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Mitternachtstor
Es war schon dunkel, als er den Eingang erreichte. Er stand vor einem riesigen, rostigen Tor, welches im Mondlicht kaum zu erkennen war. Das Tor knarrte laut, als er es öffnete und leise hindurchging. Er befand sich auf einem gepflasterten Weg. Die Laternen, die sich rechts und links vereinzelt vorfanden, spendeten nur schwaches Licht. Wo bin ich? Grabsteine. Ein Friedhof? Vorsichtig ging er weiter. Er war angespannt, fühlte sich unwohl, sah sich ständig um. Sein Kopf wurde von einem unangenehmen Druck durchzogen. Als er zu seiner Linken in die Dunkelheit blickte, erschrak er. Er bemerkte die Silhouette einer Gestalt, die sich schemenhaft im Nebel abzeichnete. Es war mühsam zu atmen. Seine Brust war schwer und brannte wie Feuer. Er hatte Angst. «Hallo? Ist hier jemand?» Stille. Vorsichtig ging er ein Stück auf sie zu. Er erinnerte sich an die Taschenlampe in seiner Jackentasche. Erleichtert atmete er auf. Im Lichtpegel der Lampe erkannte er eine Statue. Es war nichts weiter als eine Engelsfigur, die auf einem Grabstein errichtet wurde und ihn traurig anblickte.
«Gott sei Dank», sagte er leise.
«Gott wird dir hier nicht helfen», flüsterte ihm eine Stimme sanft ins Ohr.
Voller Entsetzen wirbelte er herum. Er befand sich einige Meter abseits des Weges, unter einer großen Eiche. Die Laternen am Wegrand gaben in dieser Distanz kaum Licht. Er war nicht allein. Das Lichtschein seiner Taschenlampe flackerte wild. Er hatte Mühe seine Hände ruhig zu halten - nichts zu erkennen. Spielen mir meine Gedanken wieder einen Streich? Noch immer spürte er den feuchten Atem an seinem rechten Ohr. Er konnte den fauligen Geruch schmecken. Übelkeit überkam ihn. Die Angst wurde unerträglich. Er rannte los. Ohne Ziel. Er wollte nur weg von hier. Wieder am Tor angelangt zog er mit aller Kraft an einer der beiden schweren Eisentüren. Sie rührte sich nicht. Bei der Anderen war er gleichermaßen erfolglos. Das Tor war verschlossen. Er war eingesperrt. Seine Hände umklammerten fest die Taschenlampe als er sich langsam umdrehte.
Vor ihm standeine junge Frau. Sie hatte langes dunkles Haar und war in etwa Mitte zwanzig. Sie trug keine Schuhe, dafür ein langes Kleid, das bis zu den Knien reichte. Es war in hellen Tönen gehalten, allerdings leicht verschmutzt. Sie sah ihn ausdruckslos an.
«Wer bist du?», fragte er.
«Was machst du hier?»
Äh...ich bin Ron.»
«Sei still!», sagte sie plötzlich.
«Sie können dich hören.»
«Wer kann uns hören?», wollte er wissen.
«Nicht uns, nur Dich!», erwiderte sie.
Sein Herz pochte und er spürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Seine Atmung wurde immer schwerer. Er musste diesen Ort verlassen. Sofort. Ron leuchtete seitlich entlang der Mauer, die vermutlich das gesamte Gelände umgab. Der Lichtpegel seiner Lampe verlor sich in der Dunkelheit. Als er den Leuchtkörper zu seiner Rechten bewegte, fiel ihm etwas auf - er war allein. Keine Frau. Nichts zu sehen. Nur der endlos erscheinende, gepflasterte Weg. Sie war verschwunden. Er wusste, dass er in Gefahr war. Er war sich sicher, dass es das Beste sei, schnell einen Weg nach draußen zu suchen. Doch irgendetwas ließ ihn bleiben. Sein Herz wurde ruhiger, seine Atmung flacher. Ich muss mich beruhigen. Ron beschloss, den Weg bis zur anderen Seite zu gehen. Vielleicht gab es dort ein weiteres Tor, durch das er den Friedhof verlassen konnte. Er sah weder rechts noch links, drehte sich nicht um. Das Rascheln des Laubes machte ihn nervös. Nur der Wind. Er ging weiter. Überraschend blieb er stehen. Vor sich fand er völlige Finsternis. Der weitere Teil des Weges war nicht beleuchtet. Mit eingeschalteter Taschenlampe ging er zögerlich weiter. Die Laternenlichter hinter ihm verblassten. Dunkelheit hüllte sich mehr und mehr um seinen Körper. Das Licht seiner Lampe wurde schwächer. Der Pegel reichte in etwa 5 Meter weit. Na toll! Langsam und vorsichtig tastete er sich immer weiter in die Nacht. Plötzlich Schritte. Ein paar Meter hinter ihm. Er lief weiter. Die Schritte wurden schneller und lauter. Er beeilte sich.
«Bleib bei uns!», ertönte eine Stimme.
«Verlass uns nicht!», schrie eine Andere.
Ron spürte einen stechenden Schmerz in seinem linken Fußknöchel als er zu Boden stürzte. Die letzte und einzige Lichtquelle glitt ihm aus der Hand und fiel mit einem dumpfen Klicken auf einen der gepflasterten Wegsteine. Der Lichtschein erlosch. Benommen und vor Schmerzen stöhnend blieb er liegen. Er war über etwas gestolpert. Ein Stein. Keine Ahnung. Er versuchte ruhig und tief zu atmen. Sein Knöchel pochte ungezähmt. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Von einem Moment zum Anderen wurde er ruhiger. Es herrschte eine angenehme Stille um ihn herum. Eine wohlige Wärme durchströmte seinen Körper. Er fühlte sich sehr wohl. Er hob den Kopf und sein Blick fiel auf eine Tür, die sich wenige Meter vor ihm befand. Die Tür öffnete sich magisch wie von Geisterhand. Ron wurde von einem hellen Licht geblendet, sodass er seine Augen mit seinem rechten Arm schützen musste. Auf einmal sah er die Frau. Sie war von gleißendem, weißem Licht umgeben. Sie trug wunderschöne, goldene Schuhe. Ihr Kleid war makellos. Der Wind spielte mit den Strähnen ihres dunklen Haares. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. Der Schmerz in seinem Knöchel war verschwunden. Mit beiden Beinen stemmte er sich auf.
Regungslos hielt er inne. Noch immer stand die Frau mit ausgestreckter Hand vor ihm und winkte ihn einladend zu sich. Sie lächelte freundlich.
«Komm zu mir!», sagte sie sanft und friedlich.
«Hab keine Angst! Noch ein paar Schritte!»
Zögerlich ging er auf sie zu.
«Wir verlieren ihn!»
«Nein!»
Wie auf Wolken schwebend bewegte er sich sanft weiter.
Die Junge Frau sah ihn schweigend an. Ihr Blick verfinsterte sich. Ihre Haut wurde blass und ihre Augen wirkten plötzlich überraschend bedrohlich. Sie riss den Mund auf und rannte geradlinig mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Das Licht um sie herum verschwand. Mit einem lauten Kreischen packte sie Ron mit beiden Händen. Nur unter großer Anstrengung konnte er ihrem Zug standhalten. Der Mondschein wurde von schwarzen Wolken verdunkelt, als es zu Regnen begann.
Ron gelang dem eisigen Griff der jungen Frau zu entfliehen, als sie ihn erneut attackierte und er durch einen Schlag hart zu Boden ging.
Mühselig rappelte er sich auf. Donner und Blitz erhellten die Nacht. Kaum wieder auf den Beinen umklammerte ihn die Frau mit aller Kraft. Durch ein lautes Dröhnen schrak er auf, als ihn der Blitzschlag von der Frau trennte.
«Wir haben ihn!», hörte er hinter sich, als er das Bewusstsein verlor.
Träge öffnete er die Augen. Sie brannten wie Feuer. Sein Schädel dröhnte. Die grelle Helligkeit um ihn herum erschien unerträglich.
«Er kommt zu sich!»
«Ron? Können Sie mich hören? Ich bin Dr. Murphy. Wie fühlen Sie sich?»
Wie betäubt versuchte er klare Gedanken zu fassen. Sein Mund fühlte sich trocken an. Seine Zunge verstaubt.
«Meine Brust tut weh.»
«Sie hatten einen schweren Verkehrsunfall. Ihr linker Fußknöchel wurde komplett zertrümmert. Ihr Kopf wurde mehrfach gegen das Lenkrad ihres Fahrzeugs geschleudert wodurch sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Wir mussten sie reanimieren». Ihr Herz hatte fast 3 Minuten nicht geschlagen. Sie wären fast gestorben. Erst nach der Defibrillation hatte Ihr Herz wieder leichte Aktivität. Sie hatten großes Glück.» Regungslos sah er Dr. Murphy an, der sich abwandte und den Raum verließ.
Eine Schwester brachte ihm Medizin.
«Hier, nehmen Sie die. Die sind gegen ihre Schmerzen.»
Er war in Sicherheit.