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Mit Blut bezahlt
MIT BLUT BEZAHLT
Das enervierend – penetrante Geräusch des klingelnden Telefones durchdrang die bis dato so perfekte Stille des Raumes. Enrico Fortunato massierte sanft mit den Fingerkuppen seiner Zeigefinger die hektisch und schmerzvoll pochenden Schläfen. Tief inhalierte er die abgestandene Luft und verzog angewiedert das Gesicht als er realisierte, dass dieser Vorgang seine Migräne lediglich intensivierte. Mühsam quälte er sich aus dem Sessel, in dem er vor drei Stunden eingeschlafen war und schleppte sich mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster, welches er sogleich öffnete. Zwar war es zu bezweifeln, dass die Luft Brooklyns der heilenden Konsequenz einer ordentlichen Portion Acetylsalicylsäure gleichkommen würde, doch Fortunato meinte bereits kurze Zeit nach dem Öffnen des Fensters eine schmerzlindernde Wirkung verspüren zu können. War Don Vito etwa wieder am Telefon und hatte einen neuen Auftrag parat? Dabei lag Fortunatos letzte „Liquidierung“, wie es Vito immer so euphemistisch formulierte, doch erst einige Stunden zurück.
„Fortunato!?“ meldete er sich mit schlaftrunkener Stimme. „Enrico Fortunato?“ versuchte der Anrufer sich zu vergewissern. „Ja, was wollen sie von mir?“ drängte Fortunato unruhig. „Ich möchte ihnen einen Besuch abstatten, die Angelegenheit muss unter vier Augen besprochen werden“, verlautete es aus der Telefonmuschel. Fortunato öffnete die Flasche des von der „Familie“ illegal gebrannten Schnapses und genehmigte sich einen Schluck. Angesichts seiner starken Kopfschmerzen hätte vermutlich Jack Daniels persönlich ihm davon abgeraten. „Also gut, wo wollen wir uns treffen?“ hakte er nach. „Ich komme zu ihnen.“ „Sie kommen zu mir? Woher zum Teufel haben sie meine Adresse?“ wollte Fortunato erbost und lautstark wissen, doch nachdem er sein Anliegen ausformuliert hatte, tönte ihm bereits das Amt entgegen. „Verflucht, was geht hier vor?“ murmelte er mit heiserer Stimme, als es auch schon an der Tür schellte. Fortunato verwunderte es, dass sein Herz plötzlich schneller zu pochen begann. Das letzte Mal, dass sein Herz derartige Sprünge schlug, war der Tag seines Einstandes in die Familie gewesen. Lebhaft erinnerte er sich daran, wie er vor dreizehn Jahren die Mastorakis – Brüder bei lebendigem Leibe in den Crystal Lake geworfen hatte, die Beine mit Zement beschwert, um ein vorzeitiges und ungewolltes Auftauchen zu verhindern. Die Brüder schrien und beteuerten ihre Unschuld, doch Fortunato hatte seine Mission zu erfüllen. Der Crystal Lake war gerade einmal fünf Minuten entfernt gewesen. Schon beim zweiten Auftrag handelte er ruhiger und professioneller, genauso, wie es Don Vito von ihm erwartete. Schnell verlor er seine Skrupel, bis er schließlich auch die Söhne von verfeindeten Familien ohne mit der Wimper zu zucken abknallte.
Fortunato blickte aus dem geöffneten Fenster heraus. Rechts unterhalb von ihm konnte er die Eingangstür samt Klingelschildern überblicken, doch es war niemand zu sehen. Ein Blitz erhellte das nächtliche Firmament, gefolgt von einem dumpfen Donnergrollen. Das Geräusch des einsetzenden Regens füllte die dunkle Seitenstraße. Die Luft kühlte schlagartig ab und klärte gleichsam auf. Fortunato zog verwundert die Augenbrauen ins Gesicht. Es war bereits nach 22 Uhr und für gewöhnlich war die Haustür zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. In diesem Moment schritt Mr. Wang, der Inhaber des angrenzenden China – Restaurants und Fortunatos Nachbar, um die Ecke und kramte den Schlüssel aus der Tasche hervor. „Guten Abend, Mr. Wang, die Tür ist offen!“ empfing ihn Fortunato. Mr. Wang winkte ihm zu und drückte gegen die Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Mr. Wang lächelte nach oben: „Nächste mal ich nicht dlauf leinfallen, Mistel Foltunato!“ sagte er schelmisch während er die Tür aufschloss. Fortunato schüttelte ungläubig den Kopf. Seine Nervösität nahm weiter zu. Vielleicht hatten ihm auch nur ein paar Kinder einen Streich gespielt. Trotz des frischen Windhauches bildeten sich glitzernde Schweißperlen auf seiner Stirn. Fortunato atmete tief ein und eilte zu seiner Tür. Ein Spähen durch seinen Spion ließ niemanden im erhellten Treppenhaus erkennen. Vorsichtig schloss Fortunato auf und lugte ins Treppenhaus. Weit und breit war niemand zu erkennen. Fortunato hastete zurück zum geöffneten Fenster.
Mr. Wang hatte gerade aufgeschlossen und setzte den ersten Fuß ins Treppenhaus, als er plötzlich laut aufschrie, sich an den Hals griff und zurücktaumelte. Aus der Entfernung und trotz des Regens vermochte Fortunato einen Schwall roten Blutes zu erkennen, der Mr. Wang aus dem Hasl strömte. Krächzend streckte er die verkrampfte Hand in Richtung Fortunato und ging auf die Knie. Ein heftiges, bebendendes Donnergeräusch hallte herab und ließ Fortunato zusammenzucken. Aus dem Türrahmen sprang plötzlich eine schwarz verhüllte Gestalt und rammte Mr. Wang eine große Machete mehrmals in die Brust. Im folgenden Blitzlicht konnte Fortunato die glitzernde Klinge des Mordinstruments eindeutig erkennen. Rasch eilte die Gestalt zurück ins Treppenhaus. „Oh mein Gott,“ flüsterte Fortunato, als sein Blick zur immer noch geöffneten Tür wanderte und er schnelle Schritte im Treppenhaus hörte. Schnell sprintete er in Richtung der Tür, stolperte jedoch über den Teppich und fiel auf den Bauch. Das Geräusch aus dem Treppenhaus nahm an Lautstärke zu. „Verdammt“, keuchte Fortunato und rappelte sich wieder auf, weiterhin die geöffnete Tür direkt vor Augen. Je näher er der Tür kam, desto weiter schien sie sich gleichzeitig von ihm zu entfernen. Es kam ihm vor, als befände er sich direkt in einem Alptraum. Nur noch wenige Meter von der Tür entfernt sah er einen Schatten die Treppenstufen heraufschreiten. Panisch ergriff er den Türknauf und warf die Tür ins Schloss. Verwirrt blickte er die Tür an, während er einige rückwärtige Schritte tätigte. Sein heftiger Atemgang und die gesamte Szenerie führten dazu, dass sein Kopf vor Schmerzen zu zerspringen drohte. Sein Brustkorb hob und senkte sich in kurzen Intervallen, stoßartig und unrhythmisch verlief sein Atemgang. Da rüttelte es plötzlich an der Tür. „Wer ist da?“ wollte Fortunato ängstlich wissen. Er bekam keine Antwort. Statt dessen rüttelte es nochmals heftiger. Fortunato nahm sich den Haustürschlüssel und näherte sich wieder der Tür. Er erhoffte sich zusätzliche Sicherheit, indem er die Tür abschloss. Unaufhörlich rüttelte die Tür weiter. „Was wollen sie, haben sie mich eben gerade angerufen?“ Wieder keine Antwort. Statt dessen krachte ein erneuter Donnerschlag hernieder, der die kleinen Porzellanfiguren auf der Kommode vibrieren ließ.
Instinktiv wanderte Fortunatos Blick zum Fenster, dann wieder zurück zur Tür. Das Rütteln hatte aufgehört. Abgesehen vom Geräusch der auf den Asphalt prasselnden Regentropfen und Fortunatos keuchenden Atem war nichts mehr zu vernehmen. Nervös befeuchtete Fortunato seine Oberlippe mit der Zungenspitze während er den Schlüssel auf das Schloss richtete. Er versuchte, eine höchstmögliche Distanz zur Tür zu halten. Als der Schlüssel in das Türschloss drang, hielt Fortunato kurz inne, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Wer auch immer sich hinter der Tür befand, es war sicherlich kein Geschäftspartner mit guten Intentionen. Konnte es ein Mitglied aus der Familie sein? Dabei hatte Fortunato doch ständig seine Aufträge zur vollsten Zufriedenheit aller erledigt. Kam ihm die Stimme am Telefon irgendwie bekannt vor? Hatte sie überhaupt etwas mit dem Mann vor seiner Tür zu tun? Auf beide Fragen wusste er keinerlei Antwort. Auf einem Niveau der höchsten Konzentration und Anspannung angelangt, drehte er den Schlüssel nach rechts. Die Tür war verschlossen. Mittlerweile atmete Fortunato durch die Nase ein und entließ die Luft durch den Mund. Eilig begab er sich zu seinem Nachttisch und entnahm seine Waffe.
Die Trommel war mit sechs Kugeln gefüllt. Dann verschloss er das Fenster. Mr. Wang lag regungslos im Regen, seine Augen vor purem Entsetzen geweitet. Fortunato nahm den Hörer seines Telefons in die Hand. Die Nummer der Polizei konnte er nicht wählen, schließlich war er in den Polizeiakten kein unbeschriebenes Blatt. Er wählte Don Vitos Nummer, doch er hörte keinen Ton aus dem Telefon. Fortunato legte wieder auf und wählte eine andere Nummer, es ereignete sich exakt das Gleiche. Die Leitung war tot. Das passierte öfters bei heftigem Unwetter. Gerade, als Fortunato ansetzte, um aufzulegen, vernahm er ein knackendes Geräusch. Eine finstere Stimme klang ihm entgegen: „Du hast einen hohen Preis zu zahlen, Enrico. Ich komme jetzt herein um mir meine Zahlung abzuholen. Die Währung nehme ich in Blut entgegen!“ lechzte ihm die Stimme geradezu genüsslich entgegen. Schockiert entglitt der Hörer Fortunatos schweißnassen Händen. Diese Situation schien derartig unglaublich und entsetzlich zugleich, dass Fortunato einen kurzen Lacher ausstieß.
Entschlossen richtete er den Lauf seiner Waffe auf die Tür. Wie lange er in dieser Position verharren sollte, wusste er nicht, doch er war bereit, notfalls bis zum Anbruch des Tageslichtes zu warten. Mit dem nächsten, heftigsten Blitz- und Donnerschlag setzte gleichzeitig die Beleuchtung aus. Auch dies hatte Fortunato in diesem schäbigen Bau mehr als einmal erlebt. Allerdings noch nie zuvor unter diesen grauenhaften Umständen. Fortunato richtete weiterhin den Lauf der Waffe auf die Tür. Seine Augen versuchten sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Hinter ihm lag das Fenster, vor ihm die verschlossene Tür. Der Regen prasselte konstant gegen das Fenster. „Komm nur, du Bastard“, flüsterte Donato. Kaum hatte er ausgesprochen, fiel plötzlich die gesamte Tür aus den Angeln und schlug krachend in den Flur.
Im Türrahmen stand eine große, breitschultrige Gestalt. Das hereinfallende Licht der Straßenlaternen leuchtete die Gestalt nur bis zum Knieansatz aus, der Rest lag im Dunkeln verborgen. Eine Serie von zuckenden Blitzen erhellte für Sekundenbruchteile den Raum. Fortunato konzentrierte sich, doch er konnte das Gesicht der Person nicht erkennen. „Verdammt, sag mir wer du bist, oder ich knall dich ab!“ krisch Fortunato. Der Lauf der Waffe zitterte. Die Gestalt griff in die Tasche und zog einen Gegenstand heraus. Es handelte sich um eine Axt! Die Person hielt die Axt derartig ins Laternenlicht, dass sie eindrucksvoll reflektierte. „Verrecke!“ brüllte Fortunato panisch und schoss sechs mal in Richtung der Person. Hoffnungsvoll starrte Fortunato mit geweiteten Augen auf die Gestalt. Die Gestalt verharrte in ihrer Position. Fortunato wartete darauf, dass sie endlich umkippen würde, doch die Gestalt setzte plötzlich einen Fuß vor den anderen. Ganz langsam und gemächlich. Fortunato blickte ungläubig auf den qualmenden Lauf seiner Waffe und schmiss sie auf die Gestalt. „Verdammt, das kann doch nur ein Alptraum sein. Ich will endlich aufwachen, bitte lieber Gott, lass mich aufwachen!“ weinte Fortunato bitterlich, während er auf die Knie sank. Träenen rannen ihm die Wangen herunter. Verzweifelt blickte er zur Zimmerdecke und faltete die Hände.
Fortunato war stets ein gottgläubiger Mensch geblieben, auch wenn er im Laufe seiner Karriere bei Vito mindestens neun der zehn Gebote gebrochen hatte. Die Gestalt trat herein und schritt langsam auf Fortunato zu. Regentropfen rannen den schwarzen Mantel herab und tropften auf das Parkett. Wasser drängte sich aus seinen gefüllten Stiefeln. Die wuchtige Axt schliff über den Boden und zerkratzte das Parkett. In dem Moment, als die Gestalt in das hereinfallende Licht der Laternen trat, blickte Fortunato plötzlich ehrfürchtig zu Boden. Er hatte zuviel Angst, der Gestalt ins Auge zu blicken, nun da er ihr bloß noch einen Meter entfernt war. „Bitte“, jammerte er, dann schlug ihm die Axt in den Rücken und riss eine Furche bis auf die Wirbel hinein. Fortunato schrie auf und sank verkrümmt zusammen. „Hilfe, warum hört mich denn niemand?“ jammerte er schmerzerfüllt. „Es gibt Orte, an denen dich niemand schreien hört. Glaub mir, ich weiß wie das ist!“ flüsterte der Mann. Angesichts seines nahenden Todes hob Fortunato noch einmal den Kopf, um seinem Widersacher schließlich doch in die Augen zu schauen, doch bevor dies geschehen konnte, sauste die Axt herab und spaltete seinen Schädel bis zwischen die Augen.
Fortunato verdrehte die Augen. Der Mann zog die Axt heraus und steckte sie wieder in den Mantel. Aus der Furche in Fortunatos Stirn blubberte die Gehirnmasse heraus und bildete einen grützeartigen Haufen. Als Joey Bonati etwa fünf Minuten später das Haus erreichte, um auf Vitos Anliegen den großen Drogendeal mir Fortunato unter vier Augen zu besprechen, wie er es am Telefon wenige Minuten zuvor angekündigt hatte, fiel ihm Mr. Wangs Leiche auf. Skeptisch tastete er über Mr. Wangs Hals, dann zog er seine Waffe und ging ins Haus. Die Tür war nicht abgeschlossen. Als der verwunderte Joey Bonati über die eingefallene Tür stieg und den in seinem eigenen Hirn liegenden Fortunato erblickte, schwor er sich, den Schuldigen zu finden und im Namen der Familie zur Verantwortung zu ziehen.
Im herniederprasselnden Regen schritt die Gestalt langsam über die Straße. Einige Passanten blieben stehen und blickten der Gestalt nach. Etwas Eigenartiges ging von ihr aus, etwas, das einem suspekt vorkam, ohne dass ein Indiz vorgelegen hätte. Vor dem Anlegesteeg des Sees blieb die Gestalt stehen und ließ die Axt scheppernd zu Boden fallen. Dann zog sie ihren Mantel aus. Die Passanten vermochten noch zu erkennen, dass sie total zerfetzte Kleidung trug, an der scheinbar Algen und Seetang herunter hingen, bevor sie geradewegs in den See sprang und niemals wieder auftauchte.