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Mitternachtsmädchen
Es war schon spät und die Dunkelheit kroch durch die Straßen wie ein scheues, aber gefährliches Tier. Du warst ein Schatten, ein aufgestelltes Nackenhaar, als ich an der roten Ampel stehen blieb. Es war weit und breit kein Auto zu sehen, nur ein paar Werbeschriften und das rote Licht der Ampel spiegelten sich auf dem regennassen Asphalt. Trotzdem blieb ich stehen, bis es grün wurde. Aus dem Nackenhaar wurden Augen, durchdringend und voller Erwartung, aber noch nicht gefährlich.
Ich war auf dem Weg zum Bahnhof und beschleunigte meine Schritte, als ich deine so dicht hinter mir vernahm. Zehn Meter. Die nächste Ampel sprang auf rot und ich blieb stehen.
Deine Schritte wurden zunächst lauter und dann langsamer. Du hattest mich eingeholt. Vorsichtig schielte ich zu dir herüber. Du warst nicht so dunkel wie ich angenommen hatte.
Genau genommen warst du nicht einmal ein Nackenhaar. Du bemerktest meinen Blick und erwidertest ihn fest. Ich nickte dir zu und du lächeltest. Du kamst ein paar Schritte auf mich zu und es fiel mir erstaunlich schwer, nicht zurückzuweichen. Im gelblichen Licht der Straßenlaterne sahen deine Augen schwarz aus und deine Haut seltsam blass.
Mein Kopf schickte mir wirre Bilder aus Filmen und Büchern, Fetzen von Musik und den schalen Geschmack von Blut auf meinen Lippen. Erst jetzt bemerkte ich, dass du mir unglaublich ähnlich sahst, und dein fester Blick genauso verängstigt wie höflich war.
Ich lachte innerlich über meine Naivität.
Die Ampel sprang auf grün und wir liefen wortlos nebeneinander her.
Ich betrachtete deine Schuhe. Sie hatten Absätze und du überragtest mich und meine Turnschuhe damit um einige Zentimeter. „Schöne Schuhe.“ war das erste, was ich zu dir sagte. „Danke.“ erwidertest du mit einem Lächeln. „Wo musst du hin?“
Ich zögerte, doch irgendwie warst du mir zu … vertraut. „Zum Bahnhof.“ sagte ich.
„Ich auch.“ Ich nickte. Den Rest des Weges legten wir stumm zurück. Das Tier mit seinen Nackenhaaren und Augen ließen wir hinter uns, denn mit den lächelnden Worten hattest du deine Gefahr verloren. Im Zug saßen wir uns gegenüber. Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe auf der anderen Seite des Gangs, und es dauerte einige Sekunden, bis ich feststellte, dass es deines war. Als der Zug anfuhr, begannst du, mir von dir zu erzählen.
Ich unterbrach dich nicht. Nicht etwa, weil mich deine Geschichte nicht interessierte. Ich unterbrach dich nicht, weil es keinen Grund gab. Keinen Grund, Fragen zu stellen. Ich spürte jedes deiner Worte, als wären es meine eigenen. Ich merkte kaum, wie die Zeit verging, und als du fertig warst, hielt der Zug zum fünften Mal mit einem Ruck. „Ich muss raus.“ sagte ich, stand hastig auf und nahm meine Tasche. „Ich auch.“ Als wir an der Tür waren bedeutete ich dir mit einer Geste, voranzugehen, und du tatest es mir gleich. Wir lachten ein leises Lachen und ich stieg zuerst die Stufen zum Bahnsteig hinab. „Wo wohnst du?“ fragte ich, doch bekam keine Antwort.
Die Türen schlugen zu und ich drehte mich nach dir um. Doch du warst verschwunden.
Seitdem denke ich oft an das Mädchen und ihre Geschichte. Ich sehe dein Gesicht und höre ihre Worte, als hätte das eine ohne das andere nie existiert.
Wenn ihr kalt ist, legt sie sich ins Bett und denkt an dich. Sie friert oft. Auch in jener Nacht trug sie einen Schal, und ich konnte sie zittern sehen, im Licht der Ampel, wie das aufgestellte Nackenhaar eines Raubtiers.
Wenn du sprichst, verfolgt sie die Bewegungen deiner Hände. Während sie von dir erzählte, verknotete sie ihre Finger, sie fasste sich an die Nase, an die Schläfen. Wenn du lachst, sieht sie das Leuchten in deinen Augen.
Sie hat es nie wirklich ausgesprochen, aber ich weiß, dass sie dich liebt.
Wenn du fort bist, wünscht sie sich, bei dir zu sein. Wenn sie alleine ist, wünscht sie sich, dass du es nicht bist. Wenn du dein Herz verschenkst, wünscht sie sich, dass du es mit einer Schleife darum tust. Und dass es beim Auspacken nicht zerbricht.
Sie wünscht sich, dass dich jeder deiner Schritte näher ans Ziel bringt.
Und wenn du fällst, glaubt sie daran, dir das Fliegen beizubringen, obwohl sie selbst nie mehr konnte, als sich die Knie am Asphalt aufzuschlagen.