich zu. Er legte seine glühende Stirn an die kühlenden Kacheln und schnappte nach Luft. Seine Lunge kochte. Sein Verstand führte einen Veitstanz auf, der kaum einen klaren Gedanken zuließ. Papier, dachte er immerzu, ich hab das verdammte Papier verloren. Er brauchte unbedingt etwas, das er in die Adler spannen konnte.
Hastig inspizierte er die Toilettenkabinen nach verbliebenem Scheißhauspapier. Ein kleiner Streifen hätte ihm schon genügt. Er fand nicht mal eine leere Klopapierrolle. Statt dessen klapperten die Metallabdeckungen der Rollenhalterungen.
Der T-Rex kam.
Riedel zog sich in eine Kabine zurück, schloss leise die Tür und drehte an dem Knopf für die Verriegelung. Dann setzte er sich auf den Klodeckel und stellte die Adler auf seinen Oberschenkeln ab.
Vielleicht geht es ja auch so, hoffte er inständig und schrieb eine Zeile, in der er den Saurier zurück in dessen prähistorisches Jenseits schickte. Jedesmal, wenn ein Typenkopf durch das Farbband hindurch auf die Walze schlug, klang es laut wie ein Pistolenschuss in seinen Ohren.
Aber so leicht ließ der Zauber sich nicht austricksen. Der T-Rex stand unbeirrt auf der anderen Seite der Toilettenwand. Riedel hörte sein Grollen bis hier herein.
Ein dumpfer Schlag. Stille. Wieder ein Schlag, diesmal kräftiger. Irgendwo hinter der Kabinentür fiel eine Kachel von der Wand und zersplitterte auf dem Boden. Ein faustgroßes Keilstück schlitterte zu ihm in die Kabine.
Fieberhaft überlegte Riedel, was er anstelle von Papier verwenden könne. Da blieb nichts außer dem, was er bei und an sich hatte. Die Jeans, fiel ihm ein, mein Gott, ja, das könnte klappen. Sein Blick fiel auf die Kachelscherbe. Ein Zeichen, ein Geschenk des Himmels; musste es einfach sein. Er bückte sich danach. Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, erschütterte ein solch heftiger Schlag den Raum, dass selbst die Kabinentür in den Angeln erzitterte.
Draußen regneten die Kacheln förmlich von den Wänden. Das Geklirre raubte ihm jedwede Fassung. Schreiend vor Entsetzen machte er am Schienbein einen Schnitt durch den Hosenstoff. Der nächste Schlag ließ das Mauerwerk beben. Riedel trennte ein handtellergroßes Stück Stoff aus seiner Hose; die ausgezackten Ränder der Scherbe drangen dabei so tief in die Haut, dass ihm das Blut nur so aus der Faust tropfte.
„Jetzt mach ich dich fertig!“, krakeelte er.
Er wollte gerade den Stoff in die Adler spannen, als ein weiterer Schlag die Statik des Mauerwerks ruinierte. Über den Rand der Kabinentür hinweg sah er, wie die Mauer sich nach innen neigte.
„Mama!“, schrie Riedel in höchster Not und hob zum Schutz die Adler vors Gesicht.
Schwere Mauersteine prasselten in die Toilette, durchschlugen die Kabinentür und begruben ihn unter sich.
Langsam öffnete er die bleischweren Lider. War er ohnmächtig gewesen? Jedes Zeitgefühl war dahin.
Was er für einen Benommenheitsschleier gehalten hatte, entpuppte sich als Staubwolke, die sich träge bewegte und nur langsam senkte. Dahinter lag Halle IX, die er nun ungehindert einsehen konnte. Der T-Rex war verschwunden. Hatte er Riedels Fährte verloren? Oder hatte er sich nur zu einem kleinen Verdauungsschlaf zurückgezogen, wohlwissend, dass diese Gaumenfreude ihm nicht mehr entwischen konnte?
Denn Riedel lag bis zur Brust eingeklemmt unter einer Decke aus Schutt und Mauersteinen. Er spürte die fließenden Formen seiner Schenkel, das Gebein zermalmt zu einem Mus aus Knorpeln und Knochen. Seltsamerweise empfand er keinen Schmerz; muss wohl am Schock liegen, überlegte er, seinen traurigen Zustand wie den eines Fremden analysierend.
Die Aussicht aufs Sterben war verlockend, ein süßes Versprechen auf Erlösung, raus aus diesem geschundenen Körper, für dessen Bergung man statt helfender Arme eher einen Spachtel und einen großen Eimer gebraucht hätte.
Seine Arme immerhin, die lagen frei, wie er jetzt feststellte; sie zitterten wie von Spasmen durchfahren. Auf seiner Brust stand die Adler, verdreckt, aber nicht nennenswert beschädigt. Sie hob und senkte sich mit den flachen Atemzügen, die ihm sein Steinkorsett noch erlaubte.
Die Schreibmaschine gab ihm ein Fitzelchen Hoffnung zurück. Wenn er doch bloß etwas fände, auf dem er schreiben könnte.
Er versuchte, den Schutt zur Seite zu schieben, um an seine Hose zu gelangen, aber die Steine waren zu schwer, und seine zitternden Händen machten es ihm kaum möglich, einen brauchbaren Griff zu setzen. Er rutschte ab und schnitt sich an einer scharfen Kante den Unterarm auf.
Einen Fluch zischend, betrachtete er das Blut, das langsam aus der Wunde trat und bizarre Formen auf seine Haut zeichnete.
Haut!, schoss es ihm jäh durch den Kopf.
Das würde Schmerzen bedeuten, aber andererseits, wenn es gelang: Zeile für Zeile könnte er sich wieder ins Leben schreiben, den ruinierten Gliedern die alte Anmut verleihen, den gebeutelten Verstand generalüberholen – und vielleicht sogar Bender den Magensäften des Urzeiträubers entreißen, in einem Stück und ohne Erinnerung an den heutigen Tag.
Er hob den Kopf und schaute sich nach einem geeigneten Schneidwerkzeug um, entdeckte das Fragment einer Kachel in Griffweite, nicht so handlich wie das Stück, das er vorhin noch verwendet hatte, aber es würde gehen. Nein, korrigierte er sich, es musste gehen.
Er hatte alle Mühe, die Scherbe mit der zitternden Rechten zu umfassen. Als es schließlich gelang und er die Hand zum linken Unterarm führte, tanzte das spitz zulaufende Ende über seiner Haut auf und ab. Riedel griff noch fester zu, aber das Zittern bekam er nicht unter Kontrolle.
Drauf geschissen! Er brauchte ja nur einen kleinen Hautlappen lösen; wenn es sein musste, würde er sich den Streifen in einem Stück herausreißen. Das konnte er alles später wieder in Ordnung bringen.
Der Schnitt war ein Fiasko – seine zuckende Hand trieb die Scherbe tief in die Haut; sie schabte knirschend über Elle oder Speiche, und als er sie wimmernd vor Schmerz wieder aus dem Muskelfleisch zog, pulste Blut in kräftigen Stößen heraus. Ulnar-Arterie, dachte Riedel erschrocken. Ein Spritzer traf ihn ins Auge. Instinktiv wischte er das Blut mit dem Handrücken fort. Dabei stieß er mit dem Ellbogen gegen die Adler; sie hatte bereits einen unsicheren Stand auf seiner mageren Brust, durch seinen Stoß verlagerte er ihren Schwerpunkt – nicht viel, nur ein paar Zentimeter, aber es reichte aus, dass die Schreibmaschine zur Seite kippte und den Schuttberg hinabpolterte, unerreichbar für seine grabschenden Hände.
„Nein!“, schrie Riedel seine Angst und seine Enttäuschung heraus; ein nicht enden wollender Schrei, der in Halle IX von Wand zu Hand hüpfte, bis er verschwand, wahrscheinlich in den Gehörgängen des T-Rex.
Was hatte Vater immer zu ihm gesagt? Junge, hatte er immer gesagt, du hast zwei linke Hände. Besser, du lässt es bleiben. Vermasselst bloß alles.
Das immerhin konnte Vater ihm nun nicht mehr vorhalten. Es war so schlimm geworden, danach konnte nichts mehr kommen.
Er würde sterben. Hier, in seinem Steinsarkophag liegend, mit einem hübschen Fressloch oben für den Saurier.
Müde wandte Riedel den Kopf, fort von seiner geliebten Adler, hin zu der kleinen roten Fontäne, die aus seinem Unterarm sprudelte und allmählich schwächer wurde.
Vielleicht zeigte das Schicksal sich gnädig; lass mich ohnmächtig werden, bevor der T-Rex mich holt, flehte er; noch besser: lass mich schlafend ausbluten.
Aber das Schicksal hatte offensichtlich andere Pläne mit ihm. In Halle IX tauchte die massige Gestalt des Sauriers auf. Riedel beobachtete ihn beim Näherschleichen. Als der T-Rex seinen Schädel durch das Mauerloch schob, schloss Riedel die Augen. Fauliger Atem strich ihm übers Gesicht. Heißer Speichel tropfte auf seine Wangen herab, vermischte sich mit seinen Tränen.
Der Räuber biss nicht zu.
Riedel schlug die Augen auf.
Der T-Rex starrte ihn an. Beschnupperte das schwindende Leben. Beleckte den fühllosen Arm, benetzte seine Papillen mit dem Kupfergeschmack des Todes. Das Grollen wurde sanfter, verlor sich in einem Schnurren. Behutsam zog der T-Rex den Kopf zurück; er wandte sich um und stampfte davon.
„Danke“, hauchte Riedel. Nicht einmal er selbst wusste, wem dieser Dank galt. Es kam einfach aus ihm heraus: Danke. So ein kleines Wort, und doch war alles damit gesagt.
Er legte den Kopf zurück und wartete auf das schwarze Vergessen.