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Mitternachtstasten
Gegen Mitternacht kehrte ich zum Jugendhaus zurück. Die einsame Wanderung durch den abendlichen Wald, mein Eintauchen in die Schatten alter Fichten und Buchen, die mich willkommen hießen wie einen vertrauten Freund, hatte die Brandung in meinen Gefühlen beruhigt. Den weiträumigen Gebäudekomplex der alten Klosteranlage umhüllte das Schweigen der Nacht. Die weiß verputzten Fassaden wirkten in der Dunkelheit wie überdimensional breite Bettlaken, aufgehängt an einer unsichtbaren Schnur, vom Licht des Mondes wie in die Farbe zerlassener Butter getaucht. Die gotische Abteikirche mit ihren Spitzbögen strebte schemenhaft in den schwarzen Himmel, als wollte sie mit der Spitze ihres Turmes die Sterne dieser warmen, klaren Sommernacht kitzeln. Meine langsamen Schritte knirschten im Kies, hinter mir drang aus dem Wald der schauerliche Ruf eines jagenden Waldkauzes. Er klang nach d-moll. In Mollstimmung war ich aufgebrochen, ob ich in Durstimmung zurück kehrte, konnte ich nicht mit der Klarheit erkennen, die ich mir wünschte. Ich ging in den rechteckigen Innenhof, den das zweigeschossige Jugendhaus von drei Seiten umgab und an dessen vierter Seite sich die wuchtige Sandsteinmauer der Kirche empor türmte wie eine aus dem Boden herauswachsende Felswand. Die meisten Fenster standen weit offen und schickten ihr Schweigen in die Nacht hinein. Nur aus jener Richtung, in der der Partyraum lag, im Keller des Hauses, waren Lachen und Stimmengewirr der letzten Schlaflosen zu hören. Wie von einer unsichtbaren Hand geführt zog es mich ich in den Versammlungssaal mit dem abgenutzten Parkettboden, der viele Geschichten über Versammlungen, Feste, Tänze und Diskussionsveranstaltungen berichten könnte. Nach all dem war mir jetzt nicht zumute. Weit standen die großen, doppelflügeligen Fenster offen. Die abendliche Sommerwärme hing in dem großen Raum wie ein schwerer Vorhang. Kein Lufthauch strich über mein von meinem Streifzug erhitztes Gesicht. Im Mondlicht fiel mein Blick auf den schwarzen Flügel, der Tastaturdeckel war geöffnet als wartete er auf mich. Als riefe er mich. Ich strich mit meinen Fingerspitzen über die Tasten, der Mond leuchtete hell genug um sie zu erkennen. Zu einer so späten Stunde hatte ich noch nie gespielt, und schon gleich gar nicht in so einer nächtlichen Stimmung, die mir das Gefühl gab allein mit mir in einer leeren Welt zu sein. Allein ohne es zu wollen. Ohne es je gewollt zu haben. Ich wollte spielen. Ich musste spielen. Für mich. Nie war es anders gewesen. Das Klavier war meine Schwester, mein Bruder, mein intimer Freund, mein inniger Vertrauter. Ich schlug, nein, ich tippte die ersten Tasten an. Ein warmes As-Dur, singend und knospenzart, wurde von den Saiten des Instruments in den Raum getragen und füllte den Raum und die Nacht aus. Beethovens Adagio cantabile aus seiner Sonate Pathetique. Als sei es für eine Stunde wie diese komponiert worden. Die Klänge entfalteten sich aus dem Spiel meiner Finger, meine Gefühlswelt stand weit offen, um diesem gesungenen Adagio Fülle, Widerhall und eine Prise Ernsthaftigkeit zu geben, ohne die ich Beethoven nicht spielen wollte. Gelegentlich unterbrochen durch ein verhaltenes Aufbegehren im Bass, das sich sofort wieder verlor wie das ferne Rumpeln eines Sommernachtgewitters.
Eine leise, kaum spürbare Bewegung erreichte mich. Unbestimmt zunächst, von woher sie kam. Lautlos wie das Vorüberhuschen einer durch die Nacht pendelnden Fledermaus. Ich schaute auf, ohne mein Spiel zu unterbrechen, und im Halbdunkel fiel mein Blick auf kurz geschnittenes blondes Haar. Sonja saß, stiller noch als eine Fledermaus, unbeweglich und verkehrt herum auf einem Stuhl, ihr Kinn in eine Handfläche gestützt, ihr Ellbogen ruhte auf der Stuhllehne. Das fahle Licht der Nacht ersetzte Ihre braunen Augen durch zwei dunkle Punkte in einem mondhellen, schmalen Gesicht, die groß und etwas eulenhaft zu mir herüberschauten. Ein Anblick, als wollte sie portraitiert werden. Ich spielte den Satz zu Ende, jetzt für sie, ihre stille Gegenwart, als schriebe ich ihr einen Brief aus Harmonien und Melodien. Die letzten Akkorde hauchte ich in die Tasten und ließ sie lang ausklingen.
Sonja war näher gekommen, stand jetzt neben dem Flügel, der lautlose Nachtfalter, der am Tag ein bezaubernder Schmetterling war, von dem ich nicht meine heimliche Betrachtung reißen konnte. Ihr Blick, jetzt so nah bei mir und für mich lesbar wie eine Geschichte in Großdruck, drückte eine seltsame Betroffenheit aus. Eine Mischung aus Entzücken und Bestürzung, die es so, dachte ich, nicht geben kann. Ihre glatten blonden Haare umrahmten diesen Blick, als wäre er ein sorgsam zu hütendes Kunstwerk.
„Spiel das noch mal!“ Sie sprach leise. Sie schaute mich unverwandt an. „Bitte!“ In ihren nachdenklichen, forschenden Augen stand ein Flehen, das mich geradewegs ansprang.
Ich erfüllte ihren Wunsch, es hätte ebenso gut mein eigener sein können. Etwas in meinem Leben war anders geworden, unerwartet, und es fühlte sich an wie eine fremd-vertraute Umarmung. Während ich spielte, legte sie eine Hand auf den Flügel, vorsichtig, sanft, als hätte sie Angst die Klänge zu vertreiben. Zwischen uns brach eine Nähe auf, die keine Worte brauchte.
„Das ist so schön! Ich könnte dir die ganze Nacht lang zuhören!“ Feucht schimmerten ihre Augen wie Öltropfen auf einer Wasseroberfläche. Ihre
Hand wanderte vom Flügel auf meine Schulter. Ich sagte ihr, dass ich sehr gern noch ein weiteres Stück für sie spielen würde. Ebenfalls in As-Dur, dieser weichen, singenden und unsentimentalen Tonart. Sie zog einen Stuhl heran, schob ihn neben den Klavierhocker. Sooft meine linke Hand beim Spiel der Tasten in die Bassregion hinunterwanderte, berührten sich unsere Arme. Sie zog ihren nicht fort, und ihre unbewegliche Nähe gab mir Zuversicht und Sicherheit. Ich spielte die singenden Akkorde von Schuberts Impromptus nur für uns, als säßen wir in einem leicht dahin treibenden Boot, allein auf einem weiten See, dem Spiel leichter Wellen ausgesetzt. Wieder still und beinahe andächtig saß sie neben mir, das nachdenkliche Mädchen, das jeden Tag eine Tiefenschicht mehr in mir freigelegt hatte. Sie besaß die Fähigkeit im stillen Zuhören treffendere Antworten zu finden als es gesprochene Worte geschafft hätten. Jedes Mal, wenn unsere Arme sich berührten, zerbrach in mir ein weiterer Stein jener festgefügten Mauer aus Zurückgezogenheit und Einsamkeit. Nach dem letzten Akkord legte sie ihren Kopf an meine Schulter. Ihr weiches Haar strich über meine Wange, mein Puls hämmerte und stand im völligen Widerspruch zu dem, was ich am Klavier gespielt hatte. Endlos langsam fielen unsere Blicke ineinander, ihr forschend-fragender und mein – ich weiß es nicht. Die Nacht erblühte hell und warm und singend in As-Dur, als unsere Lippen sich behutsam tastend trafen.