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Mon amour.
Er war nur wegen Emma gekommen. Weil er wusste, dass sie an diesem Samstag im Club Myth sein würde. Nachdem er sie über drei Wochen nicht gesehen hatte!
„Schön, dass du da bist; Nico!“ Ihre blonden Locken kitzelten ihn an der Nase, als sie ihn umarmte. Sie roch fruchtig. Ihre Hände ruhten bei der Umarmung auf seinen Schulterblättern; er spürte die Hitze ihrer Handflächen durch den Stoff seines T-Shirts.
„Cool, dass du wieder da bist! Wie war’s in China?“, fragte er.
Sie zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf, während sie mit dem Finger auf ihr Ohr deutete.
Er musste gegen die Musik anbrüllen, damit sie ihn verstand: „CHINA … Wie, war’s … WIE WAR’S IN CHINA?“
Emma steckte sich eine Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Ihr Haar war so blond – so leuchtend! -, dass es das aufblitzende Licht der Discokugel, die über der Tanzfläche hing, beinahe so gleißend reflektierte wie ein Spiegel. Übernatürlich, dachte Nicolas, es sieht übernatürlichaus. Und wunderschön …
Er wollte über diesen Moment schreiben: Ihre leuchtende Haarpracht umgab das schmale, fein geschnittene Gesicht wie ein Heiligenschein. Ihr herzförmiger Mund hatte ihn hypnotisiert – er konnte die Augen nicht von diesen maulbeerfarbenen Lippen … Du spinnst doch, schalt er sich selbst (noch mitten im Satz). Das war so kitschig! Sowas würde er nie im Leben schreiben. Auch wenn er es dachte. Auch wenn sein Herz gegen sein Brustbein hämmerte.
Die Musik dröhnte in seinen Ohren. Seine Trommelfelle vibrierten.
„Geht so.“ Emma verdrehte die Augen und streckte die Zunge aus dem rechten Mundwinkel. „Meine neue Stiefmutter war eben voll ätzend wie immer. Aber na ja … Sonst war’s okay.“ Sie zuckte mit den Schultern und griff nach Nicolas‘ Hand. Sein Herz setzte einen Schlag aus.
Sie nahm seine Hand – die, die das Glas mit seinem Drink umklammerte – und führte das Getränk zu ihrem eigenen Mund. Von unten herauf blickte sie ihn an, während sie an seinem Gin Tonic nippte, ein Lächeln auf ihren Lippen. „Hm. Der ist gut!“, rief sie aus.
„Hier … HIER IST SO … SO LAUT.“ Ist das alles, was dir einfällt, du Blödmann?, tadelte er sich gleich darauf in Gedanken.
„Ja, stimmt.“ Emma kam mit dem Mund nah an sein Ohr. „Magst du mit zu mir kommen? Ich kann dir ein paar Bilder zeigen. Von der chinesischen Mauer und so.“
Beim Hinausgehen entdeckt er Zoé, die hinter der Bar stand und Bier zapfte. Ihre Blickte trafen sich und sie lächelte ihn an. Er lächelte zurück, winkte kurz und überlegte, ob er ihr sagen sollte, was er vorhatte, aber da hatte sie sich schon wieder abgewandt und sprach mit einem der Gäste.
Er kam gleichzeitig mit Zoé nach Hause. Es war noch dunkel, aber die Stadt war dabei, aufzuwachen: Auf dem Weg von der Metro-Haltestelle zu seiner Wohnung kamen ihm Autos entgegen, in der Bäckerei ging das Licht im Verkaufsraum an. Er widerstand dem Wunsch, die Straßen entlang zu hüpfen. In der Ferne sah er den Morgenstern. War es der Morgenstern? Es war ein Stern, direkt vor ihm, der sehr hell leuchtete.
Als er um die Ecke bog, sah er Zoé: Sie stand an der Eingangstür und durchwühlte ihre Umhängetasche – er wusste, sie suchte ihren Schlüssel. Sie steckte ihn jedes Mal in eine andere Seiten- oder Innentasche und vergaß, in welche. Er blieb stehen und beobachtete sie, wie sie den Schlüssel schließlich aus der Tasche fischte.
„Zu dir oder zu mir?“, hörte er sich selbst sagen und lachte über seine Worte, noch bevor sie die Chance dazu hatte.
Sie lächelte. „Wo kommst du denn her?“
Er trat an sie heran und nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, um die Tür zu öffnen.
„Warst du bis jetzt unterwegs?“, fragte sie.
„Ich war noch bei Emma.“ Er öffnete die schwere, ächzende Eingangstür (Was fanden die Menschen nur an Massivholz?) und ließ Zoé vor sich eintreten. „Sie war in China. Wir haben uns ‘n paar Bilder angesehen und Wein getrunken und so … Weißt schon.“
„Und dann hattet ihr wilden Gruppensex, bei dem auch ein Esel beteiligt war?“ Sie stieß ihn in die Seite und grinste, während sie die Treppe nach oben liefen.
„Ha, ha“, erwiderte er trocken.
Sie ging duschen. Wie immer, wenn sie von der Arbeit in der Bar kam. Er war eingeschlafen und wachte wieder auf, als sie sich neben ihn legte. Ihre Haut war warm und sie roch nach Lavendel. „Damit du mich nicht ertragen musst, wenn ich nach Schweiß und Zigarettenrauch rieche“, hatte sie ihm an ihrem ersten gemeinsamen Wochenende in der Wohnung erklärt.
„Hast du geduscht?“
Während er in den Schlaf abdriftete, drehte sie sich von einer Seite auf die andere und er spürte, wie sie sich neben ihm bewegte. Wie ein unruhiges Tier.
Am frühen Nachmittag wachte er auf und war allein. Das Fenster an der Dachschräge war gekippt, Staub tanzte in einem schräg einfallenden Sonnenstrahl. Kurz darauf kam Zoé vom Joggen zurück. Mit feucht geschwitzten Schläfen, noch etwas kurzatmig setzte sie sich zu ihm auf die Matratze.
„Schon wach? Du wirst ja zum Frühaufsteher.“ Sie küsste ihn auf die Stirn.
Er ließ sich vom Rhythmus des Tages tragen: Er am Schreibtisch sitzend, sie auf einer Yogamatte vor dem Küchentresen (dem einzigen Platz in der winzigen Dachwohnung, an dem sie sie ausrollen konnte). Ab und zu hielt er mit dem Schreiben inne, um sie zu beobachten: Wie sie ihre langen Beine streckte, bis die Sehnen an der Innenseite ihrer Oberschenkel zu einer einzigen Linie wurden, an deren Enden sich jeweils ein U-förmig gebogener Fuß befand.
Er spürte, wie die Muskeln sich in seinen eigenen Schenkeln zusammenzogen. Das erste Mal, dass er sie tanzen gesehen hatte – und wie unmenschlich sie sich dabei verbog – war auf der Seine -Mauer auf der Île Saint-Louis gewesen, am Ende eines Abends, den er damit verbrachte, seine Gefühle mit Getränken zu betäuben, die viel Zucker, mehr Wodka und irgendetwas Buntes enthielten. Er war mit Grégoire und ein paar von dessen Freunden durch die Bars gezogen. Sie hatten in einer Bar im Quartier Latin angefangen – eine der wenigen Gelegenheit, bei denen er mit einem Bekannten aus der Schule und dessen Freunden durch die Bars zog. An die Einzelheiten konnte er sich nicht erinnern, die Nacht war ein Gewirr aus Menschen, von denen er die meisten zum ersten Mal traf und danach nie wieder: Leute verließen die Gruppe, andere stießen dazu, sie wechselten das Etablissement, und je später es wurde, umso weniger kümmerte es ihn, wem er vorgestellt wurde und wessen Hand er schüttelte Er war kein Menschen-Mensch.
Als es dämmerte, waren außer ihm nur noch der Schulfreund und zwei Mädchen übrig, die auf die Mauer stiegen und begannen, miteinander zu tanzen. Zoé streckte ihr Bein ihn die Luft, so dass der Fuß über ihrem Scheitel stand. Sie drehte sich einmal, zweimal, dreimal um sich selbst und summte eine Melodie, die ihm bekannt war, die er aber nicht benennen konnte. Grégoire machte mit einem Handy Fotos (wofür ihm das Mädchen, das nicht Zoé war, überschwänglich dankte) und sie lachten die ganze Zeit über so, dass Nicolas mitlachen musste.
Wie kam es, dass diese Mädchen – die hübsche, blonde Tänzerin mit den grauen Augen – sich für ihn interessierte?
„Du hast echt gewirkt“, hatte sie ihm später erklärt, als er sie danach fragte. „Wie soll ich sagen? Nicht so wie die anderen. Die spielen nur irgendwas. Den Coolen, den Grübler, den … was-auch-immer. Aber bei dir hat das echt gewirkt. Wirkt es echt. Dass du so still bist und so … so, wie du eben bist.“
„Wie bin ich denn?“ Er hatte die Frage als Provokation gemeint – Für was hältst du mich denn, hä? Für einen irren Einzelgänger? Einen Langweiler? Einen Psychopathen?
„Ich halte“, sie machte eine Pause, „dich für gar nichts. Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist.“ Sie küsste ihn auf die Lippen. „Und intelligent.“ Sie küsste ihn wieder. „Und mitfühlend.“ Wieder ein Kuss.
Niemand hatte je so viel von ihm gehalten. Ihn je sogemocht. Geliebt.
Ihre Sonntage waren der Beweis: Wenn sie nebeneinander her arbeiteten, hatte er das Gefühl, sicher zu sein. Er schrieb Wort um Wort, Zeile um Zeile. Seine neue Geschichte trug den Titel: Ballerina.
„Du bist dünn geworden.“ Seine Mutter runzelte die Stirn und zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette, bevor sie den Stummel in den Aschenbecher vor sich drückte. „Machst du jetzt auch so ne affige Diät wie deine kleine Freundin?“ Sie lachte trocken auf und lehnte sich auf dem Sofa zurück.
Nicolas presste den Kiefer zusammen; er verspürte den Drang, aufzustehen und die Wohnungstür hinter sich zuzuschlagen. Allein der Geruch nach kaltem Zigarettenrauch widerte ihn so an, dass er es nicht erwarten konnte, wieder zu gehen. Wie hatte er den Gestank früher ausgehalten? Oder den Anblick seiner Mutter …? Sie hatte ihre aufgedunsene Gestalt in eine übergroße Strickjacke gewickelt. Die Ärmel waren so lang, dass sie ständig über die Hände rutschten. Eigelbreste – wahrscheinlich vom Frühstück – hingen ihr im Mundwinkel. Er wischte sich über den eigenen Mund und blickte an ihr vorbei. Auf dem Bücherregal stand ein Foto von Simon und ihm aus ihrer Grundschulzeit: Er und sein großer Bruder im Wohnzimmer eines ihrer „neuen Onkel“. War das im Haus des dürren Algeriers aus Nanterre gewesen?
„Ich hab dich was gefragt? Hörst du schlecht?“
„Nein.“ Er rollte mit den Augen. „Ich hab dich gehört. Ich hab nur keine Lust, dazu was zu sagen.“
„Ah ha.“ Sie grunzte – oder sollte das noch ein Lachen sein? „Kaum biste ausgezogen, riskierst du ne dicke Lippe! Warst doch früher so’n ruhiger kleiner Scheißer. So höflich, hat Monique immer gesagt. Neidisch war die … Dabei warst du nur so’n verstockter kleiner Feigling. Wie dein Vater! Hast nichts gesagt, aber immer was gedacht … bis du wusch, einfach abgehauen bist.“
„Ja, ja … Auch wie mein Vater, was?“ Und zwei Stiefväter und etliche der „neuen Onkel“. Dass sie etwas damit zu tun hat, dachte er, darauf kommt sie nicht.
Sie zog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln nach oben. „Na, da schau her: Kaum haste jemandem zum Vögeln gefunden, wachsen dir auch Eier, was? Ich hatt‘ dich ja für ne kleine Schwuchtel gehalten.“
„Hast du was von Simon gehört?“
Sie zuckte mit den Schultern und starrte, die Augenbrauen zusammengezogen, nach unten. „Muss die Zeit wohl dieses Mal absitzen, wie’s aussieht. Noch zehn Monate mindestens, sagt der Typ vom Amt.“
„Hast du ihn mal besucht?“
„Warum denn?“ Sie griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Couchtisch und fischte mit ihren gelben Fingernägeln die nächste Zigarette heraus. Ihre Hände zitterten. „Und, was is‘ jetzt mit deiner kleinen Freundin?“
„Was soll mit ihr sein?“
„Kommst dir jetzt jedenfalls sehr erwachsen vor mit ihr“, murmelte sie.
„Ich binerwachsen. Ich hab ne Freundin, ne Wohnung, ‘nen Job.“ Mehr als du je hattest, fügte er in Gedanken hinzu.
„Und du denkst, das macht dich erwachsen, ja?“ Ihr Lachen war rau und kehlig und verwandelte sich in einen Husten, der ihren ganzen Körper beben ließ. Ihre Wangen liefen rot an und sie wedelte mit den Händen vor dem Gesicht herum, als wollte sie die Luft so in ihre Lungen schaufeln.
Er wandte den Blick ab.
„Und, was ist jetzt mit deiner kleinen Freundin?“, fuhr sie fort, als sie wieder atmen konnte. „Kommt sich … Kommt sich wohl vor wie was Besser, hä, dass sie sich hier noch nie hat blicken lassen … Tanzen … Pah! Was ist das überhaupt für‘n Job? Wem nützt das? Noch dämlicher als dein blöder Buchladen. Bücher und dummes Rumhüpfen. Ja, das passt zusammen. Beides für’n Arsch.“
„Wenn du meinst.“ Er stand auf. „Ich muss gehen.“
„Warte doch noch!“ Sie streckte die Hand nach ihm aus, als er an ihr vorbei zur Wohnungstür ging. „Nico, bleibt noch ein bisschen! Komm schon, vergiss es. Du … Du bist doch grade erst gekommen.“ Ihre Stimme klang weicher, höher.
„Ich kann nicht. Bis bald mal.“
Im Laden war es ruhig an diesem Nachmittag. Er schrieb – in Gedanken. Er formulierte Satz um Satz, stellte Wort um Wort auf, während er die Bücher in der Gartenabteilung neu ordnete.
Wenn er sich zurückerinnerte, kam er sich vor wie ein Zuschauer. Nicht einmal ein Zuschauer in seinem eigenen Leben, sondern nur in dem anderer. Seine Mutter tat Dinge: lernte Männer kennen, hatte Zusammenbrüche,;verschwand, wenn man sie brauchte und tauchte wieder auf, wenn man sie nicht gebrauchen konnte. Sein Bruder tat Dinge: brach dem Jungen aus der Wohnung über ihnen den Arm wegen einer Schachtel Zigaretten und – und er? Er sah zu und wünschte sich, die Dinge seien anders. Einfach anders.
Wie war sein Leben nun? Im Alter von achtzehn Jahren überlegte er sich, warum er es unpassend fand, dass Bücher über das Grillen von Steaks thematisch bei solchen einsortiert wurden, in denen die Anlage eines eigenen Gemüsebeets erklärt wurde. Ein Gefühl von Machtlosigkeit, von Impotenz, lag über seiner Gegenwart ebenso wie über seiner Vergangenheit.
Er hatte sich dagegen gewehrt – in einem Ozean ohne Land in Sicht hatte er Wasser getreten. Getreten und getreten. Sich Arbeit gesucht. Eine Wohnung. Freunde. Die Ballerina.
Trotzdem fühlte er sich, als würde er anderen weiterhin nur zusehen.
Emma stand im Laden, als er aus dem Keller nach oben kam: Sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichend, wandte sie sich um, mit dem Blick suchend. Doch er entdeckte sie zuerst. „Kann ich helfen?!“
Die kleinen Falten auf ihrer Stirn glätteten sich und sie lächelte. „Hey, Nico! Gut, dass du hier bist. Ich hatte schon Angst, ich hätte dich verpasst und du hättest schon Feierabend.“
„Nein, ich war nur unten was wegräumen. Was gibt’s denn?“
„Ach, nichts.“
Da war etwas. Nichts, dass einen bestimmten Namen hatte – nichts, das man einfach beschreiben konnte. Aber trotzdem etwas, das jeder kannte. Über eine Stunde wartete sie auf ihn in der Fremdsprachenabteilung. Im Supermarkt gegenüber holten sie sich eine Flasche Wein und Plastikbecher und setzten sich in einen kleinen Park. Von ihrem Platz auf der Bank aus konnten sie einen Spielplatz beobachten mit einem Klettergerüst, das aussah wie ein Schiff. Der Himmel dahinter färbte sich langsam hellblau, weiß, schließlich rosarot in der Dämmerung.
Das erste Glas tranken sie schweigend, beim zweiten erzählte er ihr von dem Besuch bei seiner Mutter am Morgen.
„Wie fühlst du dich jetzt?“
„Ganz die zukünftige Psychologin.“ Er lachte – ein Lachen, bei dem sich die Eingeweide in seinem Unterleib zusammenzogen. Ein Lachen, zu dem er sich zwingen musste.
„Wie geht’s dir?“, wiederholte sie ihre Frage. Ernst. Unnachgiebig.
Das Ziehen in seinem Bauch löste sich. Das war Emma! Wenn er sie hätte beschreiben sollen – über sie schrieb – dann nutzte er solche Momente, um sie zu charakterisieren: Man konnte sie nicht täuschen. Verlegenes Lachen, mit harmlosen Fragen oder Bemerkungen über Wetter und Weihnachten ablenken … Darauf ließ sie sich nicht ein. „Ich hab dir eine Frage gestellt und will eine Antwort. Eine ehrliche!“ Das sagte ihr Blick – ihre stahlgrauen Augen!
„Na ja … Sie ist eben meine Mutter. Deshalb schau ich ab und zu nach ihr. Und hinterher, da hass‘ ich mich und halte mich selbst für blöde, denn das ist wirklich der einzige Grund, weshalb ich sie sehe. Denn wenn ich ehrlich bin, kann ich sie nicht AUSSTEHEN!“ Er verdrehte die Augen und schnitt eine Grimasse. „Ich meine, wie sie dasitzt und eine nach der anderen raucht, das macht mich aggressiv. Ich würd‘ am liebsten alles kurz und klein schlagen! Solange ich mich erinnern kann, hat sie dagesessen und gequalmt und mi-“ Seine Stimme wurde lauter, je mehr er sprach und als er das merkte, bremste er sich selbst. „Tut … tut mir leid.“
„Schon okay.“ Sie lächelte und drückte seine Hand. „Lass es raus.“
„Nein. Ich … Ich komm mir da blöd vor.“
„Wieso?“
„Weiß nicht.“ Das tat er wirklich nicht.
„Ich kann den Anblick von meinem Vater manchmal auch nicht ertragen. Ich schwör’s dir! Manchmal versucht er sich mit mir zu unterhalten. Und er verspricht, dass wir mal in Ruhe reden könnten und ich bin so doof und glaub das und fang an, ihm was zu erzählen … Aber dann kommt meine doofe Nuss von Stiefmutter, als hätt‘ sie’s gerochen und macht irgendeinen Aufstand oder will was von ihm oder was auch immer.“ Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Da komm ich mir blöd vor. Irgendwie … gedemütigt. Macht das Sinn?“
„Total!“
Sie tranken jeweils ein zweites Glas, dann war die Flasche leer. Inzwischen war der Himmel dunkelrot. Er ging los, um neuen Wein zu besorgen.
„Verglichen mit dir komm ich mir vor wie ein Kind, weißt du“, fing sie an, während er jedem Glas Nummer drei einschenkte. „Obwohl wir gleich alt sind. Und Jungs ja normalerweise weniger schnell erwachsen werden als Mädchen. Sagt man zumindest. Jedenfalls … Na ja … Ich wohn noch bei meinem Vater und so … Auch nicht anders als mit sechzehn. Oder zwölf. Oder zwei. Und du, du hast alles, was man als Erwachsener hat: Du hast nen Job und ne eigene Wohnung und wohnst mit deiner Freundin zusammen.“
Sein Puls pochte so kräftig, dass die Halsschlagader gegen die Luftröhre trommelte und er ein Engegefühl in der Kehle verspürte. „Ach Quatsch. Ich meine … So toll ist das jetzt alles nicht. Das … Das dachte ich früher auch immer. Echt. Ich … Ich dachte … Also, ich dachte, dass ich nie irgendwas auf die Reihe kriege. Ausziehen, eigenes Geld verdienen, ne Freundin finden. Und dann – schwupp!– isses passiert.“
Eigentlich war nicht „es“ passiert. Zoé war passiert. Jemand wollte ihn – wollte mit ihm Zeit verbringen, hörte ihm zu, fand ihn toll – und darauf baute alles auf. Die Wohnung, der Job. Deshalb hatte er sich zusammengerauft. Deshalb saß er jetzt nicht mehr in seinem kleinen Zimmer bei seiner Mutter in Bondy und verbrachte seine Tage und Nächte mit Videospielen. Und mit dem Schreiben von Geschichten, die nie fertig wurden.
Nicht, weil er nicht anders konnte, sondern weil er der Überzeugung war, dass das Leben nichts anderes für ihn zu bieten hatte. Alles, was ihm bis dahin widerfahren war, hatte ihm genau das vermittelt: Mehr gibt’s nicht für dich, Kumpel
Wegen dieser einen Frau hatte er mehr aus sich gemacht. Mehr erreicht. Und die Frage im Kopf: Was, wenn er zuerst Emma begegnet wäre?
Es log nicht. Zoé fragte: „Wo bist du gewesen?“
Er antwortete: „Bei meiner Mutter.“ Es war keine Lüge.
Sie saß auf dem Boden neben dem Bett, das linke Bein angewinkelt, das rechte ausgestreckt und mit einer Packung Tiefkühlerbsen auf dem Knie.
„Alles okay?“
„Ja, ja.“ Sie winkte ab. „Ich bin nur hingefallen. Tut kaum weh. Die Demütigung war schlimmer. Ist mitten bei der Generalprobe passiert.“
„Das tut mir leid.“ Er setzte sich auf die Matratze, so dass sie direkt vor ihm war, und begann ihren Nacken zu massieren. „Ich bin sicher, du warst trotzdem die Beste.“
Ein Lachen war die Reaktion. „Von wegen!“ Sie legte einer Hand auf seine und er hielt inne. „Geht’s dir gut?“
„Ja … Wie- … Wieso fragst du?“
„Hast du getrunken?“
Er hasste Lügen. „Ja.“
„Bei deiner Mutter?“
„Na ja … Wenn Du sie kennen würdest … Mit Alkohol kann man sie eben am besten ertragen.“ Das war die Wahrheit!
„Gutes Stichwort: Ich könnte sie doch mal kennenlernen.“
Er spürte, wie Übelkeit von seiner Brust aus nach oben zog. „Nein“, zischte er.
Sie ließ seine Hand los.
„Ich meine“, fuhr er fort, leiser, „es …“
„Tut mir leid“, murmelte sie, „ich kann dir vielleicht helfen. Wenn wir zu zweit hingehen, dann wär’s vielleicht entspannter für dich.“
„Wär’s nicht“, hakte er hastig ein. „Ehrlich. Ich … Ich will nicht drüber reden. Das weißt du.“
„Klar. Tut mir leid.“ Sie stand auf und ging ins Badezimmer.
Der Wein verursachte ihm Sodbrennen, er spürte ein Ziehen hinter dem Brustbein und kauerte sich aufs Bett. War’s die linke oder die rechte Seite, auf die man bei Sodbrennen liegen sollte? Sein Magen zog sich zusammen. Würde es helfen, etwas zu essen? Brot? Joghurt?
Zoé kam zurück, in schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt gekleidet.
„Ich geh zur Arbeit. Ich hab‘ Annas Schicht in der Bar übernehmen müssen.“ Sie ging auf ihn zu, blieb jedoch ein paar Meter vor ihm stehen. „Schlaf gut.“
Er wurde vom Knarren der Wohnungstür geweckt. Als sie sich neben ihn legte, stellte er sich schlafend. Die Übelkeit war verschwunden, aber hinter seinen Schläfen pochte es unangenehm. In dieser Nacht legte sie sich zu ihm, ohne zu duschen. Er erwartete den Geruch nach kaltem Rauch, doch stattdessen nahm er etwas anderes wahr: einen herben Duft und Sandelholz. Männlich.