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Momente
Auch spärlich beleuchtete Gassen durchquerte er in dieser Nacht. Genoss dabei, dass die Straßenlampen nicht stark genug, seine Augen nicht ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt waren, mehr als Umrisse der Umgebung preiszugeben. Sah den schwirrenden Linien mit Freude zu: wie sie Häuser skizzierten, Vorhöfe und Tore. Wie sie den Straßenverlauf legten, bei genauem Hinsehen sogar Muster auf den Boden malten. Und beugte er sich hinunter, um mit dem Finger an diesen entlangzufahren... da wurden die Linien mehr, die Muster feiner. Kopfschüttelnd stand er wieder auf, und zart lächelnd. Immer stärker lächelnd, als er bemerkte, die Muster nicht nur sehen, aber auch spüren zu können. An seinen nackten Fersen und Ballen, sogar an jedem einzelnen Zeh.
Und während er weiter lief und spürte, sich weiter umsah und entdeckte, erkannte er mehr und mehr die Steine unter seinen Füßen, die Fenster an den Häusern. Mehr und mehr sah er von den Ranken, die in den Vorhöfen wuchsen, mehr und mehr von den Toren, über die sie sich schlängelten. Erkannte bald jedes Blatt Efeu um den Torknauf kriechen, über dem Schlüsselloch hängen, im Wind wiegen. Ein paar umliegenden Büschen entlockte die Brise ein angenehm monotones Rauschen. Und von irgendwo her, so meinte er, brachte sie einen leisen Duft von Vanille.
Der Moment schien perfekt und sollte niemals vergehen. Doch vergingen keine zwei Gedanken bis er einen abgesenkten Bordstein erreichte: Die kleine Gasse ging in eine breitere Straße über, der lieblich ruckelige Pflasterstein in glatte Asphaltierung. Ganz kurz blieb er also noch stehen, versuchte all die Eindrücke einzufangen, scheiterte. Denn die Hälfte schien bereits verflogen.
Kurz, fast unmerklich lachend, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Seine Schritte nahm er letztlich wieder auf: stieg den Bordstein hinab, schlug nach links ein, blickte die Straße hinunter. Erkannte auf den ersten Blick nur Leere. Traute dem ersten Blick nicht und riskierte einen zweiten. Zwei, vielleicht drei Meter vor ihm sah er sie schließlich: dieses einzelne Mädchen. Den MP3-Player, der sich durch ihre Hosentasche abzeichnete, ein paar Kabel, die sich durch ihre Jacke schlängelten. Und sie bewegte sich zu ihrer Musik: die Arme über den Kopf gehoben, locker mit der Hüfte wackelnd, ab und zu mit dem Fuß ausschlagend. Ihre Lippen gingen erst stumm zum Text, bald sang sie flüsternd mit. Die leere Straße schien ihre Bühne zu sein, die Laternen ihre Scheinwerfer.
Sein Herz war stehen geblieben, seine Füße einfach weitergegangen. Bis ein tanzender Arm seine Hüfte erwischte. Das Mädchen stoppte in ihren Bewegungen und sah auf. Er sah zurück, musste unbeholfen grinsen, fast lachen. Die Arme streckte er gen Himmel, ließ sie wieder fallen. Sie hatte ihre Hände im Nacken, bald auf den Wangen. Schmunzelte ebenfalls. Ein paar Sekunden vergingen genau so. Dann atmete er wieder. ″Das ist...″
Mit einem Zug am Kabel glitten ihr die Stöpsel aus den Ohren. Am Ausschnitt ihrer Jacke hingen sie sich auf. ″... magisch.″
Etwas verlegen richtete er seinen Blick gen Boden. Sah ihre verspielt bestickten Schuhe, die knall bunten Schnürsenkel. Sah seine nackten Füße, von denen er erst einen, bald beide auf die Zehen stellte. Dann auf die Ferse. Ein paar mal vor und zurück wippte. ″Ich bin barfuß...″ Er wandte sich wieder ihrem Gesicht zu. ″Und ich liebe es.″
Ein, zwei Sekunden lang hatte sie noch seine Füße, erst dann wieder ihn angesehen. ″Gerade lief mein Lieblingslied, das ich wirklich liebe...″ Unterbewusst schnappten ein paar ihrer Finger nach einem der Ohrstöpsel, der nun irgendwo knapp über ihrer Hüfte hängen musste. Das Kabel erwischten sie, fuhren es entlang und hatten ihn schließlich gefasst. Ein paar Mal wurde er zur Seite geschnippt und wieder aufgefangen. ″Doch würde ich es zu oft hören...″
″Ich liebe es, dem Sommerregen zuzuhören. Und den Sommerregen zu riechen.″ Kurz sah er nach oben: Es sah nicht nach Regen aus. ″Und im Sommerregen zu tanzen.″ Seinen Kopf drehte er sachte fort. Die Unterlippe schob er zwischen die Zahnreihen, ließ sie gleich wieder hervor schnalzen. ″Ich liebe den Sommer.″
″Ich liebe Erdbeeren. Würde ich sie aber jeden Tag essen...″ Den Stöpsel ließ sie fallen, wieder baumeln. Und während sie sich eine feine Haarsträhne hinter das Ohr strich, klapperte leise ihr Armband. Zwei kleine Plastikerdbeeren schlugen hier und da zusammen.
Und vom Armband sprang sein Blick noch einmal zu den Ohrstöpseln, kurz zu ihren Schuhen, in ihr Gesicht. Aber nie weg von ihr. ″Ich liebe es, wenn die Umgebung verschwindet... weil ein Mensch genug ist.″
Zögerlich schloss sie ihre Augen, zählte leise bis drei, sah ihn wieder an. Zwei schmale Schritte wagte sie nach vorn, kam ganz nah vor ihm zum Stehen. Und flüsterte fast: ″Ich liebe dieses Herzklopfen...″ Behutsam stieg sie höher und höher auf die Zehenspitzen. ″... bevor die Lippen aufeinandertreffen.″
Und da war tatsächlich nur noch sie, die er sah. Das vorsichtige Lächeln, das auf ihren Lippen lag, diesen Anflug von Spannung, den er in ihren Augen zu erkennen meinte. Und ihre Hand, die sich vorsichtig in seine Richtung stahl. Er spürte den Druck ein paar schmaler Finger auf seiner Schulter. Seine Hand vorsichtig an ihre Hüfte geschoben, den glatten Stoff ihres Tops. Darunter, den Bund ihrer Jeans. Und wenn er sich nicht vollkommen täuschte, einen breiten Gürtel aus Cord. Kurz und schnell hörte er sie Atmen, im Rhythmus des Liedes, das leise aus den Stöpseln ihres MP3-Players summte. Und je näher er ihr kam, desto sicherer war er sich: Sie roch nach Vanille.
Seinen Lippen wich sie aus, indem sie ihren Kopf zart beiseite wandte. Ihr Mund stand ein bisschen offen. ″Ja, wirklich. Ich liebe dieses Herzklopfen, bevor die Lippen aufeinandertreffen...″ Sie stieg etwas plötzlich von den Zehenspitzen, gewann so ein wenig Abstand zu seinem Gesicht. ″... doch erlebst du dieses Klopfen zu oft, zu lange...″ Einen Schritt setzte sie zurück, bald darauf einen zweiten. Einen Stöpsel schob sie sich bereits in das Ohr, noch nicht den zweiten. Und nur schwerlich gelang es ihr, den MP3-Player aus der doch sehr engen Hosentasche zu befreien.
Einen kleinen Schritt folgte er ihr, den Kopf hob er wie zum Stopp. ″Den ganzen Tag lang könnte ich barfuß laufen.″
Viele kleine Schritte führten sie weiter von ihm weg. ″Und doch wird es Zeit...″ Sie sah ihn ein letztes Mal an. ″... für ein anderes Lied.″ Auf einem Fuß drehte sie sich fort. Der Musikplayer lag ihr in der Hand und nach dem passenden Knopf musste sie nicht mehr suchen. Sie drückte ihn letztlich.
Und wieder war da nur noch sie, die er sah. Den Player, den sie zurück in die Hosentasche drückte, den zweiten Stöpsel, den sie sich ungeschickt ins Ohr zu schieben versuchte. Und ihren Gang, der mehr und mehr einen verqueren Rhythmus annahm. Weg war allerdings der leichte Druck auf seiner Schulter. Entglitten war seinen Fingern das Gefühl, sie jemals berührt zu haben. Die Luft roch wieder trocken, nach Sommer, nach Nacht. Und mit jedem Schritt, den sie ging, vernahm er das Surren aus ihren Kopfhörern leiser und leiser.
Er lächelte. Diese Melodie ging wirklich ins Ohr.