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Moderne Speicherstadt
Der Mann war da, er war bereit, nur das Flugzeug kam nicht. Dabei saß er schon seit Stunden im Wartesaal des abgelegenden Flughafens auf einer alten Holzbank und starrte durch die Glasfassade auf den dicken, rostigen Anker, den ein Künstler neben der Landebahn platziert und mit unzähligen Metallplaketten versehen hatte. Jeder, der sich wichtig genug nahm, konnte sich dort verewigen. Von hier aus hatte der Mann einen guten Überblick. Neben ein paar Männern in Anzügen und Anlegern, die ihr Glück versuchten und mit den Piloten handelten, schnellten die Bediensteten der Flughafengesellschaft von einer Tür zur anderen, scheinbar immer auf der Suche nach einer neuen Aufgabe. Jeder wollte hier schnelles Geld machen, sogar die Kinder, die ihn anbettelten. Es machte ihn nervös.
Es hatte sich nicht gelohnt so früh zu kommen. Schon jetzt bereute er seine Entscheidung. Der Mann ärgerte sich, er hätte besser noch zu Hause bleiben können, anstatt hier seine kostbare Zeit zu verschwenden. Er hätte Dinge erledigen können, die auf ihn warteten. Das sagte er so laut, dass seine Sitznachbarin es hören konnte. Sie schenkte ihm aber keine Beachtung. Vielleicht aber war seine Zeit gar nicht so kostbar wie er dachte, der Mann nicht so wichtig, wie er sein wollte und wenn er ehrlich zu sich selbst war, er hatte gerade nichts besseres zu tun als auf diesen Flug zu warten. Dennoch war er überzeugt wie ein Gläubiger: dieser Flug würde ihn retten. Daran zweifelte er nicht. Er malte sich in seiner Phantasie aus, wie er flog. Und während er so über den Flug sann, verging etwas Zeit. Er schaute mehrfach innerhalb einer viertel Stunde auf seine Lange. Er wusste das Flugzeug würde kommen, soviel stand fest. Doch ihm fiel wenig ein, was er mit seiner kostbaren Zeit bis dahin anfangen sollte. Das machte ihn wahnsinnig. Seine rechte Augenbraue zuckte schon wieder und der Mann versuchte, sich von dem Gedanken abzulenken, dass er ein nervöses Frack war und jede Sekunde aufhören könnte zu atmen.
Hier in der Wartesaal des Flughafens gab es keine Möglichkeit auf sein E-Mail Konto zuzugreifen, um zu überprüfen, ob ihm vielleicht jemand eine Nachricht geschickt hatte. Nach ein paar Minuten wurde er so unruhig, dass er aufsprang und einen der Bediensteten fragte, der gerade in eine der vielen Türen flüchten wollte, wo denn der nächste Zugang zum Internet wäre. Dieser verstand ihn aber nicht und musterte den Mann von oben bis unten mit verwunderten Augen - wobei dem Mann das Loch in seinem Turnschuh peinlich war, denn er befürchtete nicht ernst genommen zu werden - , bevor der Bedienstete ein überraschtes "Wie bitte?" von sich gab, als würde er zum ersten Mal in seinem Dasein als Bediensteter von einer Erfindung Namens Internet hören, geschweige denn von der Wahrscheinlichkeit überzeugt sein, das ihn jemals jemand in diesem Dasein, zumal noch mit einem Loch im Turnschuh, danach fragen könnte, dachte der Mann genervt.
Das ganze dauerte dem Mann schon viel zu lange und er wünschte sich nur endlich von diesem Flugzeug abgeholt zu werden, um seine Reise zu beginnen. Er wurde von einer starken Sehnsucht erfasst und fragte sich, ob er in die Hafenkneipe spazieren sollte, entlang der Landebahn, um dort etwas zu trinken. Doch er wusste, dass er gerade jetzt stark sein musste. Jetzt durfte er sich nicht auf den Alkohol, seinem Freund, verlassen, sonst würde er womöglich für immer zu seinem Feind werden.
Der Mann war ganz nah bei sich als er den Computer des nahegelegenden Cafés anschaltete und dieser langsam hochfuhr. Das Logo der Marke Windows gab ihm ein Gefühl von vertrauter Sicherheit. Er nahm einen Schluck Wasser aus der kalten Plastikflasche einer Billigmarke, das er sich für ein paar Cent bei der netten Dame am Tresen gekauft hatte, um seinen trockenen Mund zu befeuchten.
Weder bei GMX, noch bei den sozialen Netzwerken, bei denen er aktiv war, gab es neue, persönliche Nachrichten. Ein Bekannter schrieb als Status, dass er sehr müde von der harten Arbeit war und sich auf den morgigen, freien Tag freue. 10 Personen gefiel das und er hätte gerne einen witzigen Kommentar beigetragen, wenn ihm einer eingefallen wäre. Ihm gefiel es witzig zu sein. Der PC hatte sich heruntergefahren und er ging zu der netten Dame am Tresen und bezahlte die paar Minuten mit einem 5 Euro Schein und ging die Treppe hinauf, hinaus in die Speicherstadt.
Es war furchtbar laut und er ärgerte sich den ganzen Weg bis zum Wartesaal, wo nun zwei weitere Menschen saßen, Zeitung lasen bzw. mit ihren Fingernägeln beschäftigt waren. Er hatte nicht die Kraft ein Gespräch mit einem der beiden anzufangen, was sicherlich die Zeit beschleinigt hätte, die ihm in Form einer rotleuchtetenen Digitaluhr entgegenstrahlte, so, als wollte sie ihn provozieren. Die Änderung der letzten Ziffer, obgleich erfreulich, bedeutete nur, dass eine weitere Minute einer großen, aber endlichen Menge von Minuten vorbeigegangen war, ohne dass er etwas Produktives getan hatte. Er schaffte es nicht, sich von diesem Gedanken zu lösen und fiel tiefer in den braunroten Ledersessel, den die Flughafengesellschaft für die Wartenden bereitgestellt hatte, rieb sich mit einigem Druck die Stirn und blickte mit seinen Hundeaugen erwartungsvoll in Richtung der Digitaluhr, als wollte er sie bestechen, das diese schneller ihre Ziffern wechselte. Er wusste, das Flugzeug würde kommen, nur wie lange dauerte es und wie sollte der Mann diese kostbare Zeit nutzen. Er starb Tode vor Langeweile. Er ging zu dem Automaten an der Eingangstür und kaufte ein Mandeleis, das eine bekannte Marke nachahmte. Er fühlte sich wertlos.
Bei dem Mandeleis fiel ihm eine Freundin ein, die er anrufen könnte, um sie dazu zu bringen, dass sie ihm einen bliess, wodurch er etwas Geld sparen würde, das ihm in den Händen einer Hure eh' weniger wertvoll erschien. Davon versprach er sich Heilung, zumindest für eine geringe Menge von Zeit. Das würde ihm schon weiterhelfen und der Gedanken daran, dass es Hilfe gab, beruhigte den Mann ein wenig. Es erschien ihm, als hätte er trotz aller Sackgassen dieser Welt, doch noch einen kleinen Pfad heraus gefunden. Allerdings hatten sich die Ziffern der Digitaluhr nicht verändert und leuchteten ihn an.
Die einzigen menschlichen Kontakte, die er an diesem Tag hatte, war der zu dem idiotischen Bediensteten der Flughafengesellschaft, zu der netten Dame am Tresen und zu einer jungen Witwe, die sich zum wiederholten Male verwählt hatte und dringend ihren Sohn Marco sprechen wollte. Die letzte Ziffer der Digitaluhr hatte sich gerade verändert, als sie wieder anrief und sich entschuldigte. Er bekam das Gefühl, das er eine feste Beziehung mit ihr einging.
"Hallo," sagte er so naiv, als würde er sie reinlegen wollen.
"Hallo Marco?" fragte die Witwe voller Hoffnung mit ihrem Sohn zu sprechen.
"Nein, hier ist nicht Marco, sie haben sich leider wieder verwählt."
"Aber wie kann das denn sein, ich habe doch seine Nummer hier in meinem Handy eingespeichert und mit der habe ich ihn doch schon tausendmal angerufen!"
Er musste kurz Grinsen. Diese Lüge war unverschämt und gab ihm genug Möglichkeiten das Gespräch zu lenken.
"Wirklich?," antwortete er mit fester Stimme, "dann muss da wohl was mit der Verbindung falsch gelaufen sein, vielleicht hat ein Schwalbe auf dem Weg Richtung Süden genau auf den Punkt der Satellitenschüssel geschissen, die frei und sauber bleiben musste, damit sie mit ihrem (er sagte das übertrieben) Marco verbunden werden könnten und nicht mit mir, aber verzeihen Sie das ich mich noch gar nicht vorgestellt habe. Meine Name ist Max Stolz, ich bin Unternehmensberater in der Ausbildung. Mit wem habe ich die Ehre, wenn nicht sogar das Vergnügen?"
Die Witwe hielt stumm inne und gestand dann wie eine Angeklagte vor Gericht, das ihr Name Imgard Witte-Bettsprung sei und fügte kokett hinzu, dass Schwalben nicht in den Süden flögen. Der Mann wusste nicht, dass das gelogen war. Die alte Dame berichtete ihm, dass sie früher Lehrerin von Beruf gewesen war, bevor die Kinder kamen, seitdem hatte sie als Hausfrau für ihren früh verstorbenen Mann gearbeitet. Offenbar war Marco die einzige Kontaktperson, die im Laufe der Zeit übrig geblieben war. Für neue Interessen fühlte sie sich zu alt und das Haus verließ sie nur noch zum Einkaufen. Ab und an empfing sie Gäste. Meist waren es Freunde oder Bekannte ihres verunglückten Ehemannes, der mit viel Erfolg als Ingenieur eine eigene kleine Firma geleitet hatte, deren Erzeugnisse der Witwe wohl eine bürgerliche Existenz sicherten, so verriet sie sich dem Mann. Nach diesen grundsätzlichen Fakten und einem kleinen Diskurs über Marcel Proust, fragte der Mann fast zu dreist, aber mit einem gespielten sexuellem Unterton, was die Witwe denn am Sex am meisten vermisse. Sie kicherte, obwohl sie die Absichten des Mannes sehr wohl und gut verstand, jedenfalls kam der Mann nicht über diesen Punkt hinaus, da er nicht den Mut aufbrachte, sich zu stellen und sich vielleicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Alles hatte für ihn einen Preis und er bezahlte in diesem Moment dafür, das ihm seine geringe Männlichkeit unangenehm war.
Das Gespräch war zu Ende und er versank bei dem Blick auf die strahlende Digitaluhr in sein Warten zurück, war aber glücklich darüber, dass er über eine halbe Stunde der Zeit vergessen hatte. Was würde als nächstes kommen, sollte er darauf warten oder sich auf die Suche danach begeben? Sollte er nochmal in das Café zurück um seine zu Nachrichten checken? Vielleicht hatte ihm die Firma, bei der er die Reise gebucht hatte eine Stornierung geschickt, und er verschwendete hier vollkomen umsonst seine kostbare Zeit. Die Digitaluhr änderte ihre Ziffern und leuchtete ihn an. Er wählte vorsichtshalber die Nummer der Firma, die auf einem Stück Hochglanzpapier für sich warb, aber das Telefon klingelte so lange bis schließlich der Anrufbeantworter antwortete. Auf den hatte er sich noch nie verlassen. Er wurde ungeduldig. Die Ziffern der Digitaluhr hatten sich nicht verändert. Vielleicht war etwas passiert und die Firma hatte Konkurs angemeldet. Vielleicht hat sie sich mit seinem Geld über die Landesgrenze hinweggesetzt und ist unauffindbar verschwunden. Diese Zweifel plagten seinen Geist und wurden unerträglich. Er sagte sich, dass er die Ruhe bewahren sollte und dachte daran, die nette Dame am Tresen des Cafés darum zu bitten, ihm einen zu blasen. Vielleicht würden 20 Euro genügen, um sie zu überzeugen, dann hätte er immerhin noch 15 Euro gespart, denn für 35 Euro konnte man sich es, soviel er wusste, auch professionell machen lassen. Dies hielt der Mann für viel Geld als Gegenleistung für den Dienst und war überzeugt, dass seine Freundin günstiger gewesen war. Er stand auf, schaffte es nur mit grosser Mühe die Verpackung des Mandeleis in den dafür vorgesehenden Bereich des Mülleimers zu werfen und ging durch die Eingangstür der Empfangshalle in Richtung der Hafenkneipe.