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Mit dem blauen Bus ins Paradies
Diese Geschichte beginnt irgendwo in Afrika und endet irgendwo in Europa
„Ich will in die Stadt“, schrie Mary und hängte sich an den Kittel ihrer Mutter, die auf dem Weg zum Feld war, um dort Gemüse zu ernten und es auf dem Markt zu verkaufen. Normalerweise brauchten die beiden eine halbe Stunde für die Strecke, aber heute fast das Doppelte, denn Mary wiederholte ihren Wunsch hundertmal und fast bei jedem Schritt. Die Mutter liebte ihre Kleinste zu sehr, um sie hundertmal zurechtzuweisen und zu sagen: „Hör endlich auf damit und halt den Mund!“
Im Dorf, wo das achtjährige Mädchen geboren und aufgewachsen war, gab es alles: Sonne, Erde, Regen und Staub, Kinder und alte Leute, Krankheit, Geburten und Tod. Aber es gab keinen Strom, kein Fließwasser, kein bequemes Bett, keinen Fernseher, kein Radio, keine Geschäfte und Lichter. Die Tage verflossen – manchmal schön, manchmal bitter, meistens mühsam und hart. Hart war auch das Bett von Mary. Es bestand aus einer Decke auf der Erde, und in der Nacht kamen schon mal Ungeziefer oder Schlangen und schlichen um kleine und große, junge und alte Körper, die da schlafend auf dem Boden lagen. Einmal nagte sogar eine Maus an der Zehe Marys. „Wenn Du etwas größer bist, und das dauert nicht mehr lange, wirst du schon in die Stadt fahren und deine Schwester besuchen, aber jetzt hilf mir bei der Gartenarbeit“, antwortete die Mutter ihrer Mary und machte sich ans Graben, Jäten und Ernten.
Mary hatte ihre Eltern tausende Male mit ihrem Wunsch gequält, und sie wussten, dass die Tausenden ausweichenden Antworten und Vertröstungen die Tochter nur kurzfristig mürbe machen würden, aber kleinkriegen konnten sie das Mädchen nicht. Mary war stur wie ein kleiner Stier, stur wie die Sonne, die Tag für Tag, Jahr um Jahr die Nacht mit ihrem Licht unter sich begräbt.
Wenn Vater und Mutter sie ständig hinhielten, musste ein anderer Weg gefunden werden, dachte Mary. Zur großen Hoffnung des Kindes wurde nun Onkel Michael. Ihm gehörte nicht nur ein kleiner Kiosk im Ort, sondern auch ein ... Bus. Und dieser blaue Bus wurde in ihrer Phantasie zu einer Wolke, die sie aus ihrem kargen und engen Leben davontragen würde, zur Himmelsmaschine menschenfreundlicher Aliens. Er fuhr jeden Tag am Dorf vorbei, tuckerte weiter zu einem nächsten, kam wieder zurück und machte sich danach auf die große Reise in die Stadt.
„Onkel, ich will in die Stadt. Sag Deinem Fahrer, er soll mich morgen mitnehmen.“ „Was willst Du denn in der Stadt?“ „Ich will raus aus dem Dorf, ich will Dinge sehen, die ich nur vom Hörensagen kenne, ich will die Welt erobern.“ Onkel Michael schmunzelte und traute sich nicht, die Träume von Mary zu zerstören. „Gut, komm morgen um fünf Uhr früh zu meinem Kiosk, dann gehen wir hinunter zur Straße, und ich werde dem Fahrer sagen, er soll dich einsteigen lassen.“ Mary wollte jetzt explodieren – vor Freude und konnte natürlich die ganze Nacht nicht schlafen. Um ihren Kopf kreisten große und kleine Busse, und vor ihr in der Dunkelheit blitzten die Lichter der Stadt, so wie sie sich sie in ihren Gedanken erschuf. Das Schnarchen der Schlafenden störte sie nicht. Sie wollte ohnehin nur eins: aufstehen und in den Bus steigen. Also saß das Mädchen schon um drei Uhr an der vereinbarten Stelle. Als Gepäck nahm sie eine Plastiktüte mit zwei Kleidchen und einem Paar Sandalen mit. Mehr hatte sie nicht. Als sie der noch verschlafene Onkel nach zwei Stunden erblickte, schüttelte er nur den Kopf. Er braute sich einen Kaffee und gab der Kleinen ein Stück Brot. Sie wollte nichts. „Ich habe keinen Hunger, Onkel. Wann kommt der Bus?“ „Um sechs. Hab Geduld“, antwortete Michael.
Die Minuten flossen zäh dahin und tropften wie aus einem kaputten Wasserhahn. Aber irgendwann hatte Mary die Zeit tot geschlagen. „Ich glaube, ich höre den Motor“, schrie sie zu ihrem Onkel in den Kiosk hinein. „Ok, ich komm ja schon. Gehen wir runter zur Straße.“ Als sie dort wenige Minuten später eintrafen, näherte sich der blaue Bus bereits wie ein Unbekanntes Flugobjekt von einer fernen Galaxie. Er kam langsam heran, wurde immer größer und war in den Augen Marys tatsächlich ein UFO, das sie zu neuen Planten bringen würde. Egal, ob Wolke oder Aliens – sie wollte nur weg. Mary riss sich zusammen, um nicht weiter zu hüpfen, zu lachen und zu tanzen und blickte angestrengt in die Richtung des heranfahrenden Blaus. Der Bus war nun fast in Greifweite, und der Onkel gab dem Fahrer, der Peter hieß, mit theatralischen Gesten zahllose Zeichen, dass er doch stehen bleiben solle. Aber der hielt von der Aufführung nichts, schaute durch die beiden hindurch, schien sie einfach nicht zu sehen und verschwand wie ein unaufhaltsamer Meteorit. „Stopp, halt, bleib stehen!“ riefen ihm Mary und der Onkel im Chor hinterher. Nichts. Das Mädchen sah bald nur mehr die Staubfahne des Fahrzeugs, warf wütend ihre Plastiktüte zu Boden und haderte mit ihrem Schicksal und Michael. „Was bist Du für ein Boss, he? Was bist Du für ein Boss? Deine Angestellten gehorchen Dir nicht. Du bist ein Versager. Du hast mich angelogen! Wenn ich könnte, würde ich Dir die Augen aus dem Kopf reißen und dann wärst Du blind! Ein Leben lang!“
Mary wollte ihrem Onkel natürlich nichts Böses antun, aber ihre Wut war grenzenlos. Michael versuchte, sie zu beruhigen: „Peter hat wahrscheinlich geglaubt, wir winken ihm zu, einfach so, aus Spaß. Komm, sei nicht traurig. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Für unseren kleinen Stier, für unsere kleine Sonne war dieser Morgen jedenfalls die größte Enttäuschung ihres kurzen Lebens. Es schien ihr, als ob die Himmelswolke nicht gelandet wäre, als ob die Außerirdischen sie frech ignoriert hätten. Als sie dann mit gesenktem Kopf nach Hause trottete und in die armselige Hütte trat, wollte sie niemand fragen, warum sie denn hier und nicht in der Stadt sei – weder die Eltern noch eines ihrer fünf Geschwister. Sie kannten das Temperament der Kleinen und verspürten am frühen Morgen nicht die geringste Lust, sich mit Mary anzulegen.
Michael hatte sich am Vorabend mit Peter abgesprochen. Zusammen grübelten sie den Plan aus, unser Stadt-Mädchen reinzugelegen. „Morgen früh“, sagte der Onkel zu seinem Fahrer, „werde ich mich wie ein Verrückter gebärden, schreien und dich bitten, stehen zu bleiben. Und neben mir wird meine Nichte wie wild auf- und niederhüpfen. Du aber stellst dich taub und blind und fährst einfach weiter! Einverstanden? Und das machst Du immer, wenn Mary dabei ist.“ „Ok“, sagte Peter, auch wenn er in einem kleinen Winkel seines Herzens den Aufstand proben und morgen einfach stehen bleiben wollte. Aber Mary war noch ein Kind und Michael war sein Boss.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr weckte die Kleine ihren Onkel, der direkt neben dem Kiosk wohnte. Beharrlich und stur rannte sie erneut auf ihr Ziel los. Und das war die Stadt. „Onkel, Onkel, steh auf! Der blaue Bus muss bald kommen!“ Michael traute seinen Augen nicht. „Und damit wir den Bus nicht versäumen wie gestern, gehen wir gleich direkt hinunter zur Straße, damit Peter uns schon von weitem sieht.“ Michael zog sich an, schlürfte seinen Kaffee und wurde, kaum dass er ihn ausgetrunken hatte, schon kräftig von einer kleinen Hand gezogen. „Mach schon, komm!“ drängte Mary. Die Minuten vegingen. Die Spannung stieg. Marys Herz pochte. Der Bus kam wieder näher, die Sonne lugte gerade hinter den Hügeln hervor. Schon Hunderte Meter, bevor der Bus an der „Haltestelle“ angekommen war, begann das Mädchen wie wahnsinnig hin- und herzulaufen und zeichnete mit ihrem Plastikbeutel, den sie wieder bei sich hatte, Kreise in die Luft. Das Fahrzeug wurde größer und größer, fuhr quasi eine Handbreit an den beiden vorbei, wurde dann schnell kleiner und kleiner und wenige Minuten später von einer Staubwolke verschlungen. Onkel Michael hatte Schauspieltalent. Er begann nun mit seinem Part und verteufelte sich selbst, den Fahrer und die ganze Welt. Mary weinte, zappelte, schrie und fluchte wie ein Erwachsener. Und wieder wurde Onkel Michael zur Zielscheibe, zum Opfer ihrer maßlosen Enttäuschung über den erneut zerplatzten Traum. Er musste sich wie am Vortag anhören, dass er kein echter Chef sei, dass er keine Autorität habe, dass er ganz einfach ein Waschlappen und kein Mann sei. Die Ohrfeige, die sie dafür einsteckte, spürte Mary nicht einmal wie einen Luftzug.
Drei Jahre wollte Mary in der Stadt die Welt sehen, drei Jahre wartete sie fast jeden Tag an der Straße, drei Jahre sehnte sie sich dieses blaue Ding herbei, das sie ins Paradies bringen sollte und das sie drei Jahre ganz einfach nicht wahrnehmen wollte. Tausende Male musste sie sich, die inzwischen alle als „City-Girl“ verspotteten, danach gefallen lassen, dass sie ständig mit der Frage gereizt wurde: „Ja was machst denn Du da? Bist Du nicht in die Stadt gefahren?“ – Mutter und Vater setzten ihr damit zu, Geschwister und Nachbarn, im Grunde das ganze Dorf. Wenn eine Hexe erschienen wäre und Mary einen Wunsch freigestellt hätte, dann würde unser City-Girl alle zur Hölle geschickt haben. Mary war aber kein böses Kind, sie hatte nur ein Ziel, und das wollte sie erreichen.
Eines Abends, als die Kleine noch nicht von der Feldarbeit nach Hause gekommen war, traf sich Onkel Michael mit ihrem Vater. „Mary ist jetzt fast zehn Jahre alt. Sie ist groß genug, dass Du sie alleine in die Stadt zu ihrer Schwester schicken kannst“, sagte er zu ihm, und nach kurzem Nachdenken stimmte der Vater zu – „Sie hat es verdient.“ „Ja, sie hat es tatsächlich verdient“, antwortete Michael.
Mary wusste nichts von diesem Deal, sie wusste aber, dass sie nicht aufgeben würde und stand am nächsten Morgen in aller Frühe wieder an der Straße. Das Drama begann und an seinem Ablauf änderte sich nichts: Als sie den Bus kommen sah, begann sie zu hüpfen und zu schreien: „Halt! Halt! Peter! Bleib stehen! Ich will in die Stadt!!!“ Sie war schon, wie gewohnt, dabei, ihre Plastiktüte wütend in den Sand zu werfen, doch diesmal geschah ein Wunder. Sie hörte ein Geräusch, das klang wie Musik in ihren Ohren: Bremsen! Der Bus wurde langsamer und bremste. Er blieb stehen, die Türe öffnete sich, und Mary sah in das Gesicht des grinsenden Peter. Und als ob sie nicht Hunderte Male umsonst gewartet hätte, kletterte sie ganz selbstverständlich und erhobenenen Haupts wie eine Prinzessin die Treppen hoch, so als ob sie die Marmorstufen eines Palasts emporsteigen würde, und sagte: „Peter, ich will in die Stadt!“
Der Bus war gerammelt voll, und Peter wies Mary eine schmale hölzerne Pritsche zu, auf der sie gerade so Platz fand. Prinzessinnen sind anspruchsvoll! „Warum kann ich mich nicht auf einen bequemen Sitzplatz setzen? Warum behandelst Du mich wie den letzten Dreck? He?“ – „Hast Du Geld? Bezahlst Du für den Fahrschein?“ fragte Peter. Mary wurde rot – nicht vor Scham, sondern vor Wut. „Weil mein Vater arm ist, weil meine Mutter arm ist, nur deswegen traust Du dich, so mit mir zu reden! Wenn mein Vater Geld, Land und Häuser hätte, würdest Du es nicht wagen, so mit mir umzugehen und du würdest Buckel machen vor mir – in jeder Sekunde drei“, schimpfte unser City-Girl wie ein Rohrspatz. Langsam aber verzog sich Marys Zorn, und sie sog die neue Welt in sich auf, die sie noch nie gesehen hatte. Obwohl sie in der Nacht fast nichts geschlafen hatte, schloss sie während der Fahrt ihre großen braunen Augen nicht ein einziges Mal. Am Busbahnhof wurde das Mädchen dann von ihrer Schwester und den Cousins und Cousinen mit großem Trara abgeholt. Der erste Stadtbesuch von Mary, den sie sich wie eine Heldin erkämpft hatte, dauerte ungefähr eine Woche.
Das Träumen hat Mary niemals verlernt, sie wurde mit dieser Gabe geboren. Einer ihrer Wünsche wurde wahr: Mit vierzehn zog sie in die Stadt nahe ihres Dorfes. Und auch ein weiterer Wunsch wurde wahr: Mit siebzehn übersiedelte sie in eine noch größere Stadt. Und jetzt? Jetzt lebt Mary sogar in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent, in einer Millionenmetropole wie der Big Apple. Von Kind an hat sie auf den Feldern gearbeitet, gemeinsam mit ihrer Mutter oder alleine, Gemüse auf den Märkten verkauft, für die Familie gekocht, gewaschen und geputzt. Sie ging in die Schule, schuftete und kämpfte, um die Welt zu erobern. Einige ihrer Siege brachten ihr Herz zum Hüpfen, einige hinterließen einen bitteren Geschmack, denn sie bescherten ihr nicht das, was sie wirklich wollte, sondern nur das, was sie in diesem konkreten Moment eben brauchte. Noch heute träumt Mary von einer anderen Welt, wie sie sich jedes menschliche Wesen ersehnt: von einem Leben mit Himmel und Paradies. Einmal zumindest war Wunsch und Wirklichkeit eins – damals, als sich für kurze Zeit die Türen zum Garten Eden öffenten, als sie wie eine Prinzessin erhobenen Haupts die Treppen des blauen Busses hinaufstieg und sich ganz sicher war: Das ist der Beginn einer Reise zu drei Planten, die da heißen Glück, Freiheit und Liebe.
Robert Stadler