- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Mit seinem schwarzen Zylinder
Mit seinem schwarzem Zylinder
Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Es ist schon so lange her, dass es begann. Schon Jahre. Er trat in mein Leben, als alles gut war. Normal und gut. Und dann kam er. Mit seinem schwarzen Zylinder.
Er stand einfach da, regungslos und ich habe mich erschrocken. Ich habe damals etwas ganz Banales getan. Ich weiß nicht einmal mehr, was.
Vielleicht habe ich im Garten Wäsche aufgehängt. Er stand dort, mitten auf der Straße, in seiner Jacke aus bunten Stoffflicken und sah mich unverwandt an. Mit einem Blick, wie ich ihn niemals wieder erlebt habe. Ich glaube, ich wollte das Laken fallen lassen, das ich über die Leine hängte und wollte ihm folgen. Ich wollte die Klammern fallen lassen und mit ihm gehen.
Die Wagen brausten an ihm vorüber, als wäre er nicht da. Als könnte er nicht jeden Augenblick von ihnen erfasst werden. Ich wollte bei ihm sein, mit ihm gehen, sofort, aber dann habe ich den Bann gebrochen und zu Boden gesehen und er hatte keine Macht mehr über mich.
Oder ich habe gerade telefoniert. Über alltägliche Dinge. Und er hat mich angesehen, den Zylinder tief in die Stirn geschoben, als wolle er lustig sein. Aber natürlich war er auch da ernsthaft. Und ich habe weiter telefoniert. Und ihn erst einmal wieder vergessen.
Oder vielleicht habe ich ein Buch gelesen. Seine Anwesenheit im Zimmer war wie mit Händen zu greifen. Als ich ihn wahrnahm, stand er regungslos im Türrahmen und seine stummen Blicke baten mich, mitzukommen. Ich habe weitergelesen und er hat mich weiter beobachtet.
Ich habe geschlafen und er saß am Fußende meines Bettes. Ich habe mich an ihn gewöhnt. Seine Blicke wurden vertraut. Die Berührungen, die ausblieben, intensiv. Ich fühlte mich von ihm abhängig. Wusste, dass er mich bat, mit ihm zu gehen. Wusste, dass ich es tun würde. Und war doch nicht bereit.
Er hat niemals die Geduld verloren. Mit dieser unbegreiflichen Ruhe kann er warten. Und wenn ich ans Fenster trete, sehe ich seine bunte Jacke im Garten, den Zylinder neben einem Baum, seine Augen zwischen den Rosen. Und er bittet mich. Ich bin bald bereit, ihm zu folgen.
Dann, nach Jahren, habe ich ihm zugesehen, wie er durch eine Tür in mein Leben trat. Ich bin ihm gefolgt, durch diese Tür. Und habe mein Leben betrachtet. Durch seine Augen. Habe mich umgesehen und intensiver erlebt. Von diesem Tag an war alles heller, bunter, lebendiger. Hinter dieser Tür. Seine Augen waren um so vieles intensiver als meine. Hielten mich in seinem Bann.
Bis ihr gekommen seid. Habt ihn entdeckt. Zu verjagen versucht. Habt mir gesagt, ich dürfe ihm nicht folgen. Aber ihr seid zu spät gekommen. Er und ich sind unzertrennlich geworden, über diese Jahre. Und ich habe keine Angst vor ihm. Nicht mehr. Stattdessen habe ich meinen Frieden mit ihm geschlossen. Werde ihm folgen.
Versteh doch, du nennst es Sterben und du sagst Krebs. Aber für mich ist er es. Mit seinem schwarzen Zylinder. Gekommen zu mir und ich gehe mit ihm fort.