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Mitternachtsmädchen

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26.12.2009
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Mitternachtsmädchen

Es war schon spät und die Dunkelheit kroch durch die Straßen wie ein scheues, aber gefährliches Tier. Du warst ein Schatten, ein aufgestelltes Nackenhaar, als ich an der roten Ampel stehen blieb. Es war weit und breit kein Auto zu sehen, nur ein paar Werbeschriften und das rote Licht der Ampel spiegelten sich auf dem regennassen Asphalt. Trotzdem blieb ich stehen, bis es grün wurde. Aus dem Nackenhaar wurden Augen, durchdringend und voller Erwartung, aber noch nicht gefährlich.
Ich war auf dem Weg zum Bahnhof und beschleunigte meine Schritte, als ich deine so dicht hinter mir vernahm. Zehn Meter. Die nächste Ampel sprang auf rot und ich blieb stehen.
Deine Schritte wurden zunächst lauter und dann langsamer. Du hattest mich eingeholt. Vorsichtig schielte ich zu dir herüber. Du warst nicht so dunkel wie ich angenommen hatte.
Genau genommen warst du nicht einmal ein Nackenhaar. Du bemerktest meinen Blick und erwidertest ihn fest. Ich nickte dir zu und du lächeltest. Du kamst ein paar Schritte auf mich zu und es fiel mir erstaunlich schwer, nicht zurückzuweichen. Im gelblichen Licht der Straßenlaterne sahen deine Augen schwarz aus und deine Haut seltsam blass.
Mein Kopf schickte mir wirre Bilder aus Filmen und Büchern, Fetzen von Musik und den schalen Geschmack von Blut auf meinen Lippen. Erst jetzt bemerkte ich, dass du mir unglaublich ähnlich sahst, und dein fester Blick genauso verängstigt wie höflich war.
Ich lachte innerlich über meine Naivität.
Die Ampel sprang auf grün und wir liefen wortlos nebeneinander her.
Ich betrachtete deine Schuhe. Sie hatten Absätze und du überragtest mich und meine Turnschuhe damit um einige Zentimeter. „Schöne Schuhe.“ war das erste, was ich zu dir sagte. „Danke.“ erwidertest du mit einem Lächeln. „Wo musst du hin?“
Ich zögerte, doch irgendwie warst du mir zu … vertraut. „Zum Bahnhof.“ sagte ich.
„Ich auch.“ Ich nickte. Den Rest des Weges legten wir stumm zurück. Das Tier mit seinen Nackenhaaren und Augen ließen wir hinter uns, denn mit den lächelnden Worten hattest du deine Gefahr verloren. Im Zug saßen wir uns gegenüber. Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe auf der anderen Seite des Gangs, und es dauerte einige Sekunden, bis ich feststellte, dass es deines war. Als der Zug anfuhr, begannst du, mir von dir zu erzählen.
Ich unterbrach dich nicht. Nicht etwa, weil mich deine Geschichte nicht interessierte. Ich unterbrach dich nicht, weil es keinen Grund gab. Keinen Grund, Fragen zu stellen. Ich spürte jedes deiner Worte, als wären es meine eigenen. Ich merkte kaum, wie die Zeit verging, und als du fertig warst, hielt der Zug zum fünften Mal mit einem Ruck. „Ich muss raus.“ sagte ich, stand hastig auf und nahm meine Tasche. „Ich auch.“ Als wir an der Tür waren bedeutete ich dir mit einer Geste, voranzugehen, und du tatest es mir gleich. Wir lachten ein leises Lachen und ich stieg zuerst die Stufen zum Bahnsteig hinab. „Wo wohnst du?“ fragte ich, doch bekam keine Antwort.
Die Türen schlugen zu und ich drehte mich nach dir um. Doch du warst verschwunden.

Seitdem denke ich oft an das Mädchen und ihre Geschichte. Ich sehe dein Gesicht und höre ihre Worte, als hätte das eine ohne das andere nie existiert.
Wenn ihr kalt ist, legt sie sich ins Bett und denkt an dich. Sie friert oft. Auch in jener Nacht trug sie einen Schal, und ich konnte sie zittern sehen, im Licht der Ampel, wie das aufgestellte Nackenhaar eines Raubtiers.
Wenn du sprichst, verfolgt sie die Bewegungen deiner Hände. Während sie von dir erzählte, verknotete sie ihre Finger, sie fasste sich an die Nase, an die Schläfen. Wenn du lachst, sieht sie das Leuchten in deinen Augen.
Sie hat es nie wirklich ausgesprochen, aber ich weiß, dass sie dich liebt.
Wenn du fort bist, wünscht sie sich, bei dir zu sein. Wenn sie alleine ist, wünscht sie sich, dass du es nicht bist. Wenn du dein Herz verschenkst, wünscht sie sich, dass du es mit einer Schleife darum tust. Und dass es beim Auspacken nicht zerbricht.
Sie wünscht sich, dass dich jeder deiner Schritte näher ans Ziel bringt.
Und wenn du fällst, glaubt sie daran, dir das Fliegen beizubringen, obwohl sie selbst nie mehr konnte, als sich die Knie am Asphalt aufzuschlagen.

 

Hallo stacybell92,

und herzlich willkommen hier.
Grundsätzlich gefällt mir die Geschichte, die etwas mystisch offen lässt, ob die Erzählerin hier nur ihrem Alterego begegnet. Hat etwas von HRKs "Romanze".
Einige Anmerkungen habe ich aber doch.

Ich lachte innerlich über meine eigene Naivität
"eigene" ist in diesem Falle überflüssig.
Ich zögerte, doch irgendwie warst du mir zu… vertraut
zu ... vertraut (Auslassungspunkte erfordern Leerzeichen)
Ich unterbrach dich nicht. Nicht etwa, weil mich deine Geschichte nicht interessierte und ich ihr ohnehin nur mit halbem Ohr folgte, wie ich es sonst so oft tat.
Timing vielleicht umstellen oder die Negierung eines möglichen Grundes ganz streichen. So verwirrt es.
Vorschlag: Ich unterbrach dich nicht. Nicht, weil ich, wie es sonst oft bei anderen war, der Geschichte desinteressiert nur mit halbem Ohr folgte, sondern weil es keinen Grund gab, Fragen zu stellen.
Die Verwirrung entsteht vor allen daraus, dass der/die ErzählerIn das Mädchen zum ersten Mal trifft, er also bei ihr noch niemals nur mit halben Ohr zugehört hat.
Ich spürte jedes deiner Worte, als wären es meine eigenen
komplizierter Numerus. Normalerweise ist es richtig, Plural des Satzgegenstandes erfordert, dass auch das Prädikat im Plural steht. Hier liegt der Bezug des Prädikats aber auf "jedes", also muss auch das Prädikat im Singular stehen. Ich sürte jedes Wort als wäre es mein eigenes oder ich spüre jedes deiner Worte als wäre es mein eigenes.
Ich merkte kaum, wie die Zeit verging, und als du fertig warst, hielt der Zug zum fünften Mal mit einem Rucken
mit einem Ruck (das ist schon das Substantiv, der Infinitiv muss nicht neu substantiviert werden)
Seitdem denke ich oft an das Mädchen und ihre Geschichte. Ich sehe dein Gesicht und höre ihre Worte, als hätte das eine ohne das andere nie existiert
in der Erzählform bleiben, warum auf einmal wieder dritte Person?
Mit dem letzten Absatz kann ich nichts anfangen, er steht für mich in keiner Verbindung zum zuvor erzählten und geht auch nicht zwingend daraus hervor. Außerdem liest er sich wie pseudopsychologische Innerlichkeitsblähungen, die die zuvor aufgebaute schöne Geschichte zerstören.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo sim, dankeschön für deine Antwort.
Das mit dem letzten Absatz ist zugebenermaßen etwas verwirrend, weil das "Du" aus dem ersten Teil nicht dem "Du" in diesem Absatz entspricht.
Das "Du", dem die Erzählerin auf der Straße begegnet, ist, wie du schon festgestellt hast, eine Art "alter Ego". Am Ende jedoch wird mit dem "Du" derjenige angesprochen, um den es bei dem Gespräch im Zug geht - aus dem vorigen "Du" wird also "das Mädchen/sie". Die Erzählerin beschreibt im letzten Absatz also die Gefühle ihres alter Ego/sich selbst gegenüber einer dritten Person, die zuvor nicht aufgetaucht ist.
In der Tat ist diese Schlussfolgerung etwas wirr, doch was mir durch den Kopf ging war diese innere Zerrissenheit, mit der man manchmal sich selbst im Weg steht... und es erst eine Auseinandersetzung mit sich selbst braucht, bis man in der Lage ist, sich seine Gefühle einzugestehen (Das Mädchen auf der Straße ist quasi das "Unterbewusstsein" der erzählenden Person).

Die formalen Sachen, werde ich noch schnell korrigieren, dankeschön.

liebe Grüße
stacybell

 

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