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Mitternachtstasten

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02.03.2018
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Mitternachtstasten

Gegen Mitternacht kehrte ich zum Jugendhaus zurück. Die einsame Wanderung durch den abendlichen Wald, mein Eintauchen in die Schatten alter Fichten und Buchen, die mich willkommen hießen wie einen vertrauten Freund, hatte die Brandung in meinen Gefühlen beruhigt. Den weiträumigen Gebäudekomplex der alten Klosteranlage umhüllte das Schweigen der Nacht. Die weiß verputzten Fassaden wirkten in der Dunkelheit wie überdimensional breite Bettlaken, aufgehängt an einer unsichtbaren Schnur, vom Licht des Mondes wie in die Farbe zerlassener Butter getaucht. Die gotische Abteikirche mit ihren Spitzbögen strebte schemenhaft in den schwarzen Himmel, als wollte sie mit der Spitze ihres Turmes die Sterne dieser warmen, klaren Sommernacht kitzeln. Meine langsamen Schritte knirschten im Kies, hinter mir drang aus dem Wald der schauerliche Ruf eines jagenden Waldkauzes. Er klang nach d-moll. In Mollstimmung war ich aufgebrochen, ob ich in Durstimmung zurück kehrte, konnte ich nicht mit der Klarheit erkennen, die ich mir wünschte. Ich ging in den rechteckigen Innenhof, den das zweigeschossige Jugendhaus von drei Seiten umgab und an dessen vierter Seite sich die wuchtige Sandsteinmauer der Kirche empor türmte wie eine aus dem Boden herauswachsende Felswand. Die meisten Fenster standen weit offen und schickten ihr Schweigen in die Nacht hinein. Nur aus jener Richtung, in der der Partyraum lag, im Keller des Hauses, waren Lachen und Stimmengewirr der letzten Schlaflosen zu hören. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt zog es mich ich in den Versammlungssaal mit dem abgenutzten Parkettboden, der viele Geschichten über Versammlungen, Feste, Tänze und Diskussionsveranstaltungen berichten könnte. Nach all dem war mir jetzt nicht zumute. Weit standen die großen, doppelflügeligen Fenster offen. Die abendliche Sommerwärme hing in dem großen Raum wie ein schwerer Vorhang. Kein Lufthauch strich über mein von meinem Streifzug erhitztes Gesicht. Im Mondlicht fiel mein Blick auf den schwarzen Flügel, der Tastaturdeckel war geöffnet als wartete er auf mich. Als riefe er mich. Ich strich mit meinen Fingerspitzen über die Tasten, der Mond leuchtete hell genug um sie zu erkennen. Zu einer so späten Stunde hatte ich noch nie gespielt, und schon gleich gar nicht in so einer nächtlichen Stimmung, die mir das Gefühl gab allein mit mir in einer leeren Welt zu sein. Allein ohne es zu wollen. Ohne es je gewollt zu haben. Ich wollte spielen. Ich musste spielen. Für mich. Nie war es anders gewesen. Das Klavier war meine Schwester, mein Bruder, mein intimer Freund, mein inniger Vertrauter. Ich schlug, nein, ich tippte die ersten Tasten an. Ein warmes As-Dur, singend und knospenzart, wurde von den Saiten des Instruments in den Raum getragen und füllte den Raum und die Nacht aus. Beethovens Adagio cantabile aus seiner Sonate Pathetique. Als sei es für eine Stunde wie diese komponiert worden. Die Klänge entfalteten sich aus dem Spiel meiner Finger, meine Gefühlswelt stand weit offen, um diesem gesungenen Adagio Fülle, Widerhall und eine Prise Ernsthaftigkeit zu geben, ohne die ich Beethoven nicht spielen wollte. Gelegentlich unterbrochen durch ein verhaltenes Aufbegehren im Bass, das sich sofort wieder verlor wie das ferne Rumpeln eines Sommernachtgewitters.
Eine leise, kaum spürbare Bewegung erreichte mich. Unbestimmt zunächst, von woher sie kam. Lautlos wie das Vorüberhuschen einer durch die Nacht pendelnden Fledermaus. Ich schaute auf, ohne mein Spiel zu unterbrechen, und im Halbdunkel fiel mein Blick auf kurz geschnittenes blondes Haar. Sonja saß, stiller noch als eine Fledermaus, unbeweglich und verkehrt herum auf einem Stuhl, ihr Kinn in eine Handfläche gestützt, ihr Ellbogen ruhte auf der Stuhllehne. Das fahle Licht der Nacht ersetzte Ihre braunen Augen durch zwei dunkle Punkte in einem mondhellen, schmalen Gesicht, die groß und etwas eulenhaft zu mir herüberschauten. Ein Anblick, als wollte sie portraitiert werden. Ich spielte den Satz zu Ende, jetzt für sie, ihre stille Gegenwart, als schriebe ich ihr einen Brief aus Harmonien und Melodien. Die letzten Akkorde hauchte ich in die Tasten und ließ sie lang ausklingen.
Sonja war näher gekommen, stand jetzt neben dem Flügel, der lautlose Nachtfalter, der am Tag ein bezaubernder Schmetterling war, von dem ich nicht meine heimliche Betrachtung reißen konnte. Ihr Blick, jetzt so nah bei mir und für mich lesbar wie eine Geschichte in Großdruck, drückte eine seltsame Betroffenheit aus. Eine Mischung aus Entzücken und Bestürzung, die es so, dachte ich, nicht geben kann. Ihre glatten blonden Haare umrahmten diesen Blick, als wäre er ein sorgsam zu hütendes Kunstwerk.
„Spiel das noch mal!“ Sie sprach leise. Sie schaute mich unverwandt an. „Bitte!“ In ihren nachdenklichen, forschenden Augen stand ein Flehen, das mich geradewegs ansprang.
Ich erfüllte ihren Wunsch, es hätte ebenso gut mein eigener sein können. Etwas in meinem Leben war anders geworden, unerwartet, und es fühlte sich an wie eine fremd-vertraute Umarmung. Während ich spielte, legte sie eine Hand auf den Flügel, vorsichtig, sanft, als hätte sie Angst die Klänge zu vertreiben. Zwischen uns brach eine Nähe auf, die keine Worte brauchte.
„Das ist so schön! Ich könnte dir die ganze Nacht lang zuhören!“ Feucht schimmerten ihre Augen wie Öltropfen auf einer Wasseroberfläche. Ihre
Hand wanderte vom Flügel auf meine Schulter. Ich sagte ihr, dass ich sehr gern noch ein weiteres Stück für sie spielen würde. Ebenfalls in As-Dur, dieser weichen, singenden und unsentimentalen Tonart. Sie zog einen Stuhl heran, schob ihn neben den Klavierhocker. Sooft meine linke Hand beim Spiel der Tasten in die Bassregion hinunterwanderte, berührten sich unsere Arme. Sie zog ihren nicht fort, und ihre unbewegliche Nähe gab mir Zuversicht und Sicherheit. Ich spielte die singenden Akkorde von Schuberts Impromptus nur für uns, als säßen wir in einem leicht dahin treibenden Boot, allein auf einem weiten See, dem Spiel leichter Wellen ausgesetzt. Wieder still und beinahe andächtig saß sie neben mir, das nachdenkliche Mädchen, das jeden Tag eine Tiefenschicht mehr in mir freigelegt hatte. Sie besaß die Fähigkeit im stillen Zuhören treffendere Antworten zu finden als es gesprochene Worte geschafft hätten. Jedes Mal, wenn unsere Arme sich berührten, zerbrach in mir ein weiterer Stein jener festgefügten Mauer aus Zurückgezogenheit und Einsamkeit. Nach dem letzten Akkord legte sie ihren Kopf an meine Schulter. Ihr weiches Haar strich über meine Wange, mein Puls hämmerte und stand im völligen Widerspruch zu dem, was ich am Klavier gespielt hatte. Endlos langsam fielen unsere Blicke ineinander, ihr forschend-fragender und mein – ich weiß es nicht. Die Nacht erblühte hell und warm und singend in As-Dur, als unsere Lippen sich behutsam tastend trafen.

 
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Hallo Luchskralle,

hier dann mal meine Leseimpressionen.
Zuerst zur Form.

Wie von einer unsichtbaren Hand geführt[,] zog es mich ich in den Versammlungssaal mit dem abgenutzten Parkettboden

Nach alldem war mir jetzt nicht zumute.

Das sind ja nur ein paar kleinere Fehler. Aber jetzt kommt ein Punkt, der mir beim Lesen immer wieder aufgefallen ist: Die Satzkonstruktion

Im Mondlicht fiel mein Blick auf den schwarzen Flügel, der Tastaturdeckel war geöffnet als wartete er auf mich

Die zwei Hauptsätze durch ein Komma zu verbinden klingt meiner Meinung holprig.

Ich strich mit meinen Fingerspitzen über die Tasten, der Mond leuchtete hell genug um sie zu erkennen

Hier ebenfalls. Der zweite Satzteil würde als Nebensatz meiner Meinung nach besser klingen, sonst wirkt das sehr ruppig.

und schon gleich gar nicht
Das klingt für mich, um in der musikalischen Analogie zu bleiben, wie ein besonders böser Tritonus. :D


ohne die ich Beethoven nicht spielen wollte. Gelegentlich unterbrochen durch ein verhaltenes Aufbegehren im Bass, das sich sofort wieder verlor wie das ferne Rumpeln eines Sommernachtgewitters.

Auch hier wieder die Satzkonstruktion.

Sonja saß, stiller noch als eine Fledermaus, unbeweglich und verkehrt herum auf einem Stuhl, ihr Kinn in eine Handfläche gestützt, ihr Ellbogen ruhte auf der Stuhllehne.

Den Satz musste ich wegen seiner Verschachtelung zweimal lesen, bis ich mich zurecht gefunden hatte.

Summa summarum: Achte auf deine Satzkonstruktion. Verwende häufiger Nebensätze und versuche dich prägnanter auszudrücken. Musik geht durchs Ohr. Das ist ein passiver Genuss, weswegen ein Ausschweifen da durchaus ganz angenehm ist. Lesen ist ein aktiver Genuss. Wenn man da zu ausschweifend wird, dann verlässt einen Kraft, Lust und Fokus ;)

Nun zum Inhalt.

Ich selbst bin, wenn auch nicht ungebildet, kein Musikus. Die Analogie mit Dur und Moll ist ja noch unproblematisch. Aber bei

Beethovens Adagio cantabile aus seiner Sonate Pathetique

bin ich raus. Deine Geschichte ist entweder für ein relativ enges, oder sehr recherchefreudiges Publikum geschrieben. Ich denke darüber bist du dir im Klaren, aber zeitweilig waren die vielen musikalischen Analogien schon anstrengend.
Ich bin gerne im Boot Gefühle mit Musik auszudrücken oder zu vergleichen, aber hier war mir das einfach too much, tut mir leid :lol:

Leider konnte auch keine aufgebaute Spannung oder ähnliches diesen Umstand verändern. Die Geschichte ist als Jugend und Romantik bezeichnet, also erwarte ich nicht meine Hände ins Sofa zu krallen, aber wenn jemand mit den musikalischen Analogien nichts anfangen kann hat er in deiner Geschichte nicht mehr viel, was ihn faszinieren würde.

Also minimum, wenn du die Analogien in der Anzahl behalten möchtest: Satzbau und Grammatik überarbeiten :)

Liebe Grüße
Brandon

 
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Hallo Luchskralle,
gar keine leichte Geschichte, gar keine leichte Aufgabe, Musik in eine Erzählung so einzuflechten, dass daraus kein gefühlsduseliger Schmus wird, dass man da nicht an Plattitüden pappen bleibt, die abgeschmackt sind, dass man sich nicht an einer bildungsbürgerlichen Ranzigkeit orientiert, was man halt von Beethoven halten muss und Schubert und natürlich As-Dur.
Ja, das ist nicht leicht und ich muss sagen, ich mag Deinen Text. Obwohl ich ein paar Einwände habe, die ich gerne im Detail noch aufzeige. Aber insgesamt gefällt mir die Szene. Die Atmosphäre des letzten Abends einer Klassenfahrt, auf der man vieles erhofft und weniges gelingt, zu der man mit Träumen aufbricht und desillusioniert heimkommt. Und dann eben hier der letzte Abend, wo noch ein paar Nachtgeister im klösterlichen Jugendhaus rumschwirren und man sinniert über das Versäumte und hockt sich verträumt hin und spielt natürlich den zweiten Satz aus der Pathétique. Was sonst. Und dann kommt es endlich. Juchuh! Also, das Setting ist sehr plausibel, sehr nachvollziehbar, das hat jeder mal erlebt mehr oder weniger. Das ist schon ein magischer Moment, der zieht einfach.
Mein Einwände dann vielleicht auf vier Ebenen: Sprechen über Musik, zur Ausdrucksästhetik allgemein, zur Metaphorik, zur Frage, ob es zeitgemäß ist.
Ich fang mal mit Punkt vier an: Du bedienst durchwegs den hohen Ton. Da klingt manchmal antiquiert, ist mir aber egal. Modern kann man das wahrscheinlich nicht nennen. Da habe ich aber auch zu wenig Stilkenntnis, um das genau zu beurteilen. Jedenfalls ist der Text nicht experimentell. Aber wie gesagt: Für mich stimmt die Atmosphäre, gleichzeitig sehe ich es dennoch nicht ganz unproblematisch, was mich zu Punkt zwei führt.
Die Geschichte geht parallel mit dem ästhetischen Modell des persönlichen Ausdrucks, den natürlich auch die Musik transportiert, oder besser, die seit der Zeit der Stürmer und Dränger zu ihrem innersten Wesen gehört. Das ist natürlich völlig legitim, so sind Beethoven und Schubert auch gedacht. Gleichzeitig ist natürlich bei Schubert vor allem das Motiv der Brüchigkeit nicht zu vernachlässigen und bei Beethoven im Grunde auch nicht. Und da ist der Text natürlich sehr auf‘s Schwärmerische angelegt, auf das Versenken in der Gegenwelt, auf poetische Bilder ohne Bruch. Ja, dass es als Nocturne konzipiert ist, das ist schon Nacht und dunkel. Aber ich hätte einen tieferen Graben gern gelesen. Man kann natürlich auch ein wenig struktureller an die Musik rangehen, das wäre mehr abseits von den üblichen Gefühlspfaden. Aber das würde eine ganz andere Herangehensweise erfordern. Im Grunde ist damit auch das gesagt, was ich mit „Sprechen über Musik“ meine. Ich lese immer gerne Beschreibungen von Musik, die Bilder bedienen, die ich noch nicht gelesen habe. Das ist sauschwer, weil man immer auf ähnliche Sachen kommt. Aber wirklich zünden tun dann doch nur Sachen, die überraschen in dem Sinn: Mensch, so habe ich das noch nicht gelesen, das Bild ist wirklich originell. Und das haben eben Leute, wie Hoffmann schon so weit getrieben und eben im Sinn des Ausdrucks, dass eine andere Sichtweise erfrischend wäre.
Was mich grundsätzlich von Beginn an ein wenig überfordert, ist die Fülle an Metaphern. Punkt drei. Die sind für mich oft instinktsicher gesetzt. Aber in dem Dauerbeschuss wird der Text vor allem am Anfang sehr bedeutungsschwer. Da könnte ein wenig Leichtigkeit nicht schaden. Das ist jetzt recht unkonkret und müsste an Textstellen nachgewiesen werden. Dazu fehlt mir grad die Zeit. Im Grunde ist es für mich von Beginn an ein Overkill an Attributen, der mich dann in der zerlassenen Butter übersättigt zurücklässt.
Und dann gibt es noch eine Menge anderer Dinge, die man noch im Detail bemerken und anführen könnte. Sprachlich und inhaltlich und so weiter. Ich habe jetzt nur ein paar Aspekte behandelt.
Insgesamt aber, trotz der Einwände, gern gelesen.
Herzliche Grüße
rieger

 
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Hallo Luchskralle. Und da du noch nicht so lange dabei bist und ich noch nichts von dir kommentiert habe, dürfte dich auch ein "Herzlich Wilkommen" nich stören.;)

Ich habe noch ein paar Kleinkramanmerkungen zu ergänzen.

Der schauerliche Ruf eines jagenden Waldkauzes. Es klang nach d-moll
Moll wird laut meiner Autokorrektur großgeschrieben.
d-Moll ist eine Tonart und Tonarten beschreiben nicht die Art von einzelnen Tönen, wie man aufgrund des Namens vielleicht vermuten könnte, sonder die Beschaffenheit von Melodien, Tonleitern, oder allgemein Tonfolgen.
Bei d-Moll sind die Kennzeichen zum Bespiel Halbtonschritte zwischen dem 2. und 3. und zwischen dem 5. und 6. Ton einer Tonleiter und dass der Letzte Ton ein D ist. Wie dein Prot das alles aus dem ein- bis zweitönigen Ruf einer Eule herauslesen will, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen und lässt mich ernsthaft zweifeln.

ob ich nun in Durstimmung zurück kehrte
Nach meinem Sprachgefüchl müsste zurückkehrte zusammen geschrieben werden. Es heißt ja auch zurückkehren, nicht zurück kehren, zumindest laut Duden ...

die mir das Gefühl gab allein mit mir in einer leeren Welt zu sein
Da muss ein Komma hinter "gab"
Der Satz ist mMn irgendwie überladen.
Mir würde reichen und besser gefallen: "die mir das Gefühl gab, allein in dieser Welt zu sein."

Eine leise, kaum spürbare Bewegung erreicht mich
Ich würde eher sowas sagen wie: "ich registriere/bemerke eine leise, kaum spürbare Bewegung"

kurz geschnittenes blondes Haar
Komma zwischen geschnittenes und blondes.

Das fahle Licht ersetzte Ihre braunen Augen
ihre klein.

eine Geschichte in Großdruck, drückte
Na ja, du weist ja wie unbeliebt hier Wiederholungen sind ... Zwei Wörter aus der Wortfamilie "Druck"

fühlte sich an wie eine fremd-vertraute Umarmung
Komma nach "an"

Öltropfen auf einer Wasseroberfläche. Ihre
Hand wanderte vom Flügel auf meine Schulter
Der Absatz muss weg.

Viele Grüße, Anna

 

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