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Moderne Schnitzeljagd
„Wenn ich das Arschloch erwische, dann bringe ich es um!“ schrie er wütend.
„Tust Du nicht...“, entgegnete sie mit unerschütterlicher, wenn auch abgekämpfter Ruhe.
„Tu ich doch...ganz sicher, ich bringe den Kerl um, der das hier verbrochen hat...“
„Könnte auch ne Frau gewesen sein...“
„Das wäre ja noch schlimmer – durch die Hölle gegangen für einen Lippenstift...“
Nancy und Peter Drymes marschierten bereits seit dem frühen Morgen durch den kanadischen Nationalpark, in dem sie sich seit zwei Tagen befanden. Sie waren geschlaucht und durchgeschwitzt, aber ihrem Ziel schon verdammt nahe. Nur noch zweihundert Meter zeigte der GPS-Empfänger an, den Peter bei sich trug. Und am letzten Signalpunkt hatte er eine Tafel Schokolade und – wieder einmal – einen Zettel gefunden.
Auf dem Zettel hatte gestanden:
„Wenn ihr diese Tafel findet, solltet ihr Euch die Zeit nehmen, sie zu essen. Eure Kraft wird für den letzten Abschnitt noch gebraucht.“
Nancy und Peter hatten sie sich geteilt, denn bisher hatten die verteilten Zettel dieser Geocaching-Schnitzeljagd immer recht behalten.
Die Drymes waren durch Bekannte vor drei Monaten auf diese neue Art des Abenteuersports gestoßen. Bei einem geselligen Grillfest hatten diese von ihrem ersten „Geocaching“ erzählt, und was für einen Spass es ihnen gemacht hatte.
Geocaching bezeichnete die moderne Schnitzeljagd des neuen Jahrtausends. Auf der ganzen Welt versteckten Leute „Schätze“ in kleinen Tupperdosen oder sonstigen Behältern und gaben im Internet den Standort der Dose mit Längen- und Breitengrad an. Diese Daten konnte man in seinen GPS-Empfänger eingeben und sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Schatz machen. In der Regel bargen die Behälter so nützliche Dinge wie z.B. einen Autokratzer, eine Packung Rasierklingen oder einen Schraubenzieher. Und natürlich gehörte es zum guten Ton im Austausch für die errungenen Dinge ebenfalls etwas zu „opfern“. Geocacher gingen also nie ohne ein „Geschenk“ auf die Jagd. Laut der Internet-Seite bekam man so die seltsamsten Orte zu sehen. Außerdem war normalerweise jedem Cache ein Buch beigelegt, in das sich die Leute eintrugen. So konnte man dann ganz schnell herausfinden, ob Bekannte „Cache-Kollegen“ ebenfalls schon an jener Stelle gewesen waren, die man selbst grade besuchte.
In über 150 Ländern gab es bereits über 40.000 Verstecke. Es waren sogar Verstecke in der Antarktis gemeldet. (Peter fragte sich, was man da wohl verstecken mochte, bei DEN Temperaturen, die dort herrschten.)
Einige Verstecke waren einfach und befanden sich z.B. in der Nähe einer Parkbank im Busch des englischen Gartens von Hymes. Andere waren so schwer zugänglich, dass nur ausgefuchste und wirklich ganz abgekochte Typen, sich auf den Weg dorthin machten. Wer sonst würde sich auf den Weg zu einer Sanddüne in den Sudan begeben???
Nach dem Bericht des befreundeten Paares waren Nancy und Peter jedenfalls neugierig geworden und hatten einen Abstecher nach Indiana gemacht – dort gab es 17 Verstecke rund um einen Ort, den Peter längst wieder vergessen hatte, so klein war er gewesen. Innerhalb eines Wochenendes hatten sie zwölf davon aufgesucht und allerhand Krimskrams gefunden, dass sie kurzerhand bei den anderen Verstecken wieder „eintauschten“. So wanderte das halbverrostete Fahrtenmesser von Versteck 3 in Versteck 7. Das Päckchen Schieferkreide aus der Nummer 7 verschwand dafür in Versteck 9, etc.
Unter den zwölf Gegenständen hatte sich tatsächlich auch etwas gefunden, was Peter gefallen hatte:
Ein alter Wanderkompass...
Dessen Kompassnadel zitterte zwar schlimmer als ein Tanker in Seenot, aber als Kind hatte Peter immer einen haben wollen. Aber jetzt hatte er ja das von 27 Satelliten überwachte GPS-System.
Also hatte er den Kompass kurzerhand über seine Bürotür gehängt und über seine Kollegen gelacht, die verständnislos die neue Uhr betrachtet hatten, bis auch bei ihnen der Groschen gefallen war.
In den letzten drei Monaten hatten Peter und Nancy so ca. 65 Verstecke im näheren Umland gefunden.
Das Geocaching-Fieber hatte sie voll im Griff. Die Spannung, was man am besagten Ort vorfinden würde, war immens – selbst wenn es nur Kleinkram war. Aber man begab sich in die freie Natur und fand neben den Gegenständen manchmal auch schöne Plätze, die man unbedingt wieder besuchen wollte...
Nur noch dieses eine Versteck bei Sassanooga und die neun im Grand Canyon und...so weiter.
Schließlich hatten sie von dem Naturschutzpark in Kanada gehört und kurzerhand eine Woche Urlaub eingeplant. Dort sollten über 37 verschiedene Gegenstände liegen. Was für eine Herausforderung.
Und hier waren sie jetzt.
Bei Versteck Nummer sieben, dass sie bereits zwei Tage gekostet hatte. Denn dieser Schatzgräber hatte die Schnitzeljagd wohl ein wenig zu wörtlich genommen.
Sie waren an dem Punkt angekommen, der im Internet angegeben war und hatten sich schon gefreut, dass sie den beschwerlichen Aufstieg einen Quellbach hinauf gemeistert hatten.
Doch was für eine Enttäuschung war es gewesen, als sich nur ein Zettel in der Box fand, die neben dem linken Pfosten locker vergraben worden war:
„Sorry für Eure Mühen bisher und auch noch umsonst. Wenn ihr allerdings eine richtige Schnitzeljagd machen wollt, dann schaut Euch den Hochsitz genauer an. Wenn ihr allerdings schon genug haben solltet, dann tut es mir leid. Ihr werdet um eine interessante Erfahrung ärmer sein. Seid also bitte keine Spielverderber, auch wenn dieses Caching ein wenig anstrengender werden sollte.“
Im ersten Moment waren sie enttäuscht gewesen, weil es nicht mal ein Buch gab, in das man sich eintragen konnte, aber dann hatte Nancy gemeint, dass sie das irgendwie an ihre Kindheit erinnern würde, und dass es doch bestimmt Spaß machen würde, mal wieder auf eine richtige Schnitzeljagd zu gehen – so wie früher als Kind. Also hatte er zugestimmt. Außerdem war Peters eigene Neugier auf die "Jagd" viel zu groß gewesen, um jetzt schon aufzuhören.
Auf dem rechten Pfosten des Hochsitzes war eine Zahlenreihe von oben nach unten eingeritzt. Als Peter die Zahlen von oben nach unten eingab, wechselte sein GPS auf die Karte von Südafrika. Verwundert hoben sich seine dichten Augenbrauen.
Nancy riet ihm, die Zahlen von unten nach oben zu probieren.
Das funktionierte.
Die beiden hatten in den letzten drei Monaten Verstecke an den seltsamsten Stellen gefunden:
Hinter einem alten U-Bahn-Schließfach, in einem abgebrochenen Mauerstück eines Friedhofs, in einer alten Scheune und sogar auf dem Empire State Building hinter einem Getränkeautomaten. Peter war gespannt, wo sich das Versteck dieses Mal befinden würde. Da konnte man ruhig schon mal ein bisschen wandern...
Aus dem „Bisschen“ waren mittlerweile eineinhalb Tage geworden.
Sieben vermeintliche Verstecke hatten sie schon abgeklappert, aber nichts gefunden außer weiteren Nachrichten und Hinweisen.
Sie waren einen Berg rauf- und runtergeklettert, hatten sich an einem Seil über einen reißenden Gebirgsfluss gehangelt, obwohl Nancy nicht ganz schwindelfrei war, und hatten in Schlafsäcken unter freiem Himmel übernachtet und waren zum Teil böse gestochen worden. Aber die Neugier trieb sie weiter. Bestimmt hatten viele andere vor ihnen schlappgemacht in dieser Wildnis. Doch sie würde man nicht kleinkriegen.
Peter stellte sich schon den Stolz vor, seinen Namen in das "Meldebuch" unter die Handvoll Auserwählter zu setzen, die ebenfalls den Schwierigkeiten getrotzt hatten...
Einmal hätten sie fast aufgegeben.
An der sechsten „Haltestelle“ – eine windschiefe Hütte, die nach verfaultem, nassem Holz stank – hatte es scheinbar keinen Hinweis gegeben, ausser:
„Die Tür weist Euch den Weg.“
Sie hatten die Tür untersucht und nichts gefunden. Sie hatten die ganze Hütte nach weiteren Türen durchsucht, aber immer noch nichts gefunden.
Peter war stinksauer gewesen.
"Marschiert für nichts und wieder nichts!" schrie er.
Am liebsten hätte er die Hütte angezündet.
Doch dann war Nancy aufgefallen, dass die Tür unnatürlich viele Nägel an Stellen aufwies, wo gar keine nötig waren. Schließlich fiel sie ja schon fast aus den verrosteten Angeln.
Zuerst hatte Peter nur verständnislos dreingeschaut: „Na und?“
Doch im selben Moment löste sich der Groschen mit Urgewalt:
„DAS IST ES!!! NANCY, DU BIST EIN SCHATZ!!!“
Er war auf sie zugesprungen und hatte sie in die Luft gerissen. Beinahe hätte ihr Kopf unliebsame Bekanntschaft mit der niedrigen Decke gemacht. Das hätte die Hütte wahrscheinlich nicht ausgehalten.
„Das ist es“, rief Peter nochmals.
„Schau Dir die Tür an. Die Nägel bilden ein B und ein L, wenn man sie aus der Ferne betrachtet. Für Breitengrad und Längengrad. In der Dunkelheit der Hütte ist das kaum zu sehen... OH Mann, dieser Wichser ist ja genial... Ich wette, hier haben die meisten aufgegeben... Ha, aber nicht mit mir. Nicht mit Peter Drymes... Das eine ist der Breitengrad, das andere der Längengrad. Jetzt müssen wir nur noch gucken, in welche Richtung sie einge"nagel"t wurden. Gehen wir davon aus, dass oben an der Tür Norden ist, wie bei allen Landkarten. Das L liegt nördlich, denn die Nägel sind in der oberen Hälfte, und das B östlich, denn die Nägel liegen rechts. Jetzt müssen wir nur noch die Anzahl der Nägel als Gradzahl verwenden und dann haben wir es...“
Diese Lösung hatte sich als richtig erwiesen und so hatten sie das siebte Versteck gefunden. Trotzdem war es eine Tortur gewesen, denn der Weg hatte durch ein Dickicht geführt, bei dem Peters Jagdmesser versagt hatte. Das nächste Mal würde er sich eine Machete zulegen müssen.
Und was war es für eine Erlösung an der letzten Station gewesen, endlich zu wissen, dass man fast am Ziel war. Die ganze Tortur hatte sich gelohnt.
Peter war es wirklich scheißegal, was in der Dose war. Hauptsache, sein Name war noch auf der ersten Seite des Buches. Vielleicht sogar ganz oben. Der erste Name auf einem weißen Blatt Papier:
Peter und Nancy Drymes.
„Da!...Da ist es!“
Unter einer Hecke konnte er das weiße Leuchten einer Plastikdose erkennen.
Das Ziel seiner Wünsche.
Sein Name ganz oben.
Ungeduldig rannte er vor, ließ sich auf die Knie fallen und riss die Dose unter dem Busch hervor. Er riß den Deckel auf und –
Erblickte ein digitales Miniaufnahmegerät, eingeschweißt in Plastikfolie.
„Oh Mann...das hat sich ja richtig gelohnt. Das wollte ich ja schon immer mal haben. Da ist ja der Schlüsselanhänger von mir richtig schäbig dagegen. Hier. Guck Dir das mal an, Nancy!“
Und damit reichte er die Schachtel an seine Frau weiter, die ihn gerade schnaufend und schweißüberströmt erreichte. Sie gab einen Ruf des Erstaunens von sich und nahm das Gerät aus der Dose und befreite es von der Folie.
„Guck mal, Schatz, da ist ja sogar ne Kassette drin", rief Nancy freudig aus, "...aber das Buch fehlt.“ Mit diesen Worten hielt sie Peter die Dose hin, die völlig leer war.
„Das kann nicht sein“, schnappte er.
Sein Name ganz oben!!!
Das durfte ihm keiner nehmen.
„Vielleicht gibt es ja noch – JA!!! – Da ist noch ne Dose.“
Während sich Peter bückte, um die zweite Dose, die weiter hinten stand, herauszuholen, schaltete Nancy das Band ein. Es war so laut gestellt, dass sogar Peter es rauschen hörte, während er die Dose zu sich heranzog. Dann hörte er ein Glucksen – es klang fast wie jemand, der einen Schluck aus einer Flasche trank oder unterdrücktes Gelächter.
Und dann eine Stimme, die ein Wort schrecklich in die Länge zog:
„....aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuut....“
Das war das Einzige, was Peter verstanden hatte.
„Was sagt er?“, hakte er nach, sich zu seiner Frau umdrehend, während er mit der anderen Hand die Dose aufriß. Etwas fiel heraus und Peter wollte schon gucken, was es war, als er bemerkte, wie sich das Gesicht Nancys zu einer Grimasse eiskalten Entsetzens verzog, während sie einen Satz zurück machte und die Hände abwehrend vor sich streckte.
Irritiert wandte sich Peter der Dose zu.
Und warf sie schreiend weg.
Dann rutschte er von den Dingen weg, die bereits vorher herausgefallen waren, während sich das Band aus dem Hintergrund wieder meldete und leise schmeichelte:
„...lauft...“
Es waren Finger.
Abgeschnittene, totenbleiche Finger.
Einige von ihnen waren sogar schon in Anzeichen von Verwesung übergegangen.
„...lauft – lauft – lauft...“ Die Stimme wurde langsam lauter – und schneller.
Peter wusste nicht, wie viele Finger es gewesen waren. Er wollte es auch gar nicht wissen. Es waren ZU VIELE.
„...lauft-lauft-lauft-lauft-lauft...“, produzierte das Band einen grausigen Vier-Viertel-Takt, das unterbrochen wurde von einem entsetzlich lauten Röcheln.
Erschrocken warf Peter den Kopf herum und starrte auf die Metallspitze, die aus Nancys Kehle ragte. Der Rest des Pfeiles ragte wie eine stählerne Obszönität hinter ihrem Kopf auf.
'Von oben geschossen', meldete der sachliche Teil seines Gehirns, während Peter entsetzt zusah, wie seine Frau in die Knie brach und schließlich auf dem braunen Boden aufschlug. Das Band hatte mittlerweile den Höhepunkt seines nervigen Stakkatos erreicht und eine langgezogene, schrille Stimme schrie:
„LAAAAAUUUUUFT!!!“
Und Peter Drymes sprang auf und rannte wie noch nie in seinem Leben. Ein Teil seines Gehirns, der das ganze immer noch nicht begriff, schrie verzweifelt:
'Aber es ist doch nur eine Schnitzeljagd!'
Ein weitaus dunklerer Teil seiner Gehirnwindungen begriff allerdings, dass er dieses Mal das Schnitzel sein würde.
ENDE