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Momente eines Festivals
IIn dem Moment, als er sie das erste Mal sah, rückte alles in den Hintergrund. Inmitten einer ohnehin bereits surrealen Wirklichkeit verlor er sich in den Anblick dieser geheimnisvoll wirkenden Frau. Das Dröhnen der Lautsprecher, das die Menge mit eindringlichem Technosound zu rhythmischen Zuckungen reizte, drang nur noch gedämpft zu ihm vor. Das riesige Feuer im Zentrum der Meute tauchte alles in waberndes Licht. Tausende Menschen um ihn herum, eben noch lachend. johlend im Takt der Musik tanzend, gefroren in ihren Bewegungen. Es war, als würde alles um ihn herum gefiltert und seiner Realität entzogen. Sein Fokus galt diese Frau. Ihr Körper flackerte im Widerschein der Flammen, verschwand kurz im Dunkel, wenn größere Menschen sich zwischen sie und das Feuer schoben, um kurz darauf durch explodierende Raketen stroboskopartig erhellt zu werden. Der fast vollständig nackte Körper verweigerte sich dem Rhythmus der Musik und folgte, wie in Zeitlupe, dem Diktat einer fremden Eingebung.
Er hatte sie gerade erst gesehen. Ein merkwürdig ruhender Pol in der zuckenden Menge. Ihre Kleidung, war nichts Besonderes, hier gab und kleidete sich jeder, wie es ihm gefiel; nackt oder angezogen spielte nur eine Rolle, wenn die Temperaturen Richtung Gefrierpunkt fielen. Ihre Brustspitzen waren von Blumenaufklebern bedeckt, ein lederner Lendenschurz bedeckte ihren Schritt. An ihren Füßen hatte sie leichte, lederne Sandalen. Sie bewegte sich langsam, wie in Trance, den Kopf leicht gesenkt. Die Arme ein wenig angewinkelt, als wolle sie etwas greifen, was unsichtbar vor ihr schwebte oder vielleicht auch nur, um Herumtanzende bei einem Zusammenstoß abwehren zu können. Jedoch machte sie nicht den Eindruck, als würde sie die anderen wahrnehmen. Aber gerade ihre scheinbare Abwesenheit machte sie für ihn umso präsenter. Dann erkannte er kleine Reflexe auf ihrem ästhetisch, aber versteinert wirkenden Gesicht; es sah aus, als weine sie. Ja, sie weinte.
Er war von ihr gefangen, von ihrem Gesicht, ihrem Körper, ihrer Attitüde. Er bemerkte nicht, dass er sich, wie sie, der Hektik der Meute entzog. Zögernd bewegte er sich in ihre Richtung. Die Zeit hatte sich ihrem Tempo angepasst. Er wollte zu ihr, schnell, jedoch brachte er es nicht fertig die Geschwindigkeit aufzunehmen, die ihm eigentlich geboten schien. Dann, nach ewig langer Zeit, erreichte er sie. Zögernd, fast ängstlich, trat er neben sie.
In diesem Augenblick sprang ein kleiner Junge direkt in ihren Weg, stieß mit voller Gewalt mit ihr zusammen. Sie trat durch den Aufprall ein Stück zurück, Ihre Augen klärten sich, die Trance war entschwunden. Ihre Augen liebevoll auf den kleinen Jungen gerichtet, bückte sie sich zu ihm herab, kniete sich vor ihn, um auf Augenhöhe zu sein und hielt ihm ihre Hand entgegen.
„Hast du dir wehgetan?“
Dabei lächelte sie tröstend, um seinen möglichen Schmerz zu lindern. Da er direkt neben ihr stand, konnte er Ihre Stimme gut hören. Eine dunkle, weiche Stimme, die angenehm und sympathisch klang.
„Nein, meine Mama...“, er unterbrach sich, schaute ihr in die Augen und sah, dass ihr Tränen die Wange runter liefen. Er hielt kurz inne, seine Hand hob sich und er strich ihr behutsam mit dem Finger über die Wange, wischte die Tränen beiseite. Sie ließ es reglos über sich ergehen. Er tat es wortlos, dann sagte er ernst und mitfühlend:
„Es wird alles wieder gut.“
Innerhalb von Sekunden hatte sich eine mystische Vertrautheit zwischen Kind und Frau aufgebaut. Ein kleiner Junge der mit bewundernswerter Empathie innerhalb eines Augenblickes in das Herz seines Gegenübers geschaut hatte und der instinktiv die Gefühle weitergab, die er selbst bei Gelegenheiten empfangen hatte, die ihn weinen ließen. Sie nahm diese Geste mit offensichtlicher Dankbarkeit und Wehmut an und strich ihm zärtlich übers Haar. Der Zauber dieser Szene währte jedoch nur kurz. Abrupt wurde der Junge von hinten hoch genommen. Eine blonde Frau mit einer bunter Federboa und vielen blinkenden Lichtern hob ihn auf den Arm und strich ihm durchs Haar.
„Du sollst doch bei uns bleiben, du Schlingel. Du gehst uns noch verloren in diesem Trubel.“
Ohne genauer hinzuschauen lächelte sie der knienden Frau entschuldigend zu, murmelte ein schnelles „Sorry“, drehte sich herum, während der kleine Junge noch unverwandt den Blick auf die Weinende gerichtet hielt, und kehrte zu ihren Freunden zurück.
Er nutzte den Moment und bückte sich zu ihr hinab, wobei er behutsam mit der Hand ihre Schulter berührte.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Zuerst schien sie überhaupt nicht zu reagieren, doch nach einem kleinen Moment hob sie ihren Kopf und schaute ihn an. Kein Versuch ihre Tränen zu verbergen. Jedoch ohne Antwort. Schweigend erhob sie sich, noch immer die Hand auf der Schulter duldend, wartete bis auch er aufgestanden war. Dann musterte sie ihn auffällig langsam von oben bis unten, offensichtlich auf alle Details achtend. Doch ihr Blick wirkte erneut ein wenig entrückt. Dann hob sie die Hände, umfasste seine Wangen, zog den Kopf auf ihre Höhe und berührte mit ihren Lippen seine Stirn. Liebevoll, wie eine Mutter, die Ihrem Kind ein Gute-Nacht-Kuss gibt. Verblüfft ließ er das mit sich geschehen, ratlos wie er darauf reagieren solle. Irgendwie jedoch hatte er das Gefühl, dass ihr Blick trotz allem etwas Versöhnliches an sich hatte. Schließlich hielt sie ihm für einen Moment die offene Hand vor die Brust, als wolle sie ihn zurückhalten, Stop sagen, schüttelte leicht den Kopf, drehte sich herum und ging. Nicht schnell oder zielstrebig, aber auch nicht mehr wie vorhin, langsam, wie in Trance. Sie ging, erhobenen Hauptes, ohne sich umzuschauen.
Der Technosound drang wieder durch, wurde lauter, das Vibrieren der Lautsprecher wieder körperlich spürbar, die Bewegungen der tanzenden Menschen um ihn herum wieder schneller. Der Puls des Festivals begann erneut zu schlagen und ihn in seinen Bann zu ziehen. Er blieb stehen und sah, wie sie in der Menge verschwand.
Er sah sie nie wieder, doch in seinen Träumen folgte er ihr noch oft, als sie ging, ohne sich umzuschauen.