Mondscheinkind
Mondscheinkind
Clarissa erwachte mit einem erstickten Schrei der Qual und dem Gefühl eines grenzenlosen Verlustes.
Dunkelheit umgab sie.
Durch das Plastikdach des Zeltes vage zu erkennen, die Schwärze einer sternenlosen Nacht. Untermalt vom Rauschen sturmbewegter Baumgipfel.
Sie kannte es, dieses Gefühl heimatlos zu sein, ausgesetzt im Niemandsland, fern jeder emotionalen Bindung, das nicht zum erstenmal ein Ventil
in nächtlichen Alpträumen fand.
Ihre Zeit war gekommen.
Das Leben begann für sie nachts, wenn Sonne und Tageslicht verschwunden waren.
Vampir nannte Knut sie zuweilen in einem seiner Anfälle von Gefühllosigkeit und Holzhammerhumor.
Und sah sie an, als erwarte er, in den nächsten Minuten ihre Fangzähne an seiner Kehle zu spüren.
Er hatte nie gelernt, mit ihrer Krankheit umzugehen, ignorierte ihre Behinderung.
Mehr und mehr ignorierte er auch sie.
Gab sich nicht einmal mehr den Anschein, die wohl restlos überlebte Formel * In guten wie in schlechten Tagen* mit neuem Leben erfüllen zu wollen.
Er war dabei, sein Leben ohne sie einzurichten.
Sie hätte schon gefühllos wie ein Stein sein müssen, seine Abwendung nicht wahrzunehmen.
Das letzte - wenn auch nicht sehr belastbare - Seil zu ihrem früheren Leben riß.
Er suchte sich Menschen, die sein Leben teilten, die drohende Leere auffangen konnten.
Je länger ihre ergebnislos Odyssee zwischen den dermatologischen Koryphäen der Welt dauerte, desto mehr hatte er begonnen sich zu distanzieren und als die Diagnose endlich hieß
**erblich bedingte Lichtkrankheit Xeroderma pigmentosum (XP).**
war sein anfängliches Mitleiden der offenen Verweigerung gewichen,ihren Weg in die Dunkelheit begleiten zu wollen.
Als er erfuhr, dass XP-Kranken jenes Enzym fehle, das durch UV-Strahlung entstandene Schäden reparieren kann, und die Folge absterbende Hautzellen sein würden, die Krebsgeschwüre bildeten, war sein Entsetzen so schmerzhaft deutlich und der Blick auf ihre damals noch reine Haut so mit Ekel erfüllt, dass sie zurückschreckte, als habe sich vor ihr der Blick in eine Schlangengrube aufgetan.
"Aufgeben ist das Letzte, was man sich erlauben darf."
Clarissa wusste nicht mehr, wielange sie sich abgemüht hatte, diesen Spruch anzunehmen, ihn zu ihrem Motto zu machen.
Dass es nicht mehr war als ein Spruch, wurde immer deutlicher als bisherige gute Freunde nicht länger bereit waren, auch ihre eigenen Nächte zum Tag zu machen.
Erst scheiterten sie an den Erfordernissen des Tages und dann daran, dass auch künstliches Licht zur Belastung für die Kranke wurde.
Der vermeintliche Ausweg verschloß sich vor Clarissa.
Dunkelheit würde ihre Welt sein und bleiben.
Solange sie es zuließ.
Zuließ ???
Wann der Gedanke zum erstenmal aufkam, dass selbst die grösste Lebenseinschränkung nur solange Gültigkeit haben konnte, wie sie, Clarissa, es zuließ, das wußte sie nicht mehr genau.
Aber sie erinnerte sich deutlich an das jähe Glücksgefühl, das Ende einer unerträglich werdenden Qual selbst herbeiführen zu können.
Sie war so frei, wie sie es sein wollte.
Danach fiel es ihr leichter, die von Tag zu Tag immer deutlicher werdenden Abstriche der bisherigen Lebensqualiät zu akzeptieren, die Zurückweisungen
die damit verbunden waren, wie etwas hinzunehmen,
das auf immer zu ihrem Leben gehören würde.
Das Haus wurde stillschweigend in zwei Zonen aufgeteilt.
Der kleinere Teil wurde ihre abgedunkelte Welt,
in die Besucher immer seltener Einlaß begehrten.
Knut pflegte seinen bisherigen Lebensstil, Gäste und Geschäftsfreunde kamen und gingen und irgendwann geschah es dann. Eine blieb und er machte sich nicht mehr die Mühe, ihr Bleiben vor Clarissa und dem Personal zu verbergen .
Damals begann sie, die Nacht als ihr gemäß anzunehmen.
Sie verließ das Haus in mondlosen Nächten, streifte stundenlang durch den zum Haus gehörenden Park und das anschließende Waldstück und begann
mit dem, was sie *das Glücksgefühl-Training* nannte.
Sie lief....lief und lief.
Und so fand sie ihn eines Nachts.
Erschöpft, und glücklich diese Welt annehmen zu können, hatte sie abseits des Weges einen Platz zum Ausruhen gesucht... und da war er dann.
Ein Baum, nein, eine Kathedrale.
Ersichtlich Jahrhunderte alt, die Baumkrone wie ein grünes gewaltiges Dach gespannt, schien er alles in seiner Umgebung zu beherrschen.
Er war von archaischer Schönheit, schien auf eine so faszinierende Weise Leben zu verkörpern, dass sie fast glaubte, diese nahezu unbezwingbare Kraft auch in sich selbst zu spüren.
Es war fast ein Schock, als sie, seinen gewaltigen Stamm umgehend, auf der Rückseite seine elementare Verletzung entdeckte.
Er war in Körperhöhe hohl und sein Inneres an dieser Stelle blankpoliert wie eine Muschel.
Zerstört also auch er, aber, ungebrochen.
Sein Krone breit, gewaltig, strotzend vor Kraft. Was hielt ihn auf diese Weise am Leben?
Sanft fuhren ihre Hände um seine rauhe Borke und dann wagte sie sich hinein in diese Öffnung, die sie sofort liebevoll zu umschließen schien.
Es war ein herrliches Gefühl, der Raum den er ihr überließ, schien auf sie gewartet zu haben.
Sie ruhte in ihm wie eine Raupe in ihrem Kokon, beschützt und sicher....und sang.
Sie sang die Lieder ihrer Kindheit, zuerst leise, fast summend, dann lauter und ihre Stimme schwang im Inneren des Baumes wie eine dunkle Glocke.
Seit dieser Nacht war sie nicht mehr in das große Haus zurückgekehrt.
Sie ließ sich ein isoliertes Zweiraumzelt im Halbdunkel zwischen Park und Wald aufstellen und richtete sich dort - ungeachtet aller Proteste - ein.
Obwohl durchaus komfortabel, war das Zelt immer öfter nur eine Tagesstation.
Ihre Nächte gehörten dem Wald, dem Laufen und.....immer ihrem Freund, dem Baum.
Sie sah sich und ihn als Schicksalsgemeinschaft, verletzt und angegriffen von Etwas das beide nicht beeinflussen, nicht verhindern konnten und
dennoch schien der Baum gesiegt zu haben, ihr sagen zu wollen, dass auch sie diesen Sieg erringen könne.
Sie lächelte, wenn sein Rauschen allzu beschwörend klang, denn das war der Bereich, in den sie ihm weder folgen wollte noch konnte, nicht auf seine Weise.
Ihr Plan war unumstößlich.
Und die Zeit ihn umzusetzen würde kommen, wenn der Herbst nahte....dachte sie.
Doch dann ging alles sehr viel schneller.
Innerhalb von nur 14 Tagen begann ihre Haut sich zu verändern.
Eitrige Pusteln wuchsen mit einer Schnelligkeit wie sie Körperzellen eigen ist, die sich krankhaft teilen.
Da war sie also, die so lange gefürchtete Folge dieser Gen-Anomalie.
Sie litt nicht annähernd in dem Ausmaß, wie das noch vor Wochen der Fall gewesen wäre, sie handelte sofort.
Die Walpurgisnacht war stürmisch und rauh.
Der Mai schien in diesem Jahr nichts von lauen Lüften zu halten, es regnete schon seit Tagen.
In dieser Nacht lief sie ohne Umweg zu ihrem Baum, diesmal zielstrebig, in ruhigem Tempo.
Sie atmete nicht einmal schneller als sie ankam.
Ein letztesmal setzte sie sich zwischen die Stränge seiner teilweise an die Oberfläche getretenen Wurzeln und sah hinauf zu der im Dunkel bizarr wirkenden
riesigen Krone.
Warte Du, ich komme.
Man fand sie zwei Tage später.
Tiefe Schnitte in beiden Handgelenken,
die sie fest in die Erde zwischen den Baumwurzeln gepresst hatte, als wolle sie jeden Tropfen ihres auslaufenden Blutes mit seinen Lebenssäften verbinden.