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Moderne Melancholie
Seine Haare wehten im Wind. Es war kalt auf dem Turm. Die Art Kälte, die kurz vor dem ersten Schnee herrscht. Wie eine beißende stechende Umarmung, die alle Wärme, alles Leben aus einem herauszieht. Er trug nur ein T-Shirt, das blaue mit dem Loch in der Brust. Aber es machte keinen Unterschied, er spürte nahezu gar nichts von der Kälte.
Die Worte seines Vaters hallten klirrend in seinem Kopf wider: „Ich kann das nicht mehr!“ Was zum Teufel konnte er nicht mehr? Jede Nacht betrunken nach Hause kommen? Seine Mutter anschreien? Ihn und seine Schwester ignorieren? Nun war er weg, bei einer anderen Frau, mit anderen Kindern. Zwei Mädchen, soweit er wusste. Sein Vater war weg und er war noch da, festgekettet. Alles was ihn in den letzten Jahren am Leben gehalten hatte, war der Gedanke nach dem Abschluss von hier wegzukommen, weit weg. Vielleicht ins Gebirge oder an die Küste oder noch besser, in eine Stadt, so groß, dass er darin untergehen konnte, niemandem auffiel. Aber nun war ihm klar, dass er vermutlich, wie der Großteil seiner Mitschüler hier in Medora, einer Vorstadt von Indianapolis, Hauptstadt der gepflegten Vorgärten und engstirnigen Menschen, ja seiner ganz persönlichen Hölle auf Erden, sterben würde. Denn irgendwer musste ja jetzt für seine Mutter und seine Schwester da sein. Was für ein Mensch würde sie jetzt allein lassen? Ein Mensch, wie sein Vater. Und so wollte er weiß Gott niemals werden.
Darum stand er jetzt hier, weit über den Dächern der Häuser, die Nase schon ganz rot vom kalten Wind. Ganz sicher nicht zum Springen, nein. Ganz davon abgesehen was für eine Sauerei das machen würde, wäre es schließlich auch nicht groß anders als die Koffer zu packen und weg zu fahren. Seine Mutter und Schwester auch im Stich zu lassen. Das war es nicht, wieso er hier stand. Wenn er ehrlich war, wusste er selbst nicht genau, was er da oben suchte. Vielleicht wollte er sich den Ort, an dem er nun wohl oder übel den Rest seines Lebens verbringen, verschwenden würde von oben ansehen. Vielleicht war er auch nur gekommen, weil er hoffte, 60 Meter über dem Boden, wieder etwas zu spüren. Ja, vielleicht hoffte er, das taube Gefühl, das er nun schon seit Tagen hatte, das bei dem man sich vorkommt, als würde man alles nur durch eine dicke Schicht Nebel miterleben, würde hier einfach vom Wind weggeweht. Aber so war es nicht. Der Nebel war noch da, schwer und kalt und unüberwindbar.
Ein letztes Mal ließ er den Blick über die Stadt schweifen. Da sah er es. Zwischen den Dächern und Kaminen, recht weit hinten, aber immer noch gut zu erkennen. Wände. Wände, die nicht grau oder weiß gestrichen waren, wie die restlichen in Medora. Sie waren bunt, voll mit Graffiti, die zwar schon ziemlich verblasst und zum Teil abgeblättert war, aber immer noch da. Genau wie er. Er war noch da.
Eine verlassene Fabrik, die geradezu darum bettelte, als Leinwand genutzt zu werden. Als Leinwand, an die er all die Orte projizieren konnte, zu denen er immer wollte, die er sich immer ausgemalt hatte. Er war vielleicht hier gefangen und konnte niemals zu ihnen reisen, aber sein Geist war frei, nicht eine Mauer um seine Gedanken, und so könnte er all die magischen Orte zu sich holen. Und er dachte an die noch nicht besprühten Wände der Fabrik und die noch halb vollen Sprühdosen in der Garage und an den Gesichtsausdruck von Mrs. Moor, wenn sie von Vandalismus in ihrem perfekten kleinen Städtchen hören würde. Und plötzlich spürte er sie. Die eisige Kälte, die ihn umgab und den Wind, der unter sein T-Shirt fuhr und ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus.