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Monochrome
Ein träges und leises Fiepsen, was auf Batterieschwäche hinweist, verpasst ihr einen direkten Schlag im Kopf. Mürrisch dreht ihr Körper sich auf die Seite, eine Hand versucht vergeblich den Wecker auszuschalten, lieber wäre ihr natürlich vernichten und nie mehr aufstehen.
Das Fiepsen wird schneller, ein Stöhnen hallt durch ihre vier Wände und der kühle Frauenkörper richtet sich auf.
"Jeden Morgen dasselbe...", haucht eine raue Stimme in den gräulichen Raum, dessen Putz halb zerstört ist. Nun trifft eine Faust grob den "Off"-Schalter des Weckers und lässt ihn damit verstummen.
Zwei graugrüne Augen mit kupferfarbenden Ringen um die Pupile öffnen sich. Sie sind matt und leblos. Und auch wenn sie so wunderschön aussehen, durch sie sieht die Welt nur schwarzgrau aus.
Jeden Morgen schwächt die Hoffnung, Farben sehen zu können mehr ab.
Es tut ihr weh, und so beißt sie sich auf die geschwollene, trockene Unterlippe und erhebt sich.
Eine Gänsehaut legt sich über ihren Körper, zu der Farbenblindheit ist sie auch noch ein Maulwurf ohne ihre riesige Hornbrille.
Irritiert tappst sie barfuß über den hellen, befleckten Parkettboden zu der Ebenholzkommode, um ihre Brille zu erhaschen.
Gähnend zupft sie an ihrem durchlöchertem T-Shirt, dass sie jetzt deit drei Wochen zum Schlafen trägt, damit es glatt über ihrer Hüfte liegt. Sie öffnet die Badezimmertür und sieht in den Spiegel.
So grau und tot, wie sie für sich selbst aussieht, ist sie auch.
Ihre zerzausten Haare, welche den Farbton Platinblond, ja fast weiß, so sagen ihre Mitmenschen, haben, kämmt sie glatt. Sie sind geschmeidig und weich, gerade und kinnlang.
Ihr Pony liegt schräg und bedeckt ihr eines Auge leicht, der Rest über ihre Stirn.
Aufgrund Pickel, damit sie keine Schminke benutzen muss, welche sie verabscheut, erklärt sie immer.
Ihre Haut ist fast so weiß wie ihr Haar, die Wangen ganz blass pink, so wie ihre kaputten Lippen.
Eine feine, kleine Nase und zwei Muttermale auf der rechten Wange, die fast nebeneinander liegen.
Das einzige, was stört, sind die toten Augen und die Augenringe.
Ein Seufzer verlässt ihre Kehle, eine Hand zupft den Slip zwischen ihren Beinen zurecht, bevor sie auf den Balkon trat, der eine Verbindung von Schlafzimmer zu Küche hatte.
Eine kleine Flamme lässt die Spitze der Zigarette erglimmen, eine Wohltat für ihre zerdepperte Seele.
Sie fährt mit einer Hand sanft über die feinen Narben an ihrem Handgelenk, versteckt unter den vielen Armbändern.
Die ganze Stadt, Oakland, so heißt sie, schläft noch ein wenig. Kaum ein Hupen, kaum ein Mensch in Sicht, nur eine weiße Scheibe am Horizont, die sich auf den Himmel zubewegt, welcher auch so grau und bewölkt wäre.
Eine Briese lässt sie erschaudern, ihre Zigarette drückt sie in dem kleinen Aschenbecher aus und sie selbst verzieht sich wieder in der kleinen, chaotischen Wohnung.
Mit einem Wurstbrot im Mund und ihrem Handy in der linken Hand versucht sie in ihre schwarze Skinny Jeans zu hüpfen. Ein pastelgelbes, verwaschenes Shirt ohne besonderes Muster dazu. Die Farben können ihr ja eh egal sein.
Schnell schlüpft sie in ihre schwarze Twenty-One Pilots Strickjacke, mit der coolen Schrift hinten auf dem Rücken.
Zufrieden mit ihrer Wahl zieht sie eine olivgrüne Jacke darüber, mit vielen bunten Buttons und Aufnähern ihrer Lieblingsserien und Fandoms, an der Seite sind bunte Schmetterling-Aufnäher, doch für ihre Augen sind sie eh alle grau.
Mit einem schwarzen Rucksack auf dem Rücken zieht sie ihre Chucks an und stopft Kopfhörer in ihre Ohren, ehe sie zum Aufzug läuft und mit Gewalt auf die zerkratze Taste haut, dabei ihren Finger halb bricht.
Fluchend stellt sie sich in den müffelnden Aufzug, dessen Spiegel voller Graffiti und Lippenstift ist.
Es riecht nach Urin und Bier, wenigstens ist der Zigarettenrauch angenehm.
Ungeduldig spielt sie mit dem Feuerzeug in ihrer Tasche. Rauchen tut sie nicht aus Lust, aus Zwang, nein. Sie raucht, damit sie die Zigaretten anzünden kann, damit sie das Glühen sehen kann, und nicht ausversehen mutmaßlich und aus Aggressivität jemandes Haare anfackelt. Sie grinst höhnisch.
Unten angekommen begrüßt sie kurz ihre Vermieterin, welche schon 78 Jahre alt ist und die farbenblinde 21-jährige stetig zum Essen einlädt.
Sie ist unglaublich freundlich, bei jedem ihrer Geburtstage backt sie ihr einen Kuchen, Schokolade, weil alte Menschen gerne Schokolade essen, sagte die Vermieterin.
Auf den Straßen empfängt sie Kühle, Autogeräusche, Stimmen, so viel auf einmal. Sie schluckt, streich ihre Haare hinter der Brille weg, bedankt sich, dass der Verkehr sie nicht bei jeder Fußgängerampel aufhält und genießt die ungesunde, versüffte Luft, voller Marihuana und Abgasen.
Mit einem Hüftschlag stößt sie die Glastür zu dem kleinen Geschäft auf, entschuldigt sich für die Verspätung, stülpt sich ihr Jacket über und knotet ihre Haare in einen teilweise ordentlichen Dutt, ehe sie mit einem Notizbüchlein durch das Kaffee geistert und so monoton, wie sie ist, Bestellungen annimmt und aufgibt.
Fünf Stunden geht das so, dann hat sie Pause und gönnt sich einen Kürbis-Zimt-Kaffee und eine Bretzel aus der Kuchenvitriene des Cafés. Nach zwei weiteren Stunden darf sie gehen, ein letzter Blick schweift durch das reichlich schlichte, jedoch dunkle Café, ehe sie sich umdreht und das Gebäude verlässt.
Alles ist genau so, wie es immer ist.
Aufstehen, Rauchen, Arbeiten, Fernsehen, Schlafen-Wieder von vorne. An Wochenenden Spätschicht, an Feiertagen arbeitet sie, da sie keine wirklichen nahe Verwandte hat. Da ist zwar ihr Bruder und ihre Eltern, aber bei denen weiß sie nicht mal, wo sie wohnen.
Alles ist gleich. Immer grau, immer kalt und immer dieselben Leute, Abläufe, Tage, Geräusche.
Und wenn sie ganz ehrlich ist - Es stinkt. Es stinkt bis zum Himmel, zum Mond und weiter. Es ist zum Kotzen, wie öde alles ist, die Galle steht ihr bis zum Rachen. Es ist so beschissen, so zu leben.
Mit einem langen Stöhnen kickt sie einige Steine vom Bordstein, zieht die Kapuze tiefer über ihr Haar und drückt auf die "Lauter"-Taste ihres Handys, damit Arctic Monkeys mit "R u mine" ihr die Ohren wegpustet.
"Ätzende Stadt, warum heißt sie Oakland? Sollte Ätzdorf heißen oder Scheißkaff oder so.", sagt sie leise, während ihre Finger die feinen Konturen ihres Feuerzeugs nachziehen. Nervös, hibbelig, wie immer.
"Damals wollte ich unbedingt hier leben, jetzt will ich hier weg. Warum passiert nicht ein einziges Mal was cooles?!" Das nächste Gröhlen, das sie ausstößt, reizt ihren Hals und sie muss Husten, laut und lange. Sie hat keine Raucherstimme, aber sehr sanft klingt sie auch nicht.
Ein Blick auf ihr Handydisplay, als Hintergrund Rin Okumura, ihr Lieblingscharakter. Ihre Mundwinkel ziehen sich für einen Bruchteil einer Sekunde in die Höhe, ehe ihre Augen sich wieder der grauen Ampel widmen. Gut, dass hier so viele ätzende Menschen leben, sonst hätte sie keinen Plan, wann sie gehen kann. Ihre Beine tragen sie weit. Nicht nach Hause, nein, Richtung Salzgeruch und lautem Gekreische.
Auch, wenn es manchmal Routine ist, ist es dennoch angenehm, sich in den Sand zu setzen mit einem kleinen knisterndem Feuer auf morschem, totem Holz.
Wärme umringt ihre Wangen, streichelt ihre Haut sanft.
Beide Augen fokusieren sich auf ihre Finger. Sie sind nicht dick, nicht dünn, nur die Fingernägel leicht angekaut und unordentlich schwarz lackiert. Obwohl sie keine Farben kennt, mag sie schwarz doch gerne. Der kleine Metallring mit dem hübschen Muster, ohne blöde Diamanten oder anderem Krimskrams, der viel zu groß für ihre Finger ist, hängt locker an ihrem Zeigefinger. Immerhin bringt das sie zum Schmunzeln.
Nun widmet sie sich dem Himmel. Alle schwärmen von Abendröte und der schönen Sonne, aber das interessiert sie keineswegs. Ihre Aufmerksamkeit gehört ganz allein der Nacht, mit ihren klaffenden Rachen, wie dunkle Ritter auf edlen, schwarzen Rossen, die die armseligen Sonnenstrahlen einfach auslöschen. Siegesfeuer, kleine Sterne, die Gasriesen, die sie jede Nacht hinterlassen. Ob man Sterne wohl anzünden kann? Ein Daumen streicht über ihr Feuerzeug. Was für eine seltsame Idee, Sterne anzünden.
Nun richtet sie sich wieder auf das kleine Feuer vor ihren Füßen. Manchmal wundert es sie schon, warum sie so fasziniert von Flammen ist.
Allein der Geruch ihres Feuerzeugs simuliert ihre Nase, das grelle Licht von Flammen, die wild tanzen, die gewaltige, zerstörende Kraft, oder vielleicht einfach nur die Hitze? Ein Schulterzucken. "Ist einfach so.", sagt sie immer. "Ist einfach so.", und so wird es wohl auch bleiben, wogegen sie nichts hat.
Das interessante Geräusch, dass ihr Feuerzeug beim Entzünden macht, ertönt, und sie hält das Ende einer Kippe in die kleine Flamme, das andere Ende steckt sie sich zwischen die spröden Lippen. Nicht mal Lippenbalsam der besten Art hilft hier noch, sie beißt sie ja selber ständig so blutig, dass Blutergüße entstehen. Manchmal muss ihre Lippe genäht werden.
Aber so ist das halt, lieber eine kaputte Lippe, als weitere Narben von Schnitten, die sie gar nicht will, aber einfach macht, unterbewusst, als wenn ihr Gott eins auswischen will - oder doch eher Satan? Wer weiß das schon.
Es wird immer dunkler, Lichter erglimmen. Immer mehr Menschen mit Kindern gehen, Liebespaare oder alte Menschen spazieren am Strand entlang.
Sie schaudert, es ist fast gruselig, wie gleich alles abläuft. Vielleicht, ja vielleicht lebt sie ja in einer Art Videospiel? Irgendjemand spielt eine interessante Person, aber sie ist nur ein COM-Spieler, ein NPC. Einer von vielen, nichts besonderes, es existiert nur, um Platz zu füllen.
Vielleicht ist ihr ganzes Leben auch nur ein Traum, in Wahrheit wacht sie jeden Moment auf und ist wer anderes oder etwas anderes, vielleicht ist sie auch nur ein unbedeutender Augenblick, der vorbeizieht und nie wieder kommt, doch als dieser Augenblick fühlt sich das so elendig ewig an. Ja was ist, wenn sie eigentlich nur ein ausgeklügelter Roboter ist, der von Aliens auf die Probe gestellt wird? Klingt ziemlich absurd. Oder ihr Leben läuft wie bei der Trueman Show ab, sie ist in Wahrheit ein Fernsehstar, weiß es aber gar nicht. Dann würde sogar die nette Vermieterin und ihr Boss nur so tun, als wenn sie diese Personen wären! Lächerlich, als ob jemand sich von Tag zu Tag dasselbe ansehen würde, sie ödet sich ja selbst an. Möglicherweise, wahrscheinlich sogar, wahrscheinlich hat sie einfach nur den falschen Weg eingeschlagen und bekommt leider keine Nachricht von MacGyver oder Captain Kirk, dass sie die Auserwählte für eine ganz spezielle Mission ist. Wäre allerdings echt schön gewesen, weil ihr ein Job bei der intergalaktische Republik oder als Geheimagent lieber wäre, als weiter im Café "Un lieu de rencontre" weiter zuarbeiten. Scheiß Französisch, sie hat damals Russisch gewählt und spricht es jetzt fließend - Dabei macht man sich hier in Amerika nur lustig über die Russen. Man kann jetzt nicht mal mehr Piroschki essen, ohne blöd angeguckt zu werden.
Und überhaupt, wer nennt sein Café schon "Treffpunkt"? Ist ja vollkommen bekloppt. Aber ihr Boss, Róselia, ist anscheinend teils spanischer, teils französischer Herkunft. Im Endeffekt kann sie es eh nicht ändern, lieber hätte sie es jedoch "DedSec" genannt, wie diese Hackergruppe aus Watch Dogs. Vielleicht auch einfach "Die dunkle Seite", dann könnte man prima Becher mit Star Wars Aufdruck an Kinder verscheuern. Jedoch, wenn sie mit sowas um die Ecke kommt, würde ihr Boss sie wohmöglich einfach rauswerfen.
Nach einer weiteren Stunde wird es ihr zu kalt, sie steht auf, erlischt das Feuer mit Sand, stülpt sich den Rucksackträger über und wandert wie ein Zombie durch die hochhausbestückte Stadt, an jeder Wand Graffiti, alles voller Neonschrift, die Laternen sind vollkommene Verschwendung. Hundemist, so weit man schauen kann, wenigstens muss sie nicht durch Müll schwimmen, weil hier eine fette Strafe ausgesetzt ist, wenn man Müll in die Umwelt wirft. Deswegen stopfen sich alle ihre Einkäufe in die Hosentaschen - bloß keine Plastiktüte, lieber mit einer Avocado in der Arschtasche der neuen Lieblingsjeans rumlaufen.
Einige Leute knipsen Fotos von den hellen, bunten Neonlichtern. Für die mögen die ja schön aussehen, aber im Endeffekt sind sie nur irritierende, weiße Flecke, also doch lieber Laternen.
Mühselig kramt sie aus ihrer Jackentasche den Schlüsselbund mit einem kleinen Bärenanhänger, der ein Kuhmuster hatte, heraus.
Ein Seufzen. Wieder ist alles genau so, wie es immer ist. Ihr Blick schweift noch ein Mal umher, irgendwas, irgendwas ungewöhnliches ist doch sicher da, etwas ist ihr entgangen!
Schweigend tritt sie ein und schließt die schwere Eisentür hinter sich, den Blick zu Boden gerichtet. Leise stapft sie die Treppe hoch, zu faul, den Aufzugknopf unten im Erdgeschoss zu drücken, an dem seit vier Jahren ein altes Kaugummi klebt.
Schwungvoll scheppert ihre Wohnungstür gegen den Häschen-Türstopper, dann knallt sie zu und das schwache Licht flimmert auf.
Die Tasche wirft sie in eine x-beliebige Ecke, dann landet sie selbst auf dem Sofa. Vorhänge oder Gardienen braucht sie nicht, sie lebt im 14. Stock, da sieht sie eh niemand, und es würde auch eh niemand drauf achten. Lieber hat sie freien Blick auf ganz Oakland, deswegen wollte die auch diese Wohnung, denn die Mauer, die eigentlich in dieser Richtung sich befinden müsste, war durch eine Glaswand ersetzt. Man konnte prima durch diese Fenster jede kleine Ecke sehen.
Ganz schöner Fußmarsch bis in den 14. Stock, kalter Eistee schießt ihren Hals hinunter. Im Badezimmer wiegt sie sich, schon wieder ein Kilo weniger. Hungergefühl kennt sie nicht, ihr Arzt macht sich deutliche Sorgen, doch für sie ist alles taub und monoton, warum zunehmen? Für wen sollte sie schon schön aussehen.
Sie steigt auf den Balkon, ihr Feuerzeug in der linken Hand, mit rechts greift sie in ihre Hosentasche.
Etwas in ihrem Augenwinkel weckt ihre reflexartige Aufmerksamkeit, sie dreht ihren Kopf. Ein kleiner Schmetterling fliegt vorbei, ganz grau, der eine Flügel total kaputt. Im Herbst fliegen doch keine Schmetterlinge? Sie stutzt. Dann grinst sie, wie es lang nicht tat, dabei reißt ihre trockene Lippe leicht ein.
Die Menschen, die Geräusche, die Straßen und Lichter und Autos und Läden, die ganze Stadt ist erbärmlich und totlangweilig.
Aber dieser seltsame, verkommene Schmetterling, bringt sie mit seinem albernem, armseligem Geflatter dazu, ihr Feuerzeug beiseite zu legen, sich auf den alten Plastikstuh zu bequemen und einfach nur mit einem stummen Grinsen auf die Stadt hinunter zu blicken. Dieser eine Moment, nach Ewigkeiten, den sie sich so lange ersehnte - sie genießt ihn, sie genießt ihn in vollen Zügen.