Mit den Augen eines Kindes
Eigentlich war Amy Thomas Einladung zu einem gemütlich Abend nur aus Höflichkeit gefolgt und hatte sich fest vorgenommen die Veranstaltung so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Nun war es bereits zwei Uhr und sie war gelinde ausgedrückt beinahe zu Tode gelangweilt. Thomas und seine Freunde hatten sie mit ihren Anekdoten über ihr kleinbürgerliches Leben an den Rand des Tiefschlafs getrieben. Mittlerweile verweigerten ihre Mundwinkel ihr jedes höffliche Lächeln und zogen hartnäckig in Richtung Kinn. Ihr Herz schrie immer lauter: „ Ich will raus!“ Die Anhäufung von totaler Spießbürgerlichkeit, die in diesem Räumlichkeiten wie giftiger Rauch zu wabbern schien, schnürte ihr schier die Luft ab. Ihre Lunge pumpte wie eine alte Dampflok. Vor ihren Augen flatterte die Welt und drohte in die Schwärze zu kippen. Ruckartig stand sie auf, keuchte eine Ausrede und stürmte zur Tür.
Als die eiskalte Dezemberluft ihre Lungen flutete, wich der Schwindel von ihr, doch die Beklemmung blieb. Denn von ihrem eigenen aschgrauen Leben, vermochte sie nicht zu stürmen. Enttäuscht, dass ihr die Nacht nicht die erhoffte Erleichterung schenkte, trottete sie nachhause. Auf einmal vernahm sie ein leichtes Wimmern. Erst glaubte sie, der Wind spiele ihren müden Ohren einen bösen Scherz, doch mit jedem Schritt schwoll das Wimmern an. Beunruhigung und ein Hauch von Neugier trieben ihre Füße zur Eile an. Im Schein einer Straßenlaterne sah sie das, was die Stille der Nacht so aufdringlich zerbrach. Ein zartes Mädchen im roten Kleid hockte zitternd im künstlichen Gelb des Laternenscheins. Ihr Körper wippte apathisch vor und zurück und schien doch keinen Rhythmus zu finden, der ihr Herz zur Ruhe wiegen konnte. Sie weinte bitterliche Tränen.
„Sie muß furchtbar frieren!“ schoss es Amy durch den Kopf, während sie auf die Kleine zueilte. Instinktiv zog sie sich die Jacke aus. Schlang sie der Kleinen um dem Leib. Noch bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, sprang das Mädchen unter entsetzlichen Kreischen auf und schleuderte die Jacke wie Gift von sich. Breitbeinig, die Arme vor der Brust verschränkt glotze sie die verdutzte Amy an. Die Augen waren verquollen - die Lippen bitter zusammengepresst. Hass meinte Amy in ihren Augen glitzern zu sehen.
„ Du hast mich vergessen!“ jammerte es und wischte sich Rotz und Tränen mit Hilfe des dünnen Ärmchens durchs Gesicht.„ Aber..aber wir kenn uns doch gar nicht!“ stotterte Amy, während sie nach Fassung rang. Eigentlich hatte sie nicht viel für Kinder übrig. Aber dieses Kind griff ihr so seltsam tief ans Herz, dass sie für Augenblicke nichts mehr fühlte, denn den Wunsch ihm Schutz und Liebe zu schenken.„Siehst Du!“ keifte es. „Du hast mich vergessen!“
Ein stechender Schmerz zog mit einem Mal durch Amys Schienbein, der ihr die Tränen in die Augen trieb. „ Au –verdammt!“ jaulte Amy, die sich noch immer unter dem Schmerz, den der unerwartete Tritt des Mädchen durch ihren Körper jagte, krümmte Als die Tränen ihr wieder die Sicht frei gaben, war das Mädchen verschwunden. Spurlos –da half kein Suchen.
Amy musste die letzten Meter zu ihrer Behausung humpeln und das Mädchen fraß sich immer tiefer in ihre Gedanken. Ließ sie nicht mehr los. Balux, ihr Münsterländer, begrüßte sie schwanzwedelnd und beschnüffelte sie aufgeregt von allen Seiten.
„Nicht jetzt Balux!“ motzte sie, während sie sich in das muffige Schaumgummi ihrer Bettcouch sinken liess. Doch er gab keine Ruhe. Hastete sabbernd durch den beengten Raum. Beschnüffelte sie immer aufdringlicher. Nicht nur an ihr sondern auch an einem kleinen, staubigen Umzugskarton schien er einen Narren gefressen zu haben. Seine Unruhe schürte auch die Ihre. Sie zog ihr durchs Hirn, donnerte gegen ihr Herz und machte sie schier wahnsinnig. Der verzweifelte Aufschrei, mit dem sie von der Couch sprang, verschaffte ihr nur wenig Genugtuung. Erst als sie in dem schäbigen Karton zu kramen begann, fühlte sie sich ein wenig wohler. Bücher, verschlissene Socken, uralte Videokassetten und... Sie überkam ein wohlig, warmes Gefühl, als ihre Fingerspitzen das zerschlissene Fell ihres längst vergessenen Freundes berührten. „ Wauwie!“ fuhr es ihr durch den Kopf. „Mein Gott – Wauwie! Wie lang ist es her?“ rief sie begeistert und hielt ihn in die Höhe. Sie herzte und liebkoste das geschundene Stofftier und ließ sich dabei für einige Momente von dem Duft ihrer Kinderzeit fortreißen. Balux war es, der sie wieder ins finstre Jetzt zurückzerrte. Er bellte, winselte und lief immer wieder zur Tür. Das konnte nur eines bedeuten. Sie sollte besser noch einmal mit ihm gassigehen, wollte sie morgenfrüh nicht ihr braunes Wunder erleben. Sie entschied sich Wauwie für heute nicht mehr aus den Armen zu lassen und trug ihn mit sich.
Balux führte mehr Amy gassi denn umgekehrt. Schon bald sah sie sein Ziel. Im Schein der Laterne saß es wieder, wie von Zauberhand auf den Asphalt gemalt, das kleine Mädchen.
Amy wurde wohlig warm ums Herz, wie vorhin als sie Wauwie berührte. Es duftete auf einmal nach frischen Matsch, Maisfelder und Schrottplätzen. Spuren ihrer Kindheit umfingen sie wie zarte Kükenfeder. Sie hockte sich hinunter und tastete sich vorsichtig mit ausgestreckter Hand in die Nähe des Mädchens.
„Wauwie!“ jauchzte das Kind aufgeregt, als sein Blick den Zerschlissenen Stoff in Jules Armen gewahrten. Woher das Kind seinen Namen kannte, fragte sich Amy insgeheim. Wollte aber diesen zarten Augenblick nicht durch lästige Fragerei zerstören und verdrängte den Gedanken. „ Ich möchte ihn dir schenken!“ flüsterte sie stattdessen zaghaft. Das Lächeln, das in dem Augenblick über das Mädchengesicht zog, konnte einen nur an den Glanz der ersten Frühlingssonne erinnern – so zart und unglaublich rein. „ Ich möchte dir auch etwas schenken!“ sagte das Kind bedeutungsvoll. „Schließ die Augen!“ Amy noch verzückt von dem Lächeln des Kindes, tat wie ihr befohlen wurde.
Etwas nasses, sanftes berührte ihr Gesicht. Erst eines dann immer mehr. Es kitzelte in wohligen Schauern durch ihren Körper. Sie öffnete die Augen. Blinzelnd blickte sie in die schwarz geglaubte Nacht, als das Licht ganz unverhofft in ihre Augen strahlte. Verwirrt und doch entzückt stand sie in dieser weißen Pracht und spürte, dass sie lebte. Das weiße Licht, das überall zu kleben schien, war zärtlich wie die Morgenröte. Lebendig wie der Tag und doch stets Nacht im weißen Kleid. So unberührt und einzig schön. Unschuld großer Kinderaugen schien in ihr Herz zu tauchen und hauchte ihr die Lebenslust der Kinderzeit in ihren Geist. Weder das Gestern noch das Morgen bestimmten nun die Zeit. Sie fühlte zum ersten Mal seit langen wieder - in ihrer tiefsten Einfachheit.
Als sich Amy diesem zauberhaften Anblick für einige Minuten entreißen konnte, sah sie, dass das Kind fort war. Nicht mal Spuren im Schnee hatte es hinterlassen. Doch manchmal – wenn Amys Herz es schafft, sich an den einfachen Wundern der Welt zu erfreuen und den grauen Beton des Alltags abzuschütteln vermag, dann meint sie das Lachen des Kindes zu hören. Und in manch einem spiegelnden Wasser glaubt sie auch sein lächelndes Gesicht wiedergetroffen zu haben.