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Modell C
Johansson starrte auf das Bild. Altmodisch und regungslos hing es vor ihm an der leicht lumineszierenden Wand, Tinte auf Papier, schwarzweiß, in Holz gerahmt. So etwas sah man nicht mehr allzu oft. Auch das Motiv war ganz und gar unmodern, von der fehlenden Animation mal abgesehen: Es zeigte einen Fluss, der sich seinen stetig gehöhlten Weg durch einen Felsen bahnte. Johansson kannte diese Bilder, schrecklicher Kitsch, den sich nur noch wenige Menschen freiwillig an die Wand hängten. Und darunter, selbstverständlich, ein banaler Sinnspruch. Nur war dieser im Fall dieses Bildes nicht zu entziffern, zumindest nicht für ihn, obwohl er seine Brille trug. Um was für eine Schrift handelte es sich hier? Er vermutete irgendetwas Altertümliches aus dem asiatischen Raum, das würde auch den esoterischen Charakter des Bildes unterstreichen. Johansson kniff die Augen zusammen.
„Alles was manifest ist, kann zerstört werden, aber was nicht manifest ist, existiert außerhalb der Zeit.“ Er zuckte zusammen.
„Verzeihung, Herr Johansson. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Johansson drehte sich um. Hinter ihm stand die OP-Schwester, eine durchsichtige Box aus Kunststoff in den Händen.
Er lachte verlegen. „Ach, nein, schon gut… Ich habe Sie wohl nicht bemerkt.“
Die junge Frau erwiderte höflich sein Lachen, und deutete dann mit dem Kopf auf das Bild. „Sie sind nicht der Erste, der versucht, den Spruch zu entschlüsseln. Machen Sie sich nichts draus, das ist Sanskrit. Das hätte selbst damals, als man es noch benutzt hat, kaum jemand lesen können.“
Johansson nickte. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Esoterischer Blödsinn.
„Wenn Sie dann fertig mit Smalltalk sind, könnten Sie sich gerne darum kümmern, dass es hier ein bisschen schneller voran geht.“ Esthers Stimme war kalt. Johansson blickte über die Schulter der Schwester, die sich nun seiner Frau zugewandt hatte. Esther saß am Rand der gepolsterten Liege, ihre Kleidung feinsäuberlich zusammengefaltet neben ihr. Das leicht bläuliche Licht im Raum ließ ihren nackten Körper noch älter und verbrauchter aussehen, als er es ohnehin schon war. Johansson erschauderte mittlerweile jedes Mal, wenn er sah, was die Jahre aus seiner Frau gemacht hatten. Aber immerhin war das bald vorbei.
„Natürlich, Frau Johansson. Entschuldigung.“ Die Schwester trat nach vorne und begann hastig, die Kleidungsstücke in die Plastikkiste zu packen. „Hat man Sie über unsere Policy zur Lagerung von Wertgegenständen aufgeklärt? Sie können...“ - „Ja, ja.“, Esther unterbrach die junge Frau barsch. „Hat man. Mehrmals. Wir brauchen keine teuren Zusatzversicherungen. Sperren Sie meine Sachen mit denen meines Mannes zusammen weg. Oder hauen Sie sie in die Verbrennungsanlage. Hauptsache, Sie sorgen dafür, dass es hier etwas schneller geht.“
Johansson schämte sich für die Unfreundlichkeit seiner Frau, aber er wusste, dass auch sie sich schämte. Esther hasste ihren Körper wahrscheinlich noch mehr, als er es tat, und nun saß sie hier wie auf dem Präsentierteller vor einer deutlich jüngeren, attraktiveren Frau. Vermutlich würde es ihm in ein paar Stunden ähnlich ergehen - mit seinen 92 Jahren hatte auch er schon deutlich bessere Zeiten gesehen. Aber selbst die hübsche blonde Frau im Kittel würde das hier irgendwann noch durchmachen müssen. Johansson sah sie an. Vielleicht hatte sie es sogar schon.
„Keine Sorge, Frau Johansson, wir wären dann so weit. Wenn Sie sich hinlegen, kann ich die I.V. vorbereiten.“ Esther nickte und begann mühsam, sich in die Liegeposition zu begeben. Johansson eilte zu ihr, um sie zu stützen.
„Danke dir, Schatz.“ Sie lächelte. Die Kälte in der Stimme war verflogen, dafür war da nun etwas anderes. Angst.
Johansson hielt ihre Hand und erwiderte das Lächeln. „Mach dir keine Sorgen, Esther. Bald ist es vorbei. Das vergeht wie im Flug. Mach einfach die Augen zu. Der Rest erledigt sich von allein.“
Esther schloss die Augen. Sie zitterte. „Kein Eisberg?“ Johansson lachte. „Nein, Esther. Kein Eisberg.“
Die Schwester räusperte sich verlegen. „Es tut mir leid, Herr Johansson, aber Sie müssen Ihre Frau jetzt alleine lassen.“ Johansson nickte, drückte die Hand seiner Frau ein letztes Mal und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Als er den Raum verlassen hatte, war Esther bereits eingeschlafen.
***
Der Summer ertönte eine Minute zu früh. Veit fluchte leise und spuckte die Bleachingstreifen in den Papierkorb zu seinen Füßen.
Diesmal also kein hundertprozentig strahlend weißes Verkäuferlächeln. Aber das konnte Veit ausgleichen. Er drückte auf den Knopf auf seinem Schreibtisch und erhob sich, während sich ihm gegenüber leise summend die Tür zu seinem Büro öffnete.
Seine Kunden traten ein. Veit setzte sein breitestes Grinsen auf und stakste den beiden mit langen Schritten und ausgestreckten Armen entgegen.
„Herr Johansson, Frau Johansson, schön Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen heute?“ Der alte Mann lächelte verlegen und murmelte etwas vor sich hin, die Frau blieb stumm. Nicht gut also. Das sah man ihnen an. „Bitte, bitte, setzen Sie sich.“ Veit führte die beiden zu den Kunstledersitzen vor seinem Schreibtisch und beobachtete, wie das alte Paar bemüht Platz nahm.
Er musste sich anstrengen, die fröhliche Fassade aufrecht zu erhalten. Die Johanssons waren ein Trauerspiel. Er schon über 90, kahlköpfig, klein, dicklich, mit krummem Rücken. Sie war Anfang 80, wirkte mit ihrem lichten, schlecht kolorierten Haar, ihrer dünnen Haut und ihrem eingefallenen Gesicht aber eher noch älter als ihr Ehemann.
Mittlerweile hatten sie Platz genommen und Veit begab sich auch wieder zurück hinter seinen Schreibtisch. „Darf ich Ihnen vorher noch irgendetwas zu trinken anbieten? Kaffee vielleicht? Echte Bohnen, echte Sojamilch - bei uns bekommen Sie keine Synthetik in die Tasse gegossen. Für unsere Kunden nur das Beste, versteht sich.“
Veit lächelte zufrieden. Das war nicht einmal gelogen, die JIVA Group scheute tatsächlich kaum Kosten und Mühen, um es den Kunden so angenehm wie möglich zu gestalten - was es ihm als Verkäufer umso leichter machte.
„Nein, danke.“ Herr Johansson winkte freundlich ab, warf dann einen kurzen Blick zu seiner Frau, die ebenfalls den Kopf schüttelte. Veit ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
„Darf es irgendetwas anderes sein? Ein Wasser? Proteinshake?“
„Ein Wasser wäre sehr nett.“, antwortete Johansson. „Für mich und meine Frau.“ Veit nickte.
„Ein Wasser. Gute Wahl, sehr gesund. Dann schließe ich mich Ihnen heute doch einfach mal an, ich trinke bei der Arbeit sowieso viel zu viel Kaffee. Schlimm, wenn man das Zeug umsonst bekommt. Ich weiß, dass das nicht gut für den Körper ist, aber wie sagt man so schön: Man lebt nur einmal - nicht wahr?!“ Er lachte schallend über seinen eigenen Witz, bis er merkte, dass er der Einzige war, den dieser zu amüsieren schien und wandte sich dann dem Intercom zu, um drei Gläser gefiltertes Wasser für sich und seine Klientel zu bestellen.
Danach widmete er sich wieder den Johanssons, die unruhig und krumm vor ihm saßen.
„Also.“, eröffnete Veit feierlich: „Kommen wir zum geschäftlichen Teil. Haben Sie seit unserem letzten Gespräch eine Entscheidung getroffen?“
Herr Johansson nickte. „Ja. Wir haben uns dafür entschieden, dass meine Frau das Modell nimmt, das sie sich beim letzten Mal ausgesucht hat und ich bleibe bei der C-Klasse.“
Veit gab sich verständnisvoll. „Das ist eine gute Entscheidung. Glauben Sie mir, Sie sind nicht das einzige Paar, das sich für eine Kombination aus A- und C-Klasse entscheidet. Manche Ehemänner wählen sogar die D-Klasse, damit sie ihrer Frau etwas gönnen können. So wie es sich für einen guten Ehemann eben gehört, nicht wahr?“
Er bemerkte den leicht skeptischen Ausdruck in Johanssons Gesicht. Der alte Mann musterte ihn. Das war nicht unüblich, Veit kannte diesen Teil des Gesprächs bereits, er wusste welche Frage nun folgen würde, deswegen nahm er sie gleich vorweg: „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Johansson. Die Unterschiede bei Modellen für Männer sind oftmals nur marginal. Ich weiß, was sie sich jetzt denken. Ja, ich habe auch ein Modell zur Verfügung gestellt bekommen und ja, meines ist in der Tat Klasse A – aber das zahlt die Firma, das könnte ich mir von meinem Gehalt niemals leisten, glauben Sie mir das. Und rein qualitativ macht das Ganze keinen Unterschied, das versichere ich Ihnen. Die Haltbarkeit ist dieselbe und die Funktionen sind bei allen Kategorien vollkommen identisch.“
Funktionen. Selbst für Veit klang das jedes Mal wieder absurd. “Das was Sie bei uns in der Preisklasse C kaufen, kriegen Sie bei anderen Anbietern für das Doppelte. Und Sie machen mit dieser Entscheidung nicht nur ihre Frau glücklich. Warten Sie nur ab.“ Er zwinkerte Johansson grinsend zu und bemerkte zufrieden, dass seine Worte den alten Herren scheinbar besänftigt hatten. Und sogar Frau Johansson schien nun etwas unverkrampfter als zuvor.
Der kurze Moment der Entspannung verflog jedoch so schnell wie er gekommen war. Johansson räusperte sich krächzend, und richtete sich etwas auf. „Da wäre noch etwas. Meine Frau… Wir… machen uns nach dem Vorfall in Barcelona ein klein wenig...“
Seine Frau fiel ihm ins Wort: „Wie können Sie uns garantieren, dass wir dabei nicht sterben?!“
Der Summer ertönte. Das Wasser kam. Veit öffnete erleichtert die Tür und nutzte die kurze Gesprächspause, um sich zu sammeln. Er hasste diesen Teil. Vor zwei Monaten waren sieben Kunden von Juventech beim Prozess krepiert und er durfte es nun in jedem Gespräch aufs Neue ausbaden. Immerhin war er mittlerweile, nach Hunderten von Verkaufsgesprächen zu diesem Thema, geübt in Deeskalation. Veit faltete seine Hände und setzte seinen ernsten Blick auf.
„Ich verstehe Ihre Bedenken, Frau Johansson. Glauben Sie mir, niemand ist bestürzter über diese Todesfälle bei Juventech als wir - und eine hundertprozentige Garantie über den Erfolg des Prozesses kann Ihnen niemand garantieren, auch ich nicht. Fakt ist aber Folgendes: Wir hatten in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Todesfall bei JIVA. Sie müssen wissen, Juventech hat mit einer neuen Technologie gearbeitet. Man war der Meinung, dass sei effizienter, kostengünstiger, sicherer. Und herausgekommen ist eine Titanic.“
Frau Johansson runzelte die Stirn. „Eine was?“
Veit lächelte. „Eine Titanic. Die Titanic war ein Schiff, das…“
Die alte Dame unterbrach ihn schroff: „Ich weiß, was die Titanic war. Ich bin nicht dumm, junger Mann. Ich frage mich nur, was das mit unserer persönlichen Sicherheit zu tun haben soll.“
Junger Mann. Veit musste sich eingestehen, dass sie ihm wortlos besser gefallen hatte.
„Lassen Sie mich bitte erklären, Frau Johansson. Die Titanic galt als bahnbrechend. Unsinkbar. Ein Meilenstein der nautischen Technologie. Und was ist passiert? Sie rammte einen Eisberg und sank. Bei ihrer Jungfernfahrt. Das war natürlich eine furchtbare Tragödie, genauso wie die sieben Todesfälle in Barcelona eine Tragödie waren. Aber haben die Menschen nach der Titanic aufgehört, Schiffe zu benutzen?“
Er lächelte wieder. Er wusste, dass das Ehepaar die Antwort auf seine Frage kannte.
„Sehen Sie. Die Titanic ist vor über 200 Jahren gesunken und wir bauen immer noch Schiffe, heute mehr denn je. Und wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Juventech wollte Innovation und ist gescheitert. Bei JIVA setzen wir auf Altbewährtes - und das mit Erfolg. DAS kann ich Ihnen garantieren.“
Die Alte antwortete nicht, ihr Mann nickte stumm. Veit lehnte sich zufrieden zurück. Er hatte die beiden im Sack. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Verträge unterschrieben auf seinem Tisch lagen.
„Eine Frage hätte ich noch.“ Wieder war es Herr Johansson, der sich schüchtern zu Wort meldete.
„Kann ich ihn mir persönlich anschauen?“
Sie durchquerten den Flur hin zu den Fahrstühlen und fuhren ins vierte Untergeschoss. Alleine der Weg zum Lift hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Die Johanssons waren nicht mehr gut zu Fuß, also hatte Veit versucht, sie so charmant wie möglich umzustimmen und von einer persönlichen Besichtigung abzuhalten, aber das alte Ehepaar blieb standhaft. Es kam nur sehr selten vor, dass sich ein Kunde in die Lagerräume verirrte, die meisten gaben sich mit Bildern oder Videoaufnahmen ihrer Modelle zufrieden, aber auch bei JIVA war der Kunde König und letzten Endes sicherte Veit lieber einen Verkauf, als weiter unnötig mit penetranten Klienten wie Frau Johansson zu diskutieren.
Dennoch verfluchte er nun, dass er zugestimmt hatte. In einer Hinsicht hatte JIVA nämlich doch Kosten gespart: Es gab außer den Fahrstühlen kein sinnvolles Transportsystem im Gebäude, das den meist gebrechlichen oder kranken Kunden den Weg durch die langen Korridore erleichtert hätte. Veit musste unweigerlich den Kopf schüttelten, als er sah wie Herr und Frau Johansson aneinander gestützt durch die Gänge wankten. Da schickte man Menschen zu den Marskolonien, aber konnte hier nicht einmal ein gottverdammtes Laufband installieren.
„Da wären wir.“ Veits bemüht fröhliche Worte klangen nach zehn Minuten quälend langsamen Fußmarsches durch das Lager auch für ihn selbst wie ein Befreiungsschlag. „Modell C 434-76. Ihr Modell, Herr Johansson.“
Er beugte sich über den Retinascanner und öffnete die Tür.
Johansson trat ein. Im kleinen, spärlich beleuchteten Raum stand ein Bett, über das sich eine ovale Plexiglasdecke wölbte. Bis auf das Piepsen und Summen diverser medizinischer Geräte war es still. Der Mann im Bett war nackt. Er schlief. Schläuche führten aus Nase und Mund in die Geräte am Rand des Bettes. Veit grinste die Johanssons an und brach das Schweigen. „Also was sagen Sie? Sind wir im Geschäft?“
Herr Johansson starrte lange ins Zimmer, warf einen Blick zu seiner Frau und nickte dann. „Ja… Ja, ich denke den nehme ich.“
***
Johansson sah sich im Spiegel an. Die Haare – seine Haare, betete er sich erneut vor – waren etwas zu lang. Schwarze Locken mochte er überhaupt nicht, auch wenn er wusste, dass sie Esther sehr gut gefielen. Das musste definitiv weg. Mit dem Rest, starke Gesichtszüge, leicht brauner Teint, markante Nase, konnte er sich aber durchaus anfreunden. Auch der Körperbau war in Ordnung, ein bisschen klein höchstens. Der schmierige Verkäufer bei JIVA hatte ihn wohl tatsächlich nicht übers Ohr hauen wollen: Das hier war wirklich ein gutes Modell.
Johansson hatte sich noch einmal erkundigt, wer der Mann gewesen war, der ihm nun seinen Körper zur Verfügung stellte. Herkunftsland Afghanistan, Vorname Nassim. Mehr hatte man ihm nicht sagen können. Aber ganz genau wollte Erik Johansson es auch nicht wissen. Er war zufrieden mit seinem neuen Ich – auch wenn er nun ernsthaft darüber nachdachte, seinen Namen legal ändern zu lassen. Das passte nicht mehr so wirklich zusammen.
Esther rief von unten. Johansson beeilte sich, seine Krawatte fertigzubinden und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Das Hemd saß nicht richtig – ein Kauf, den er vor dem Transfer getätigt hatte, eine Schätzung nach den Maßen die man ihm bei JIVA mitgeteilt hatte. Aber für den Moment reichte es, Til und Zoe würden es sicherlich verstehen, dass er und seine Frau noch keine Zeit gehabt hatten, sich mit maßgeschneiderter Kleidung einzudecken.
„Ich komme sofort!“, rief er zurück, fühlte sich unwohl beim Klang seiner eigenen Stimme.
Sein Blick fiel auf die Kommode vor ihm. Die Fotodiashow im digitalen Rahmen spulte gerade wieder die Bilder ihrer Flitterwochen ab. Darauf ein leicht dicklicher, kleiner Mann und eine wunderschöne Frau, Proto-Erik und Proto-Esther. Glücklich. Sich selbst genug.
Johansson schaltete den Rahmen aus und ging nach unten.