Monika und die andere Seite
Mit jedem verstreichenden Moment schneller werdend, streckte er sich seinem Schicksal entgegen. Das Licht der von den Wolken in eine trübe milchige Scheibe verwandelten Sonne durchfuhr ihn und bildete in seiner Nähe ein buntes Spektrum von Farben, auf einer von der Zeit gezeichneten Mauer. Der frische Duft eines Winterregenschauers lag in der Umgebung und irgendwie fühlte er, daß seine Existenz, und allein schon der Gedanke daran, von ihm gedacht, etwas damit zu tun haben mußte. Der sanfte Wind, dessen Anwesenheit einige wenige Bäume in der Umgebung dazu brachte sich zu bewegen, frischte auf und wand sich, sich von den Bäumen abwendend, nun an der Fassade entlang kriechend an ihm vorbei.
Mit der Macht eines Orkans spürte er ihn an seinem kleinen feuchten Körper zerren, fühlte die Gewalt dieser unbarmherzigen winterlichen Brise und wußte, daß sein Weg nun endgültig ein Ende gefunden hatte.
Gemächlich, beinahe zäh, wie immer um diese Uhrzeit, fielen die orangenen Strahlen der momentan etwas trüben Abendsonne, vorbei an einem verblüfften fallenden feuchten Regentropfen ungehindert durch die gläserne Balkontür in das recht modern eingerichtete sechseckige Zimmer und schafften es einmal mehr, die gesamte Atmosphäre der ansonsten sterilen Einrichtung ein wenig aufzuwärmen. Die Bilder an der Wand taten ihr übriges und obwohl sie auf den ersten Blick etwas befremdlich wirkten, schienen sie sich dennoch prächtig in die Gesamtheit des Raumes einzufügen. Zur linken und rechten Seite der durchsichtigen und offensichtlich oft genutzten Balkontür prangten gewaltige Landschaftsmalereien, welche zum einen durch ihre alleinige Größe und zum anderen durch die Darstellung idyllischer Seen und Berge, Gräser und Kühe, toter Schafe und einer Ansammlung eifriger aber ratloser Hirten mit ihren braven glücklichen Schäferhunden am Fuße eines saftigen grünen Hügels wohl versuchten, über die ansonsten monotone und erschreckend karge Großstadtlandschaft außerhalb der Wohnung, in der sie hingen, hinwegzutäuschen.
Wiederum zur linken und rechten Seite dieser beiden monströsen Bilder hingen ein Kalender, eine enorm modern und enorm kalt wirkende Uhr sowie einige kleinere Poster eines Reisebüros, bei denen man zumeist mindestens zwei Blicke riskieren mußte, um zu erkennen, daß es sich um Werbung für eine Mittelmeerinsel und nicht um die detaillierte pornographische Abbildung des gebräunten Hinterteils sowie der gebräunten Brüste und der ebenso braunen Haare einer insgesamt sehr gebräunt wirkenden jungen braunen Frau handelte.
Jener der Balkontür gegenüberliegende Teil des Raumes beherbergte, ganz im Gegensatz zur übrigen Einrichtung, lediglich vier Lichtschalter und eine nicht durchsichtige geschlossene Tür mit der Aufschrift <Ausgang>.
Darunter hing ein altes, mittels eines Teleskops aufgenommenes Foto einer schmucklosen Ansammlung von Gasen und Nebeln im Universum, dessen Mittelpunkt ein ebenso schmuckloser weißer Stern bildete.
An den Wänden entlang waren Schränke und ähnliche Gebilde aufgereiht, die mit allen möglichen Gerätschaften zugestellt waren, Päckchen und Tüten, Plastikröhrchen und sowohl längliche als auch kurze Metallgegenstände in den merkwürdigsten Formen teilten sich den spärlichen Platz taktisch günstig untereinander auf.
In der Mitte des Raumes stand, fest arretiert wie eine Burg auf einem hohen und besonders schwer zu erklimmenden Berg, ein gewaltiger höhenverstellbarer, in alle Richtung schwenk- und drehbarer, gepolsterter, mit vielen Kabeln und Strippen verunzierter, definitiv nicht einladend wirkender Liegestuhl, der allem in diesem Zimmer ein wenig reizvolles zahnärztliches Flair verlieh, das sogar die Werbeposter des Reisebüros nicht aufzuwiegen im Stande waren.
Die gesamte sterile Einrichtung war in den neuzeitlichen Trendfarben grau, weiß und blau gehalten und mußte auf jeden Patienten augenblicklich abstoßend, wenn nicht zumindest deprimierend wirken.
Und genauso wollte Monika sich momentan auch fühlen. Sie saß zusammen mit einem Bild und einem Brief ihres Mannes in der linken und einem der größeren, gefährlicheren vibrierenden Bohrer in der Rechten auf besagtem Stuhl und starrte völlig abgestoßen, deprimiert und paralysiert auf eine kleine glückliche Stubenfliege an der Wand. Vor knapp einer Stunde war sie aus dem Urlaub zurückgekehrt, und ihre prall gefüllten Koffer standen noch immer draußen im Wartesaal ihrer Gemeinschaftspraxis. Doch irgendwie wurde sie dieses bedrückende Gefühl nicht los, daß sie innerhalb der nächsten Zeit überhaupt nicht die Lust verspüren würde sie auszupacken. Momentan verspürte sie eigentlich gar nichts. Nur eine ziellose, beklemmende Leere, die ihr die Luft rauben wollte und eine langsam in ihr aufsteigende Wut den hunderten wahrscheinlich hämischen Blicken der Fliege gegenüber.
Ein paar Fragen flogen gelangweilt durch ihren Kopf, auf der Suche nach einem Platz, an dem sie sich niederlassen konnten, um ihrer Bestimmung nachzugehen. Wo zum Teufel hatte sie die Fliegenklatsche hingelegt?
Sekunden gingen dahin, pirschten sich an ihr vorbei wie es große gestreifte Tiger auf der Jagd im dichten Gewühl des Urwalds immer so frappierend drauf haben, und vereinigten sich letztlich mühsam zu Minuten. Jedes einzelne Ticken der Uhr in der sterilen trockenen Stille des Raumes wurde zu einem dumpfen Dröhnen, scheinbar synchron mit dem ermatteten Schlag ihres gebrochenen Herzens. Und dann wurde das Ticken schneller.
Sie ertappte sich dabei, wie sie im Gedanken die Wahrscheinlichkeit überflogen hatte, die kleine summende Stubenfliege mit dem Bohrer in ihrer rechten Hand tödlich zu verwunden und zwang sich dazu, sowohl ihren irren, eigentlich eher zu Psychopathen passenden, Blick abzulegen und gleichzeitig ihre Atmung auf ein akzeptables und nicht Hyperventilation ähnelndes Niveau herab zu regulieren. Dann setzte sie sich wieder auf den Stuhl und nahm einen zweiten Bohrer aus der Bohrerhalterung an der rechten Seite ihres Luxus High-End-Spezial-Ultra-Komfort Zahnarztsessels und genoß die beruhigende Wirkung der Vibrationen in ihren Händen.
Sie stellte sich vor, wie ihr Mann dreinschauen würde, wenn sie ihm diese beiden kleinen nützlichen Kariesbekämpfungsutensilien in die Ohren stecken und möglichst weit hinein schlagen würde und mußte bei diesem Gedanken unwillkürlich grinsen. Dann streifte ihr Blick den Brief, und das Grinsen verschwand zusammen mit dem orangenen Licht im Zimmer, da sich einige dunkle Wolken gerade in dem Moment überlegt hatten, daß sie wohl Freude dabei empfänden, wenn sie sich erneut vor die Sonne schieben und Monikas Gemütsstimmung mit ein wenig düsterer Atmosphäre untermalen würden.
Gleichzeitig ertönten Trommeln in ihrem Kopf, ein aggressiver Rhythmus vermischte sich mir der allgemeinen Umgebung und formte ein ihrem Geisteszustand entsprechendes Bild. Das sanfte Orange der mittlerweile nur noch spärlich in den Raum dringenden, durch die vorbeiziehenden Wolken scheinbar pulsierenden Lichtstrahlen, glich, gepaart mit den Schatten an den Wänden, dem eines Feuers und die Schläge in ihrem Kopf spielten ein martialisches Lied der Unabänderlichkeit.
Ihr Kopf nickte von einer Seite zur anderen, und gelegentlich schlug sie mit seiner Rückseite an die weiche anschmiegsame Polsterung ihres Hightechsessels; ihre Augen blickten starr auf die Fliege an der Wand ihr gegenüber.
Jene betrachtete sich dieses seltsame Schauspiel bereits seit geraumer Zeit und fand es im Großen und Ganzen sehr merkwürdig, langweilig und nicht sonderlich vielversprechend, was die Chancen betraf, von diesem Ding auf diesem Ding, das all diese Dinge in ihren Dingern hielt, Nahrung zu erhalten. Ihre Hoffnung, die zu Anfang durchaus noch vorhanden gewesen war, hatte mittlerweile dieselben Ausmaße angenommen, die auch ihre Taille auszeichneten und sie beschloß, daß nun Zeit war, sich eine andere Umgebung zum Leben zu suchen, weswegen sie sich von der Wand abstieß und auf und davon in Richtung der Balkontür flog, auf welcher sie bösartig aufschlug um danach langsam an der gläsernen Fläche hinab in Richtung des Bodens zu rutschen.
Monika, die die Fliege nicht einen Augenblick aus den Augen gelassen hatte, wähnte ihren großen Moment gekommen, sprang auf und eilte glücklich irre lachend mit den beiden Bohrern in ihren Händen auf die verunglückte Fliege zu, um ihr kurz darauf die beiden auf Hochtouren laufenden Diamanten, in den falschen Händen gefährliche Zahnarztutensilien, in den kleinen weichen und absolut nicht für solche Aktionen geeigneten Körper zu bohren.
Zu ihrem Glück bemerkte die Fliege dies und war im Stande, sich im letzten Moment noch mit einer Rolle nach links und einem Sprung zurück an die Balkontür aus dem Gefahrenbereich der Killerbohrer zu retten, wo sie sich kurz ausruhen konnte, um zum einen festzustellen, daß sie fürchterliche Kopfschmerzen hatte und zum anderen, daß die Sache wohl doch noch nicht ganz ausgestanden war. Panik erfaßte sie.
Monika hatte für einen Augenblick die Orientierung und mit ihr die Fliege verloren und suchte gerade fieberhaft nach ihr, als sie ein jämmerliches klagendes Summen aus Richtung der Balkontür zu hören glaubte. Langsam drehte sie ihren Kopf nach rechts und mußte die Augen ein wenig zusammenkneifen, da genau in dem Moment ein Sonnenstrahl den Weg in selbige gefunden hatte. Der Fliege schien es nicht besonders gut zu gehen, vielleicht Kopfschmerzen, mutmaßte Monika. Ihr eben der leichten Verwirrung gewichenes irres Grinsen kehrte wieder an seinen angestammten Platz zurück und der Kampf war wieder eröffnet. Mit einer geschickten Rolle vorwärts, einem zünftigen zum Anlaß passenden Schrei und einem kräftigen Stoß ihrer linken Hand kam sie nah genug an die sich unwohl fühlende Fliege heran und verfehlte sie mit dem Bohrer nur um Haaresbreite, weil das schlauchähnliche Gebilde, das mit ihrem Bohrer verbunden war und ihn zu dem momentanen Mordinstrument Nummer Eins für Monika machte, um eben jene Haaresbreite zu kurz war. Doch schnellte bereits die Rechte Hand der Linken zur Hilfe herbei und hätte die Fliege auch mit Gewißheit aus dem irdischen Dasein entfernt, wenn ihr nicht in genau dem Augenblick die Kräfte ausgegangen und sie von der Balkontür herabgefallen wäre.
Ein kleiner Riß verteilte sich kunstvoll auf der Scheibe, und die durch ihn dringenden Sonnenstrahlen bildeten ein eigentümlich feierliches Muster ausgerechnet um den Ort herum, den sich die Fliege für ihren kaum mehr kontrollierbaren Fall und die dann zwangsläufig folgende Landung ausgesucht hatte. Einige Staubkörner umspielten sie.
Eine Orgel ertönte im Kopf der kleinen, mittlerweile recht übel zugerichteten Fliege, Harfen und leise Flöten gesellten sich dazu und bereiteten ihr mit ihrer sanften Melodie, den sanften Rhythmen einer weit entfernten Trommel und dem Gesang einiger um sie herum schwebender, gleißender Gestalten noch mehr Kopfscherzen.
Irgendwie, dachte sie sich, kann das doch nicht alles gewesen sein. Sie hatte ihrem Mann und ihrer Frau noch so viel zu sagen. Und erst ihren Kinder. Dann begann sich alles um sie herum zu drehen. Die Welt raste in einem wahnsinnigen Tempo an ihr vorbei und sie schoß geradewegs auf einen Haufen kleiner und großer Sterne zu. In der Mitte wurde ein kleiner, weißer Fleck immer größer, bis er plötzlich ihr gesamtes Sichtfeld einnahm. Dann wurde es still und die allumfassende Dunkelheit schloß sie in ihre Arme.
Monika konnte der Flugbahn der von ihr auf den laufenden Bohrer gespießten, aber bereits kurze Zeit darauf davon entglittenen Fliege gerade soweit folgen, daß sie wußte, daß das kleine Mistvieh irgendwo in der Nähe dieses hübschen Fotos eines der westlichen Spiralarme unserer Galaxis, das den größten Teil der Eingangstür einnahm, aufgeschlagen war und spätestens in diesem Moment, wenn nicht bereits durch ihre fachkundige Behandlung mit dem Bohrer, endlich und endgültig das Zeitliche gesegnet hatte.
Monika war für einen kurzen Moment glücklich.
Sie setzte sich auf den Boden, machte die Bohrer aus, legte den Kopf in die Hände und starrte einige Zeit lang auf den Teppich, bevor ihr Rücken sich langsam zuckend zu bewegen begann und ein Schluchzen zu hören war.
Monika schluchzte. Sie schluchzte nicht der Fliege wegen, sie schluchzte auch nicht wegen des Splitters, den sie sich während des Kampfes in die linke Hand gerammt hatte, sie schluchzte des Briefes ihres Mannes und dieser unbändigen Grausamkeit ihrer Umwelt wegen, der sie völlig machtlos gegenüberstand und die alles in ihrem Leben und mit ihrem Leben sie zu zerreißen drohte. Sie schluchzte, weil sie nicht weiter wußte. Sie schluchzte, weil dies das erste Mal in ihrem Leben war, daß dem so war und sie schluchzte, weil sie niemanden hatte, der ihr helfen konnte. Eine der beiden Personen, zu denen sie in den letzten Jahren genug Vertrauen aufgebaut hatte, um in Zeiten der bitteren Not Hilfe und Trost bei ihr suchen und finden zu können, war nicht erreichbar, da diese wahrscheinlich wie üblich ihr Mobiltelefon entweder verlegt oder zumindest nicht angeschaltet hatte. Und die andere Person bildete den Grund dafür, daß sie nun überhaupt Hilfe brauchte. Sie mußte erneut schluchzen.
Und mit dem letzten Schluchzer legte sich eine sanfte Andeutung eines dünnen feuchten Films auf ihren Augen nieder, die daraufhin nicht nur ihre Umwelt auf eine sehr eigentümliche Weise widerspiegelten, sondern auch ihr Blickfeld ein wenig ins Wanken brachten. Der Raum um sie herum schien sich zu bewegen und zu teilen, wobei er den Rhythmus der Melodie in Monikas Kopf, welche nirgendwo einen Ursprung zu haben schien, als Grundlage seiner Bewegungen auserkoren hatte. Kurz darauf wurde ihr schlecht, sie mußte sich nach vorne beugen und ihre Augen schließen, um nicht auf den hübschen blauen Teppich zu brechen. Das wollte sie ihrer Putzfrau nach ihrem üppigen Mahl vor ihrer Abreise am Flughafen des gestrigen Morgens nicht unbedingt antun.
Sie versuchte sich daran zu erinnern, was genau sie eigentlich gegessen hatte, daß sie nun der Meinung war sie dürfe nicht auf ihren eigenen Teppich kotzen, wenn ihr danach war.
Es hatte länglich ausgesehen, aber erst auf den zweiten Blick, weil es auf den ersten unter dem ganzen anderen Salat und Reis ähnlichen Zeug, das sich mit ihm den Platz auf dem Teller teilte, nur schwer zu erkennen war. Irgendwie seltsam war es auch; mit kleinen runden Kringeln an beiden Seiten, und als sie es in die Hände genommen und lang gezogen hatte, mußte sie amüsiert feststellen, daß sie den Fettgehalt des Essens offenbar unterschätzt haben mußte. Das längliche, seltsame Ding, mit den kleinen runden Kringeln an beiden Seiten, war ihr aus der Hand geschossen und auf der anderen Seite des Restaurants an die Scheibe geklatscht, wo es eine Fliege erschlagen und ein Kind erschreckt hatte, das daraufhin anfing zu weinen. Diese Reaktion war für Monika nun wirklich völlig unverständlich gewesen. Für gewöhnlich zählte sie das Werfen von Nahrung in Restaurants zu den Dingen, die Kindern im Allgemeinen große Freude bereiten.
Sie hatte das Kind daraufhin nicht gemocht.
Kinder, die aus ihrer ihnen gesellschaftlich diktierten Rolle fielen, indem sie nicht mit Essen warfen oder sich über geworfenes Essen freuten, sittsam aufwuchsen, jahrelang in die Schule gingen, um studieren zu dürfen, danach eine unbestimmte Zeit lang arbeiteten und so die Grundlage für ein intaktes Familienleben schufen, sich nicht spätestens zum selben Zeitpunkt in ihren ihnen vom Schicksal bestimmten perfekten und eindeutig richtigen Lebenspartner verliebten, diesen nach mindestens dreijähriger Partnerschaft heirateten, um mit ihrem ihnen bis an ihr Lebensende Anvertrauten mindestens eins, besser aber noch, der Verkehrslage und der Rente wegen, zur Sicherheit zwei Kinder zu zeugen, diese im Idealfall sechzehn bis neunzehn Jahre lang durchzufüttern und mittels Fernseher auf die Konsumgesellschaft vorzubereiten, nach Ablauf dieser Zeitspanne die erwachsenen Kinder in eben diese Konsumgesellschaft entließen, wo sie nicht nur den selben Weg wie ihre Eltern würden bestreiten können, sondern auch wiederum ihren Sprößlingen eine solche Lebensgestaltung ans Herz zu legen im Stande waren, dann in die wohlverdiente Rente gingen und nach einer Lebensdauer von mindestens fünfundsechzig, jedoch nicht mehr als achtzig Jahren nach ihren eigenen Eltern das Zeitliche segneten, waren Monika suspekt, und sie beobachtete sie immer mit einem gewissen Argwohn.
Nein, sie hatte das Kind nicht gemocht.
Und sie hatte die Mutter dieses Kindes nicht gemocht, weil sie es zuließ, daß ihr Kind auf eine derartig offensichtliche Art und Weise degenerierte.
Monikas Blick klärte sich für einen Augenblick und enthüllte wieder das Behandlungszimmer, nur um sich im nächsten Moment erneut zu verschleiern.
Eine kleine Träne machte sich auf den Weg, vorbei an ihrer Nase, hinab an der Wange zu ihren Lippen.
Dort ruhte sie sich erst einmal aus.
Bilder von ihren eigenen Kindern hüpften fröhlich in ihrem Kopf herum.
Die Silhouetten ihrer Schatten jedoch deckten sich nicht mit Monikas Idealbild von einem richtig lieben, aufrichtigen, vor allem aber gesellschaftskonformen Kind und obwohl sie ihre Kinder trotzdem liebte, war sie auf einmal dieser Tatsache wegen auf das tiefste erschüttert und bestürzt.
Ihre Unterlippe erbebte in einem Anfall von Emotionen, und die kleine Träne konnte sich nicht mehr halten. Sie fiel nach unten, auf den sterilen, kalten blauen Teppich. Ein Stückchen Liebe und Verzweiflung an einem Ort, an dem ansonsten nichts außer klinischer Sauberkeit zu finden war. Als die kleine Träne aufschlug und ihre Liebe und Verzweiflung ein winziges Stück des blauen Teppichs benetzten, schwang auch ein wenig Freude in diesen Gefühlen mit. Denn die kleine Träne wußte, daß die blinkenden und blitzenden, mal orangenen und dann mal wieder in allen Farben der Welt leuchtenden Geschöpfe, die ihr von Monikas Gesicht aus folgten, ihre Freunde waren. Das Gefühl der Freude der kleinen Träne überwältigte den sterilen, klinisch sauberen, blauen Teppich und zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich und wahrhaftig glücklich.
Monika war in diesem Moment des sterilen Glücks gerade dabei, in Tränen auszubrechen, und tatsächlich ergossen sich Sekunden später wasserfallartige Sturzbäche der Trauer über ihr Gesicht, flossen an ihren Händen hinab auf ihre Hose und dann auf den Boden.
Der Teppich versuchte vor Freude zu hüpfen, was ihm leidlich gelang und nur zur Folge hatte, daß sich eine kleine Welle in der Nähe der Balkontür bildete.
Die Erinnerungen an ihre Kinder und Bilder von der glücklichen Zeit, als Monikas Leben noch in gewohnten Bahnen verlief, weitab von jeglicher Anormalität, hatten mittlerweile ihr Gehirn völlig eingenommen. Zusammen mit den Kopfschmerzen, die von der seltsam drückenden Schwüle in dem Raum noch zusätzlich verstärkt wurden, veranstalteten sie eine gewaltige und zu allem Übel schlechte Kirmes in ihrem schmerzenden Kopf und versuchten damit offenbar, ihr den letzten Rest zu geben. Das Karussell vollführte die seltsamsten Drehbewegungen, die Monikas Körper, wie sie verwundert feststellte, nach einiger Zeit bravourös nachzuahmen im Stande war und sie ertappte sich in einem Moment in dem das Karussell langsamer fuhr, daß sie fröhlich im Behandlungszimmer umhertanzte und hüpfte, wobei ihre Tränen, die trotz allem ungebremst über ihr Gesicht strömten, sich in allen Richtungen auf den Möbeln verteilten und, wenn sie auf den Boden fielen, den Teppich zu ungeahnten Freudenexzessen verleiteten. Er stöhnte leise auf, was nur von einigen wenigen Staukörnern bemerkt wurde, die das ganze Geschehen ansonsten relativ teilnahmslos beobachteten und sich statt dessen über die generellen Eigenschaften von etwaigen Ähnlichkeiten und Beziehungen zwischen Böden und Decken unterhielten.
Monika zwang ihren Körper das Karussell fahren einzustellen und wischte sich mit ihrem Arm über ihr Gesicht.
Ihr Blick war auf das Bild ihres Mannes gefallen, das sie zusammen mit ihm und ihren Kinder auf dem Weihnachtsfest vor zwei Monaten zeigte. Alle Personen auf dem Bild lächelten, sogar die Fremden im Hintergrund, nur Monika schien damals nicht sonderlich glücklich gewesen zu sein. An diesem Abend hatte sie vom Karussell aus ihren Sohn erblickt, der Hand in Hand mit dem Hausmeister des Hauses, in dem sie ihre Gemeinschaftspraxis hatten, über das Fest schlenderte und ihm von Zeit zu Zeit einen mal innigen, mal weniger innigen Kuß gab. Ihr war damals nicht nur ihre Tasche aus der Hand gefallen und hatte einen am Boden stehenden Mann leicht verletzt, sondern auch furchtbar schlecht geworden, was dazu führte, daß ganz viele Leute das Fest frühzeitig verlassen mußten, weil sie über und über mit Monikas Abendessen verziert waren. Trotz der lauten Proteste der Betroffenen war sie, nachdem das Karussell angehalten hatte, geradewegs auf ihren Sohn zugelaufen, hatte ihn vom Hausmeister getrennt und ihrer mißratenen Leibesfrucht eine schallende Ohrfeige verpaßt.
Völlig entsetzt starrte sie ihn an, ihr Unterlippe bebte und offenbarte die Wut, die sie innerlich empfand, sie wollte einfach nicht glauben, was sie eben gesehen hatte, und so schlug sie ihn noch einmal, nur zur Sicherheit um sich davon zu überzeugen, daß das Ganze nicht nur ein böser Traum war.
Ihr Sohn schaute irgendwie milde und verständnisvoll. Dann ergriff der Mißratene die Hand des Hausmeisters erneut, was ihm eine weitere Ohrfeige einhandelte. Der Hausmeister hatte sich zunächst von dem Spektakel entfernt und unter die sie umstehende Menge Bekotzter und nicht Bekotzter gemischt, wollte aber beim Anblick dieser Brutalität offensichtlich dazwischen gehen, was Monikas Mann jedoch verhinderte, indem er sich ihm in den Weg stellte und laut sagte, daß ausgerechnet er eine der wenigen Personen wäre, die im Moment definitiv Fehl am Platz in diesem Konflikt zwischen Mutter und Sohn seien. Monika hörte die altvertraute Stimme der Vernunft ihres Mannes und blickte wieder ihren mißratenen Sohn an.
Dann schüttelte sie verzweifelt den Kopf, die Geräusche um sie herum verstummten allmählich und ein eigentümliches Kribbeln stieg an ihrem Hals zu ihrem Kopf empor, ihre Schläfen pochten und sie verlor das Bewußtsein. Nicht gesellschaftskonform, war ihr letzter Gendanke gewesen, bevor sie den kalten, vom zertretenen Schnee völlig nassen und matschigen Boden kennenlernte, und eine halbe Stunde später in einem kuschelig warmen Zelt aufwachte. Das erste, was sie sah, war ihr Mann, das erste, was sie spürte, war die Hand ihres Mannes auf der ihren, das erste was sie roch, war der liebliche Duft einer schönen heißen Tasse Kaffee, das erste, was sie dachte, war, daß ihr irgend etwas nicht gefiel, und das erste, was sie sagte, als sie endlich wußte, was genau dieses Etwas war, war ein „Nein“, während dessen sie ungläubig den Kopf schüttelte und ebenso ungläubig schief grinste. Sie ergriff die Hand ihres Mannes. Dann wieder ein „Nein“. Das Gesicht ihres Mannes jedoch zeigte ein deutliches „Doch“. Er nickte bedauernd wissend, mit zusammengekniffenen Lippen und hochgezogenen Augenbrauen. Dann quiekte er vor Schmerzen auf, da Monika ihm ihre Fingernägel in die Hand gerammt hatte und anfing zu weinen. Immer wieder fragte sie ihn, was er wohl falsch gemacht hätte, sagte, daß das unmöglich sei und hoffte inständig, daß es Mittel zur Bekämpfung dieser Krankheit gäbe. Während der ganzen Zeit, die sie benötigte, um sich zu beruhigen, sagte ihr Mann nichts, schaute sie nur traurig an und blutete langsam und geduldig vor sich hin.
Eine Stunde später hatte Monika sich wieder gefangen und begonnen, wie ein vernünftiger Mensch zu denken, sie hatte Hunger bekommen und eine Brezel gegessen, während die Hand ihres Mannes verbunden worden war. Ihr Blick streifte im Zelt umher, fiel auf leere Kaffeetassen, Verbandskästen, die blutige Liege, auf der nun ihr Mann lag, einige Krankenschwestern oder zumindest Leute, die offensichtlich Ahnung von Erster Hilfe hatten, und zuletzt auf den Ausgang, hinter dem das Bunte Treiben des Weihnachtlichen Festes seinen gewohnten Gang nahm.
Nachdem die Hand ihres Mann endlich in einem dicken weißen Verband steckte, auf den eine der Schwestern liebevoll ‘Fröhliche Weihnachten’ geschrieben hatte, begaben die beiden sich wieder nach draußen und schlenderten wieder über das Fest. Monika tat so, als sei nichts gewesen. Sie amüsierte sich scheinbar wie zuvor, lachte, trank jede Menge Glühwein, lachte danach noch mehr, blödelte mit ihrem Mann herum, dem ihr Verhalten reichlich merkwürdig vorkam, und beschloß, noch einmal Karussell fahren zu gehen. Nach zermürbenden Gesprächen mit dem Betreiber der Attraktion wurde es ihr gestattet, trotz ihres ungebührlichen Verhaltens drei Stunden zuvor eine weitere Fahrt zu machen, jedoch zum vierfachen Preis.
Sie setzte sich mit dem üblichen erwartungsvollen Kribbeln im Bauch auf den Stuhl, schloß den Sicherheitsbügel und wartete. Sie lächelte ihrem Mann zu, winkte und lachte, als dieser eine Grimasse schnitt, fröhlich auf. Sie winkte dem Mann am Hebel zu, der das Karussell in Gang setzte, welcher daraufhin entschlossen und genervt in die andere Richtung schaute, und genoß den Luftzug um sich herum, als das Gefährt an Geschwindigkeit und ihr Stuhl immer mehr an Höhe gewann. Die Welt um sie herum drehte sich auf eine wundersame, schöne Weise; all die Lichter um sie herum vereinten sich zu einem durchgehenden bunten Streifen, der sie zu umgeben schien, aus dem nur hin und wieder ihr Mann, wenn sie gerade an ihm vorbei raste, hervor schaute, die Musik aus den dezent im Karussell versteckten Boxen, machte, so fröhlich und weihnachtlich wie sie war, Monika irgendwie glücklich und ein klein wenig sentimental, sie schaute in den klaren Nachthimmel und vergab ihrem Sohn, sie so enttäuscht zu haben. Es war doch Weihnachten. Sie erinnerte sich noch genau daran, daß sie in diesem Moment darüber nachgedacht hatte, warum es ihr nicht von vornherein seltsam vorgekommen war, daß ihr Sohn bis hin zu seinem siebzehnten Lebensjahr, in dem er sich nun befand, nie eine intakte, länger als drei Wochen dauernde, Beziehung mit einem Mädchen geführt hatte, und daß er diese seltsamen Heftchen in seinem Zimmer unter dem Bett versteckte, in denen nackte Männer abgebildet waren, und mit seinen Freunden zusammen ab und an merkwürdige Dinge mit den alten Puppen seiner Schwester veranstaltete. Sie hatte damals, als sie die Hefte fand, ihre Tochter zur Rede gestellt und jene hatte auch bereitwillig gestanden. Vielleicht etwas zu bereitwillig, wie Monika nun feststellte. Aber es hätte ihr klar sein müssen, die beiden waren ein Herz und eine Seele, die perfekten Geschwister. Sie hatten zwar ab und an kleine Streitigkeiten, aber ansonsten waren sie so richtig gesellschaftskonform. Sie hätte wissen müssen, daß sie ihn decken würde. Wie hatte sie, als aufgeklärte intelligente Frau des zwanzigsten Jahrhunderts, dermaßen blind sein können?
Das Karussell drehte sich weiter, aus dem bunten Reigen der Lichter um sie herum konnte sie ihren Mann nicht mehr entdecken, und so langsam bemerkte sie, daß der Wind um sie herum doch recht kalt war. Sie zog ihre Jacke enger zusammen und hielt sie am oberen Ende mit einer Hand fest geschlossen. Dann sah sie ihre Tochter am gegenüberliegenden Stand stehen, sie schien auf etwas zu warten. Dann sah sie ihren Mann weiter rechts an einem Schießstand, noch weiter rechts ihren Sohn mit dem Hausmeister. Die beiden standen vor dem Karussell und rauchten. Noch weiter rechts sah sie einen der von ihr Bekotzten auf der Straße. Hand in Hand schlenderte er mit seiner Frau in Richtung einer Losbude. Wieder weiter rechts sah sie erneut ihre Tochter, die von Monikas Arzthelferin einen einladend dampfenden Glühwein in die Hand gedrückt bekam. Nachdem das Karussell wieder eine viertel Drehung vollführt hatte, erblickte sie ihren Mann, wild gestikulierend auf die beiden zurennen, dann sah sie wieder ihren Sohn, dann den schmutzigen Mann, der fast aus ihrem Blickfeld verschwunden war, dann ihre Tochter, die den Glühwein weggestellt und statt dessen ihrer Arzthelferin im wahrsten Sinne des Wortes, die Zunge in den Hals zu stecken schien. Monikas Lächeln wich einem dumpfen und leicht verwirrten Blick. Ihr wurde übel, doch das Fluchen der unter ihr sitzenden Leute bekam sie nicht mehr mit. Sie erwachte bei sich zu Hause, und das erste was sie fühlte, war die Hand ihres Mannes auf der ihren.
Das war der Moment gewesen, an dem sie beschlossen hatte, daß sie einen längeren Urlaub brauchen würde.
Am nächsten Tag hatte sie sich in ein Flugzeug gesetzt und war verschwunden.
Jetzt, wo Monika da stand und von oben herab auf das Foto starrte, fiel ihr zum ersten Mal auf, daß sie auch ihre Jacke getroffen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann dieses Foto gemacht worden war, aber der ganze Abend war ihr wie ein Alptraum vorgekommen. So wie der heutige Tag.
Monika ging zur Balkontür und öffnete sie auffällig langsam. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, die Zeiger der Uhr im Inneren des Raumes waren weiter gewandert, und die Natur draußen hatte sich ihrem Diktat gebeugt, der Abend war hereingebrochen. Ein sanfter, leichter Nieselregen sorgte für eine entspannte Atmosphäre während sie dem Geländer immer näher kam. Sie schaute nach unten, auf den nassen Asphalt der Straße vier Stockwerke unter ihr, und ihre Hände griffen wie von selbst an den kalten Stahl, der sie davon abhielt, fünfzehn Meter tief zu fallen. Monika schloß ihre Augen. Ihr rechtes Bein hob sich und überstieg das Geländer gerade, als ihr Mobiltelefon ihre Suizidbemühungen jäh unterbrach. Ihre Konzentration fiel auf den enervierenden Signalton des Handys, und mit einem Mal war sie sich plötzlich bewußt, was sie zu tun vorgehabt hatte. Sie schauderte, und Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, während sie das piepsende Handy aus ihrer Tasche holte, wieder in das Zimmer trat und die Tür hinter sich schloß. Der Teppich war froh darüber. Ihm war kalt und bei dem Gedanken daran, daß im Falle dessen, daß Monika sich wirklich vom Balkon gestürzt hätte, die Tür noch viel länger offen geblieben wäre, wurde ihm noch kälter, und er genoß ihre schweren Schritte auf dem Weg zum Behandlungssessel wesentlich intensiver als gewöhnlich. Monika setzte sich hin, atmete schwer ein und drückte auf einen kleinen grünen Knopf. Am anderen Ende hörte sie zu ihrer Erleichterung die Stimme ihrer besten Freundin, die ihr sagte, Monikas Mann hätte sie gebeten, doch einmal bei ihr vorbeizufahren, da sie eventuell etwas seelischen Beistand gebrauchen könnte, und sie sei bereits auf dem Weg. Monika atmete erleichtert aus.
Sie versank völlig in ihrem ergonomisch geformten Sessel und starrte aus dem Fenster während sie wartete. Das Ticken der Uhr an der Wand wurde erneut widerlich laut, verblaßte jedoch schnell, als sie, eingelullt vom dem monotonem Rhythmus, einschlief. Ein Rütteln an ihrem Oberschenkel riß sie aus ihrem traumlosen Schlaf, und schlagartig wurde sie sich ihrer immensen Kopfschmerzen bewußt. Ihre Freundin saß auf einem Stuhl ihr gegenüber und rieb ihr beruhigend den Oberschenkel, während tröstende Worte aus ihrem Mund flossen. An die Tür gelehnt stand ihre pummelige Putzfrau, bewaffnet mit diversen Putzutensilien, die gut sortiert in einem mittelgroßen Wagen lagen oder standen; in der linken Hand hielt sie einen Besen, in der rechten ein völlig verdrecktes Taschentuch, das allem Anschein nach bereits öfter von ihr benutzt worden war und weiterhin den Schluß nahe legte, die rüstige Dame würde nicht sonderlich viel von Hygiene am eigenen Körper halten. Monika wandte ihren Blick angeekelt von ihrer Putzfrau weg und schaute ihrer Freundin ins Gesicht. Wärme strahlte ihr entgegen, Verständnis und Anteilnahme. Sie schaute auf den Brief in ihrer Hand, mußte jedoch feststellen, daß sie ihn nicht mehr in der Hand hielt. „Hast du den Brief und das Foto hier irgendwo gefunden“, fragte sie Lea und hob ihre Hand an ihre Schläfe, um sie zu massieren. Dann richtete sie sich auf.
„Ja, habe ich. Da der Brief offen war und da ich davon ausging, daß du sowieso wollen würdest, daß ich ihn lese, habe ich das bereits getan. Das muß ein ziemlich schwerer Schlag für dich sein, Liebes. Du tust mir so leid.“ Sie schüttelte bedauernd den Kopf, und zu der Putzfrau gewandt, die gerade dabei war genüßlich in einen Apfel zu beißen, sagte sie, daß sie bitte gehen solle, was diese auch leise murrend tat. Ihre Hand streichelte beruhigend Monikas Oberschenkel. „Das war wirklich das letzte, was ich erwartet hätte. Ich habe nie verstanden, wie mein Mann damals auf die Idee gekommen ist, sein Leben zu ändern und es fortan als Einsiedler in den Bergen zu führen und geglaubt habe ich ihm erst, als er eines Tages seine Sachen packte und einfach ging, wobei es mir seltsam vorkam, daß er die Kinder mitnahm, aber daß dir dein Mann so etwas antun würde, nein, das hätte ich nicht von ihm erwartet. Bei deinen Kindern war mir das von vornherein klar gewesen, du mußtest es ja irgendwann erfahren.“
Monika merkte verdutzt auf. „Du hast gewußt, daß die beiden anders sind?“, fragte sie Lea.
Lea nickte bekennend und streichelte Monika beruhigend über den Oberschenkel. „Natürlich, irgendwem mußten sie sich doch anvertrauen, und bei deiner Versessenheit auf gesellschaftliche Normen, haben sie sich verständlicherweise nicht getraut, es dir zu erzählen. Du wärst durchgedreht.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu „bist du ja auch.“ und fuhr dann schnell fort. „Dein Mann hat in dem Brief geschrieben, daß du keine Schuld an der Situation hast. Und das stimmt auch, was ihn angeht, aber bei deinen Kindern hast du auf alle Fälle einen Fehler gemacht. Du hast ihnen das Gefühl gegeben, nicht normal zu sein. Vor allem, als du deiner Tochter auf dem Weihnachtsfest vor die Füße gekotzt hast, kam sie sich ein ganz klein bißchen nicht geliebt vor. Bevor du fragst, woher ich das weiß, dein Mann hat es mir erzählt.“
Monika schüttelte den Kopf und schaute Lea ungläubig verblüfft ins Gesicht. „Aber die sind doch nicht normal. Oder würdest du es als normal bezeichnen, wenn dein Sohn es mit dem zehn Jahre älteren Hausmeister treibt und deine Tochter deine Arzthelferin in deinem Wartezimmer flach legt?“
„Über den Altersunterschied und den Ort der Handlung kann man sich streiten. Sie hätten es wirklich nicht vor deinen Augen machen müssen. Aber nicht über ihre Neigungen. Sie mögen für dich nicht normal sein, sind es jedoch. Es kommt immer auf den Blickwinkel an. Deine Kinder, meine liebe aufgeklärte und intelligente Monika, sind für dich nur deswegen nicht normal, weil Du zum einen bestimmt nie wolltest, daß sie so werden und zum anderen denkst Du, daß das von der Natur nicht vorgegeben ist. Du verwechselst den Begriff Normal mit Natürlich. Norm und Normalität sind von der Gesellschaft geformte Vorstellungen und gebunden an das Denken der Mehrheit. Wenn sechs Milliarden Leute behaupten, die Farbe eines Pavianarsches sei gelb, dann ist das so, unabhängig von der Realität. Und der eine, der hingeht und sagt, der Arsch sei rot, bekommt im schlimmsten Fall eine eigene Fernsehshow, weil ihn alle für so hübsch durchgedreht halten und irgendwann sperrt man ihn dann weg weil er zu guter letzt auch noch beweist, daß der Hintern tatsächlich rot ist.“
Monika mußte bei dem Gedanken an einen gelben Pavianarsch unwillkürlich lachen. Lea sprach weiter.
„Erinner’ dich doch allein mal an diese merkwürdige Sache mit der Theorie, daß die Erde rund sei. Als dieser Typ das damals behauptete, hätten sie ihn um Haaresbreite gelyncht, nur weil alle dachten, daß das unmöglich sein könne. Mittlerweile weiß fast jedes Kind, daß die Erde rund ist. Mittlerweile ist es normal. Und genauso wird es eines Tages auch mit der Homosexualität sein. Sie wird zumindest toleriert werden und man wird hingehen und sich andere Menschen zum Draufrumhacken suchen, die von der angeblichen Norm abweichen. Dann werden es vielleicht die Somalis sein, weil ihre Körper zu dünn sind, oder die Amerikaner, weil sie existieren. Wach doch endlich mal auf, Monika. Scheiß auf die Meinung der Mehrheit, es sind deine Kinder und unabhängig davon mit wem sie es treiben, sind sie geistig immer noch völlig intakt. Und glücklich. Darüber solltest du dich freuen. Und außerdem ist der Hausmeister ein sehr netter, attraktiver und herzensguter Kerl. Genau wie die Arzthelferin.“
In Monikas Gehirn begannen ganz langsam Mühlen zu mahlen, solche Gedanken waren ihr in ihrer Verzweiflung entgangen, und sie mußte sie erst verdauen. Sie nickte langsam während Lea ihr beruhigend den Oberschenkel streichelte.
„Aber mein Mann Lea! Mein Mann ist bei all dem Natürlichen das irgendwie nicht normal ist, aber trotzdem natürlich, eindeutig nicht richtig im Kopf. Das mit meinen Kindern werde ich wohl noch hinnehmen können, ändern kann ich es sowieso nicht. Hast ja recht, es ist schön, daß sie endlich zu sich selbst gefunden haben und glücklich sind, aber mein Mann?“ Ihre Stimme wurde immer lauter. „Wie zum Teufel kommt dieser dämliche Idiot auf die hirnverbrannte Idee, mich nach zehn Jahren glücklicher Ehe und erfolgreicher Zusammenarbeit in unserer Praxis zu verlassen? Und dann auch noch auf diese Weise!“ Ihre Stimme hatte ein gewaltiges Crescendo erreicht, und Lea duckte sich instinktiv unter dem Ansturm von Emotionen. Ihre Hand hatte alle Mühe weiterhin beruhigend auf Monikas Oberschenkel einzuwirken. „Wie kann man nur so einen Müll zusammenschreiben, das ist doch Papierverschwendung.“ Monika verfiel in einen leiseren, leicht sarkastischen Tonfall, der von ihrem Lächeln untermalt wurde. Draußen fiel der Regen mittlerweile stärker, und ab und an durchzuckte ein Blitz den Himmel, gefolgt von leisem, fernen Donner. Monika nahm den Brief zur Hand und begann zu lesen. „’Geliebte Monika. Ich weiß nicht, ob und schon garnicht wie ich dir sagen soll, was mir auf dem Herzen liegt.’ Der Kerl hat doch gar kein Herz. ‘Schon seit Jahren quält mich der Gedanke, daß ich irgendwie nicht richtig bin, daß etwas an mir falsch ist und jeden Morgen wenn ich vor dem Spiegel stehe und meinen nackten Körper betrachte, ekele ich mich vor mir selbst.’ Dazu hat er auch allen Grund. ‘Meine Persönlichkeit ist in einen Körper gezwängt, der nicht zu ihr paßt, und nach Jahren der inneren Einkehr und der Meditation in den Bergen bin ich zu der Ansicht gekommen, daß ich mich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen sollte.’ Der dreht doch wohl völlig am Rad. Er hat viel zu viel Bartwuchs für `ne Frau. ‘Wenn du, geliebte Monika, diesen Brief in den Händen hälst und liest, werde ich bereits eine Frau sein. Ich bitte dich mir zu verzeihen, doch nur so, das weiß ich, kann ich glücklich werden und die Qualen, die seit Jahren die Ehe mit dir begleiten, von mir werfen. Vergib mir. Ich liebe dich.’ Tja, Lea,“ sagte sie und fing an zu schluchzen, „was soll ich dazu noch sagen. Er hat sie nicht mehr alle. Tschuldigung, sie hat sie nicht mehr alle.“
Lea streichelte beruhigend ihren Oberschenkel, legte ihren linken Arm auf Monikas Schulter und zog sie zu sich heran, umarmte sie liebevoll, während sie weiter beruhigend ihren Oberschenkel streichelte. „Denk einfach an die Pavianärsche, irgendwann wirst du auch das überwinden und akzeptieren. Ich werde dir dabei helfen so gut ich kann.“ Sie küßte sie am Hals. „Es wird alles wieder gut. Ich bin ja bei dir“, sagte Lea tröstend und küßte sie nochmals, während sie darin fortfuhr, beruhigend ihren Oberschenkel zu streicheln. „Ich bin doch bei dir“, flüsterte sie in ihr Ohr und leckte zärtlich daran. Monika machte erneut den Teppich glücklich und fing an zu weinen. Irgendwas kam ihr hier sehr suspekt vor, aber jetzt wollte sie ersteinmal weinen. Sie fühlte die beruhigende Hand auf ihrem Oberschenkel und spürte das Kribbeln in ihrem Bauch, das Leas Zunge an ihrem Ohr verursachte. Sie fühlte die Wärme der Hand, die ihren Rücken streichelte. Sie genoß die zärtliche Nähe von Leas Gesicht und spürte, wie ihre Lippen langsam an ihrer Wange entlang auf ihren Mund zu wanderten, fühlte den warmen Atem auf ihrer Haut, öffnete ihren Mund. Ihre Lippen berührten sich, und im selben Moment wurde Monika bewußt was sie da überhaupt gerade tat. Sie schreckte zurück und stieß sich ihren Kopf schmerzhaft an der Rückenlehne ihres Sessels, starrte, den Schmerz ignorierend in Leas Gesicht. Sekunden verstrichen, in denen die beiden sich reglos anblickten. Lea voll Traurigkeit, Monika voller Entsetzen. Dann sprang sie auf und wollte gerade beginnen zu schreien, als es an der Tür klopfte und die Putzfrau unaufgefordert eintrat. „Frau Doktor, hier sind drei Männer und eine Frau die sie unbedingt sehen möchten. Sie sagen, daß einer von ihnen furchtbare Schmerzen in einem Backenzahn habe und wahrhaftig sieht seine Wange nicht gerade gesund aus. Soll ich sie hereinbitten, Frau Doktor, oder auf Morgen verweisen?“, sprudelte sie mit einem leichten Österreichischem Akzent heraus. Monika war der Wind aus den Segeln genommen. Sie starrte benommen zwischen Lea und der Putzfrau hin und her und wußte nicht, was sie tun sollte. Lea nahm ihr das Denken ab und sagte der Putzfrau, sie solle die Leute holen. „Ich geh jetzt wohl besser Monika. Es tut mir leid. Ich komme morgen nochmal vorbei“, sagte sie leise zu Monika, nachdem die Putzfrau das Zimmer verlassen hatte und ging dann ebenfalls. Monika schaute ihr hinterher und nickte geistesabwesend. Ein leises, von niemandem gehörtes „Ähä“ entrang sich ihrer Kehle. Dann war der Raum plötzlich mit Stimmen gefüllt. Zwei Männer und eine Frau trugen einen bärtigen Mann um die vierzig herein, der eine furchtbar geschwollene rechte Wange hatte und legten ihn zielstrebig auf den monströsen Behandlungssessel. Daraufhin verließen sie das Zimmer wieder und stellten sich geschlossen, zusammen mit der Putzfrau, in die Tür. Für gewöhnlich hätte Monika sie zuerst alle aus dem Raum gewiesen, doch im Moment war ihr alles ein egal. Beinahe automatisch begab sie sich an die Arbeit, desinfizierte ihre Hände, zog sich Handschuhe an und eine Spritze auf, setzte die Nadel im Mund des Mannes, sein Stöhnen ignorierend, an, pumpte dann einen narkotisierenden Stoff in sein Zahnfleisch, holte eine Zange und riß zwei Minuten später einen völlig verfaulten Zahn aus der Mundhöhle. Der Mann schrie auf, verstummte aber kurz darauf, als der Schmerz wieder nachließ.
„Danke“, sagte er seinen Mund kaum bewegend. „Danke Monika“, sagte die Frau, die in der Tür stand und eine auffällig tiefe Stimme besaß.
Monika schaute rüber, konnte sich aber beim besten Willen nicht erinnern, woher sie diese Frau kannte. Nur die Stimme kam ihr bekannt vor. Stefan, schoß ihr durch den Kopf. Sie blinzelte. Dann blinzelte sie nochmal. Dann blinzelte sie nochmal und ging zu dem Lichtschalter neben der Tür, betätigte alle auf einmal, womit sie eine Lampe ausschaltete, dafür jedoch zwei andere und einen Ventilator zum Leben erweckte. Der Raum wurde augenblicklich heller. Außerhalb des Raumes erscholl Donner. Und auf einmal hämmerte ein plötzlich einsetzender Regen heftig gegen das Glas in der Balkontür. „Stefan“, hauchte sie. Die Frau lächelte vorsichtig und irgendwie schuldbewußt und sagte „Stefanie bitte, Monika. Stefanie.“
„Stefan“, wiederholte Monika. „Du hast dich…verändert.“
„Stefanie“ erinnerte die Frau Monika nochmals. „Ich heiße jetzt Stefanie.“
„Du siehst beschissen aus, wenn ich das mal so sagen darf“, sagte Monika, und ihre Augen verengten sich zu kleinen gefährlichen Schlitzen. Er hatte es tatsächlich getan. Daß er sie verlassen wollte war bereits schlimm genug, aber manche Dinge, dachte sie, gehen bei aller Normalität einfach zu weit. Ihre Hände suchten nach einem spitzen Gegenstand, fanden aber nur Wattebäusche. Verzweifelt ergriff sie diese.
„Ich hatte geahnt, daß du so reagieren würdest, aber uns blieb nichts anderes übrig als hier her zu kommen. Mein Lebenspartner hatte auf einmal furchtbare Schmerzen und deine Praxis war am nächsten dran.“
„Dann ist das auf dem Sessel also dein neuer Lebenspartner, ja?“, fragte sie ihn mit einer heiseren Stimme.
„Wie ich schon sagte, er hat auf einmal Schmerzen bekommen.“
Ihr Blick fiel auf die beiden Männer zu Stefanies Linken. Sie hielten sich an den Händen und leisteten sich gegenseitig Trost. „Oh Gott, noch mehr Schwule. Ich hab die Schnauze voll. Zuerst mein Sohn, dann meine Tochter. Und die beiden dazu auch noch an ein und dem selben Tag. Zwei Monate später dann dein Brief, und sogar meine beste Freundin entpuppt sich als Lesbe.“ Sie fing an zu schreien und warf mit den Wattebäuschen nach ihm. „Und nun kommst du hier in Frauenklamotten rein und läßt es zu, daß ausgerechnet ich deinen neuen Lebenspartner behandle, während die beiden Typen neben dir fröhlich Händchen halten und meine Putzfrau einen Apfel nach dem anderen frißt.“ Sie richtete einen haßerfüllten Blick auf ihre Putzfrau. „Ich hasse euch alle, ich hasse die gesamte Welt und ich scheiße auf Pavianärsche. Ich will meine Welt zurück. Das ist doch alles nur ein Traum. Das kann nur ein Traum sein.“
Nach diesen Worten drehte sie sich um, drückte auf einen Knopf an dem ultramodernen Sessel, woraufhin dieser anfing sich auf und ab zu bewegen. Dann lief sie weinend und fluchend zur Balkontür, drehte sich noch einmal um, schaute ihre Putzfrau an, steckte sich den Finger in den Hals, kotzte auf den Teppich, riß dann die Tür auf und betrat den Balkon. Ihr ehemaliger Gatte rannte ihr hinterher, war jedoch in seinen Stöckelschuhen nicht schnell genug. Der Mann auf dem Sessel schrie vor Schmerzen, die die Vibrationen des Sessels in seinem Mund verursachten, und der Putzfrau fiel vor Schreck ein Stück halb gekauten Apfels aus dem Mund. Auch sie lief los. Die beiden händchenhaltenden Männer ließen voneinander ab und zerrten den vierzigjährigen Mann von dem Sessel herunter, während Monika gerade mit einem vorbildlichen Hürdensprung über das Geländer hüpfte und fiel.
Sie fiel rückwärts und konnte deswegen wunderbar in den Himmel sehen. Einige Regentropfen begleiteten sie auf ihrem Weg nach unten. Sie unterhielten sich darüber wie seltsam doch Menschen seien, daß sie sich von Balkonen stürzten, wo sie doch gar nicht fliegen können. Dann schüttelten sie ihre kleine Köpfe und legten noch einen Zahn zu, um vor Monika am Boden anzukommen. Sie wollten sich das Spektakel von unten aus ansehen. Bessere und viel dramatischere Perspektive, meinte eines von ihnen und überzeugte damit die anderen.
Stefanie stand auf dem Balkon und guckte ungläubig hinab. Tränen rannen ihr über die Wangen, aber sie fielen nicht auf, der Regen spülte sie weg. Dann hörte sie ein „Nein Monika“ und drehte sich abrupt um. Die Putzfrau kam angelaufen und war ebenfalls den Tränen verfallen. „Nein, ich liebe dich doch“, schrie sie und rutschte im selben Moment auf Monikas Mittagessen aus, fing sich wieder und stolperte plötzlich über eine kleine Welle im blauen, nicht mehr ganz so sterilen, Teppich. Sie stolperte auf den Balkon, rutschte aus und fiel über das Geländer. Mit einem markerschütternden Schrei stürzte sie Monika hinterher.
Einige Regentropfen schüttelten ungläubig ihre Köpfe über die Dummheit der Menschen.
Die Natur, sagte eines von ihnen, läßt sich nicht ändern, wann sehn die das endlich ein. Dann suchte es sich seinen Freund aus der Menge seiner Artgenossen heraus, nahm ihn an der Hand, gab ihm einen Kuß, hob seine Augenbrauen und sagte, komm, das sehen wir uns von Unten aus an, bessere Perspektive, weißt du.
Dann legten sie einen Zahn zu.