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Mitten auf der Landstraße
Er konnte spüren wie seine Muskeln mit jedem Schritt immer mehr schwächelten. Es war fast so, als ob seine Füße jedes Mal tiefer in den Asphaltboden versanken, und er sie nach jedem Schritt unter noch größerer Anstrengung wieder hinausziehen musste.
Der Junge richtete seinen Blick von seinen Füßen auf und ein kühler Wind stieß ihm ins Gesicht. Viel konnte er vor sich noch nicht erkennen. Mitten auf der Landstraße. Die Hälfte des Weges bereits hinter sich, die Hälfte des Weges noch vor sich. War es das wert gewesen?
Von weitem konnte er sehen, wie sich ihm auf der gegenüberliegenden Fahrbahn ein PKW näherte. Verstörend laut zischte er durch die Stille der Nacht. Das Fernlicht war an, und es blendete den Jungen stark, als das Auto an ihm vorbeifuhr. Wer da wohl in drinnen gesessen hatte, fragte er sich. Wie gerne würde er jetzt selbst in einem Auto sitzen. Einfach nur sitzen und die kurze zehnminütige Fahrt nachhause genießen. Und dann ab ins Bett.
Der Junge erhöhte das Tempo und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Augenblicklich stieß ihm ein stechender Schmerz durch die Oberschenkel. Aber das war ihm jetzt egal. Er wollte nur noch nachhause. Und das so schnell wie möglich.
Als er die Augen wieder öffnete, war er überrascht zu sehen, wie der wolkige Nachthimmel bereits etwas Farbe angenommen hatte. Der aufkommende Tag bedrohte ihn. Es gefiel dem Jungen ganz und gar nicht, wie alles um ihn herum ganz plötzlich wieder hell wurde, und er versuchte verzweifelt, noch einen Gang zuzulegen. War es das wert gewesen?
Er holte sein Telefon aus der Hosentasche und blickte auf die Uhr. „4 Uhr 23“, flüsterte er. Er blickte erneut auf. In etwa fünfzehn Minuten sollte er ankommen. Vor etwas weniger als einer Stunde hatten sie noch alle fröhlich beisammen gesessen, noch etwas getrunken und geraucht. Mittlerweile waren alle anderen sicher schon zuhause und schliefen tief und fest. Es war eigentlich ein netter Abend gewesen, konstatierte er. Doch jetzt latschte er hier alleine durch die Nacht, mit 20€ weniger in der Geldtasche. War es das wirklich wert gewesen?
Er schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick nach hinten. Er staunte ein wenig, als er realisierte, wie weit er inzwischen gekommen war. Der brennende Schmerz in den Beinen verstärkte sich und er kniff die Zähne zusammen. Erneut schaute er gegen den inzwischen bereits leicht rötlichen Himmel – und dann hörte er von weitem Vogelgezwitscher. Die Geräusche verstörten ihn und sein Herz raste. In einem verzweifelten Versuch, die Geräusche des anbrechenden Tages zu übertönen, steckte er sich seine Kopfhörer in die Ohren und drehte die Musik so laut auf, wie er es nur ertragen konnte. Er schloss die Augen und plötzlich – er wusste nicht woher er die Kraft nahm – begann der Junge zu laufen. Er befand sich nun schon in der Ortschaft, weit war es von hier nicht mehr. Er atmete tief, als er mit zunehmendem Tempo durch die Straßen rannte. Erneut wendete er seinen Kopf nach oben. Der Tag rannte schneller als er. Hinter den riesigen Wolken ließen sich am Horizont bereits die rötlichen Töne des Sonnenlichts erahnen. Jetzt befand er sich schon im Sprint. Er war schon ganz nahe, bog um die letzte Gasse und stand mit einem Mal vor seiner Gartentür. Ein für ihn unerklärliches Grinsen zeichnete sein Gesicht, als er die Treppen zur Haustür bestieg. Leise und vorsichtig sperrte er sie auf. Nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte drehte er das Licht im Vorzimmer auf. Er blickte in den Spiegel und es schien, als ob er in dem Glas einem Fremden in die Augen blickte. Keuchend, riesige Schweißflecken auf dem Hemd.
Vor ungefähr acht Stunden war er hier gestanden und hatte sich zufrieden im Spiegel betrachtet. Das Hemd, das er sich sorgfältig herausgesucht hatte, ekelte ihn jetzt an und es beengte ihn. Er riss es sich mit ruckartigen, fast schon manischen Bewegungen vom Leib. War es das wert gewesen? Er ließ das Hemd zu Boden fallen und betrachtete seine Brust im Spiegel. Mit jedem Atemzug schwoll sie an. Im nächsten Moment sank sie wieder, als er lautstark die Luft aus seinen Lungen ausstieß. Der Junge stand noch einige Minuten vor dem Spiegel und betrachtete sich. Dann drehte er das Licht ab und ging durch den Flur in sein Zimmer. Hinter den heruntergezogen Rollos konnte er erkennen, dass es draußen bereits vollständig hell sein musste. Er legte sich ins Bett und schloss die Augen. In seinen Beinen spürte er nichts mehr.