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Mondsplitter
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, winde ich mich aus der Zärtlichkeit seiner Arme. Ich höre seinen gleichmäßigen Atem, der gerade noch auf meiner Schulter spürbar war. Wie lange er schon schläft, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass ich die ganze Zeit traumlos neben ihm gelegen und ihn gespürt habe. Ich drehe mich leise zu ihm um und betrachte seinen schlafenden Körper. Das sanfte Haselnussbraun versteckt sich hinter den Augenlidern. Das Mondlicht legt einen blauen Schimmer auf seine Schultern, zeichnet seine Stirn und Nase sachte in Silber.
Durch das geöffnete Fenster kommt die Kühle der Nacht, der Duft vom Flieder unter den Fenstern. Die alte Kastanie raschelt wenn der Wind sie streift, wirft schwache, lebendige Schattenmuster ins Zimmer. Die surrealistischen Formen der Blätter und Zweige spielen an den Wänden mit dem fahlen Licht der Sterne.
Ich betrachte sein Gesicht, möchte die Mondlinien auf seinem Körper nachzeichnen. Seine Lippen sind leicht geöffnet, noch von unserer Leidenschaft Stunden zuvor.
Ich kann die Entscheidung nicht länger hinauszögern. Vertrauen und Liebe zu enttäuschen ist ein harter Schritt.
Der Brief von heute Morgen hat ausgesehen wie alle anderen. Als ich ihn aufgerissen und gelesen habe, habe ich mich allerdings gefühlt, als würde jemand mir all meine Hoffnungen und Träume, mein Leben stehlen.
Fünftausend Euro ist so viel Geld. Zusammenverdient mit den perversen Gedanken von Männern, ihren Beschimpfungen an meinem Ohr. Zusammenverdient unter dem künstlichen Stöhnen und der von ihnen geforderten Lust.
„Ich möchte nicht, dass du in irgendeiner schmierigen Firma zum Putzen gehen musst – oder Schlimmeres ... wir schaffen das auch so“, hatte er zu mir gesagt. Es war an einem schönen Frühlingstag gewesen, der letzte Schnee taute gerade vom erdigen, frischen Gras. Ich hatte genickt. Hatte ihm zugestimmt und mich an seine Schulter gelehnt. Wir würden es schaffen …
Wir schafften es nicht.
Etwa drei Wochen später hatte ich dann angefangen, Geld zu verdienen. Es war nicht einfach gewesen, die formalen Sachen und meine Arbeit außer Haus vor ihm geheim zu halten. Aber es hatte funktioniert. Seine Tage in der Fabrik waren lang, ich hatte viel Zeit, um ihn zu verraten. In den ersten Nächten lag ich oft neben ihm, schlaflos, wie jetzt, voller Schuldgefühle und Zweifel, angewidert vom Tag und von mir selbst. Dann versuchte ich, daran zu denken, wie sehr wir das Geld brauchten. Diese Selbsthypnose war von Tag zu Tag erfolgreicher. Irgendwann gewöhnt man sich an sehr viel ...
Und man verdient gar nicht mal schlecht, stellte ich fest, wenn man sich verkauft. Wir konnten normal leben, Lebensmittel, Kleidung, laufende Kosten abdecken. Und ich hatte einiges gespart. Keine Fünftausend. Aber die konnte ich ja auch, wie der Schreiber des Briefes formuliert hatte, in Raten zahlen. Ich wusste nicht, welcher meiner Kunden sich hinter den Zeilen versteckte, aber in meiner Vorstellung dröhnte schmieriges, lautes Lachen.
Fünftausend.
Das war unser Traum von Urlaub. Von einem gebrauchten Auto. Von einem neuen Anstrich für die Wohnung, in der der Schimmel Wandfarbe und Tapeten zerfressen hatte.
Oder die Alternative. Vertrauen und Liebe nicht nur zu hintergehen, sonder auch offen zu zerstören … bevor es ein Perverser konnte.
Ich will mir nicht vorstellen, wie der Mann, der neben mir im Schein des Mondes schläft, eine Kassette aus einem Kuvert nimmt, einlegt und den Beweis meines Verrats an seiner Liebe hört. Bei diesem Gedanken möchte ich am liebsten sterben. Ihm selbst davon zu erzählen … ob ich das schaffen kann, weiß ich nicht.
Er bewegt sich unter der Decke, seine Hand berührt meine Hüfte, als er sich umdreht. Sein Atem geht ruhig.
Nie hätte ich ihn so belügen dürfen.
Jetzt kann ich nur noch weiter lügen. Noch Monate lang weiter schweigen und verraten, die Träume verbannen. Oder ich kann mich entlasten von meiner Heimlichtuerei, unsere Liebe damit zerstören … was ist schlimmer, frage ich mich.
Er liegt ruhig, ahnt nicht, wie sehr ich ihn verletzen werde, schon verletzt habe, mit dem was ich tue. Egal, wie ich mich entscheide. Vorher, als seine Hände in meinem Haar gespielt haben, hat er mir in die Augen gesehen. „Ich liebe dich“, hat er geflüstert, und ich habe es gespürt. Kann es sein, dass er meinen Augen die Unruhe, die Angst nicht angesehen hat?
Ob er es mir verzeihen könnte, frage ich mich. Ob er mich trotz dieses Vertrauensbruchs noch lieben wird. Lieben kann. Wenn ich ihm nichts davon erzähle, wird er es vielleicht dennoch erfahren. Oder ich werde jahrelang, ewig, am Telefon sitzen müssen und die ekligen, perversen Spielchen gefallen lassen, weil der Erpresser nach Fünftausend nicht aufhört, den Mitschnitt nicht zerstört, sondern immer wieder und wieder mit der Wahrheit droht und mich irgendwann zerbrechen lässt …
Ich streiche ihm über die ins silberne Licht gehüllten Schultern, küsse sanft seinen Rücken. Er blinzelt, legt seine Hand im Halbschlaf auf meine Hüfte. Meine Stimme zittert. „Ich muss dir etwas sagen.“
Ruhig hört er mir zu. Die Nacht ist still. Er berührt meine Wangen, streichelt Tränen fort. Der Mond zerbricht in seinen Augen in Scherben.
Er sagt nichts. Auch, als ich schon lange schweige, nicht mehr weiß, was ich noch sagen kann, erklären, von Wünschen und Träumen reden, sagt er nichts. In seinen Augen die Mondsplitter. Eine Ewigkeit liegen wir stumm nebeneinander. Eine Ewigkeit, die so rasch vergeht wie ein flüchtiger Augenblick, in dem man noch verweilen möchte und es doch nicht kann. Ich habe Angst vor den Worten, die kommen werden, kommen müssen …
Aber es kommt nichts. Wortlos schlägt er irgendwann die Decke zurück, steht auf. Er sieht mich nicht an, als er sich Pullover und Hose überzieht und das Zimmer verlässt. „Ich muss alleine sein“, sagt er leise. Die Wohnungstüre schlägt zu.
Ich spüre, wie Tränen meine Wangen hinunter rinnen. Er ist nicht mehr da, um sie wegzuküssen.
Wie wird es jetzt weitergehen, wie wird es, wenn er zurückkommt? Ich wünsche mir jetzt, ich hätte nichts gesagt, dann würde er immer noch neben mir liegen, sanft und ruhig.
Oder er hätte wütend sein können, zornig auf mich.
Seine Stille tut am meisten weh.
Das Kissen unter mir ist feucht, als mich irgendwann doch der Schlaf eingeholt haben muss und wirre Traumfetzen in mir toben.
Ein Geräusch, halb Traum, halb Realität, lässt mich hochschrecken. Es ist Tag geworden, die Sonne blendet mich.
Er steht vor mir. Pulli und Hose sehen schmutzig aus, ein goldenes Blatt hängt in seinen dunklen Haaren.
„Ich liebe dich“, sagt er nur und küsst meine Nase.