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- 11.04.2001
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Momentaufnahmen
Zerstreut laufe ich durch die Fußgängerzone und sehe die vielen Gesichter vor mir. Für einen Augenblick sehen sie mich an, kurz darauf sehen sie wieder weg. Erst hier beginne ich mich zu fragen, welchem Moment ich Bedeutung schenken muss und welcher Bedeutungslos bleibt. Es sind die Gesichter, die mir zuweilen im Kopf hängen bleiben und bei denen ich mich frage, welchen Sinn sie eigentlich haben. Da sind es lachende Gesichter, dort traurige Mienen und die, deren Augen ausdruckslos in den Tag scheinen, bei denen spüre ich dieses besondere Gefühl in mir. Wie eine Momentaufnahme, die meinen Körper elektrisiert und mich für eine ganze Weile festhält. Ich sehe sie an und als wäre ihr Leben eine Selbstverständlichkeit, ignorieren sie die kleinen Dinge, die das Leben schmücken. Ich erkenne diesen Blick und manchmal habe ich das Gefühl, ihn sogar spüren zu können. Es ist, als hätte eine Zeitlupe Bestimmung über mein Leben erlangt. Ich spüre jeden einzelnen Moment, ich spüre, wie sich meine Lungen mit Luft füllen und das ungewöhnliche Brennen darin, dass mich immer daran erinnern wird, welches Glück ich eigentlich habe, hier zu sein.
Nach einiger Zeit fühle ich mich kraftlos und bleibe stehen, halte inne und sehe die Menschentrauben, die sich durch die Fußgängerzone quälen. In meinen Ohren rauscht der betäubende Lärm der Unterhaltungen unter den vielen Menschen und das Klappern der Absätze bleibt trommelnd zurück. Ein brennender Schmerz legt sich mir auf die Augen, der mich fast erblinden lässt. Es ist das grelle Licht der Sonne, das meine Haut so schön zu wärmen vermochte. Meine Sinne entführen mich in einen Horror-Trip zwischen Hoffnung und Wahnsinn. Und als ich meinen Mund öffnen will um laut zu schreien, bringe ich keinen Ton heraus. Plötzlich aber mache ich einen Schnitt zwischen diesen beiden verworrenen Welten, in denen ich mich verloren glaube. Ein kraftloser Schritt zur Seite in den Schatten des großen Baumes erleichtert mich. Schwankend suche ich Halt an meiner Einkaufstüte, die mich zu Boden zieht. Und so sinnlos alles in diesem Augenblick erscheint, muss ich schmunzeln, als all die Stimmen um mich herum verstummen. Als der Lärm versiegt und das grelle Licht der Sonne mich nicht mehr blenden kann. Ich spüre die wiederkehrende Kraft in meinen Beinen, die wohlige Stille in meinen Ohren und das Selbstbewusstsein, das sich überall in mir verbreitet. Es ist wie eine Gratwanderung zwischen Glück und Verderben und je öfter ich nach diesem Selbstbewusstsein greife, so sehr nähere ich mich dem Abgrund, der mich zutiefst erschüttern würde.
Als die Aufmerksamkeit meiner Umwelt gegenüber wieder zurückkehrt, entdecke ich mich in dieser Zwischenwelt wieder. Sprachlos mache ich einen Schritt nach vorn und spüre die Zeitlosigkeit auf meiner warmen Haut. Es ist so, als stünde die Zeit still. Als hätten die anderen nicht mehr die Chance, den sprichwörtlichen Schritt voraus zu sein.
Verängstigt begreife ich, dass die Menschen stillstehen, einfach so. Ich fürchte mich davor, einen Schritt zu machen und aufzufallen, da ich einen Fehler begehen könnte. Aufgewühlt von der Tatsache, dass ich mich in einem zeitlosen Augenblick befinde, spüre ich die lähmende Erscheinung in mir, allein zu sein. Der Atem der Menschen liegt in der Luft und hinterlässt einen merkwürdigen Schauder auf meinem Rücken. Er ist weder kalt, noch lässt er mich diese Angst spüren, die mich sonst zusammenfahren lässt.
Und da ist er, dieser Blick. Ausdruckslos scheint er in die Leere zu schweifen. Es ist wie das Schwarz und das Weiß in einem Bild, als wenn er aus der ganzen Menge zu erkennen ist, ohne wirklich lange suchen zu müssen. Es ist dieser augenscheinliche Fleck im Bild, der sofort ins Auge sticht. Dieser Moment, der alles verändert, ohne dass du dich dagegen wehren kannst. Und genau dieser Moment nimmt dich gefangen, in eine Welt, die die seine zeigt. Während alle anderen Gesichter einer zwar unverständlichen Normalität gleichen, so ist dieser Blick eine Momentaufnahme, die dich entführen will. Wenn ich in diese Augen blicke, dann scheint es so, als könne ich die andere Seite der Welt entdecken. Und immer wieder ist es so, als sehe ich meine eigenen Augen darin. Erst dann wird mir klar, dass nicht die anderen diese ausdruckslosen Augen haben, sondern ich derjenige bin, der mit diesem Problem zu kämpfen hat. Und selbst wenn dieses Bild der stillstehenden Menschen in einer Welt der Zeitlosigkeit stattfindet, so beginne ich zu spüren, dass nicht sie diejenigen sind, die stillstehen, sondern ich. Während ein Ruck durch meinen Körper jagt und das Rauschen des Blutes in meinem Ohren zu hören ist, verschwimmt das scharfe Bild vor meinen Augen in ein schwarzes, tiefes Loch. Kurz darauf finde ich mich in einer Menge Menschen wieder, die an mir vorüberzieht, als würde ich nicht existieren. Erst jetzt verstehe ich, dass ich der Mittelpunkt in einer Geschichte bin, die ich mir selbst auferlegt habe. Nachsichtig trete ich aus der Menge zur Seite und beobachte die glücklichen und die weniger glücklichen Gesichter. Und als ich spontan in die Menge schaue, sehe ich es wieder, dieses Gesicht mit den ausdruckslosen Augen. Es ist nur ein kleiner Moment, den ich davon erhasche, aber mein Herz steht für diesen Moment still, als mir klar wird, dass diese ausdruckslosen Augen mir gehören.
Warme Tränen laufen mir über die Wangen und ich versuche sie zu verbergen, in dem ich schluchzend mit meinem Unterarm quer übers Gesicht fahre. Niemand soll diese traurigen, salzigen Geburten meiner selbst erkennen. Die Zeit vergeht so schnell, ohne dass wir es wirklich wahrnehmen. Und die Menschen um uns herum sind so schnell, dass wir den Augenblick verlieren, wirklich frei zu sein. Weder spüren wir den Atem der Zeit, die Luft auf unserer Haut, die warmen Sonnenstrahlen, noch spüren wir den Sinn unseres Lebens, der uns dazu bringt, über die Dinge im Leben nachzudenken, die uns bewegen. Menschen gehen auf Partys, trinken Alkohol um ihre schlechten Erinnerungen zu vergessen, andere versuchen ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, in dem sie sich selbst zerstören, durch Drogen oder einen Verzweiflungsakt. Ich kann von mir sagen, dass ich bereits an diesem Abgrund gestanden habe und mir die Frage stellte, mit welchem Kreuzzug mich Gott gesegnet haben mag. Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist, dass ich Menschen helfen muss, ihren richtigen Weg zu finden. Vielleicht schaffe ich das durch diese Worte, vielleicht aber auch nur durch das Gefühl, nicht allein auf dieser Welt zu sein. Wir haben nicht viel Zeit um zu erkennen, wer wir eigentlich sind und ehe wir uns dazu aufraffen, in den Spiegel zu schauen und uns selbst zu sehen, wie die Augen langsam verblassen, ist es zu spät. Wir alle möchten gerne kleine Helden sein, wir möchten das Glück spüren, die Zufriedenheit in unseren Gesichtern sehen, aber wenn wir uns keine Gedanken darüber machen, dass auch nur ein Moment das ganze Leben verändern kann, dann können wir auch nicht erwarten, dass uns die Hand des Glücks berührt. Wir können lachen, wir können uns freuen, aber wir haben keine funkelnden Augen, da wir im innern jenes Glück suchen, nachdem wir uns sehnen. Doch haben wir die Chance, etwas zu ändern, wenn man Mühe und Kraft dafür einsetzt, ein Ziel zu erreichen, welches man sich im Leben gesetzt hat. Es ist der Glaube an etwas, der uns Hoffnung schenkt und Vertrauen in eine Sache, die uns bewegt.
„Vielleicht braucht es ein ganzes Leben, um fünf Minuten Glück zu haben.“