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Mit ausgestreckten Händen
Mit ausgestreckten Händen
Vom Mondlicht silbern schien die Welt zu ihren Füßen. Es war, als hätte ein Zauber unmerklich seine Wirkung getan und das Antlitz der Erde gewandelt. Das silberne Licht verwandelte betongeborene Wohnkolosse und schnurrgerade Straßen, in seltsam anmutende Mondlichtpaläste.
Die Stadt wirkte nicht mehr grau und leblos, wie zuvor im grellen Tageslicht, sondern nunmehr unwirklich. In ihrer silbernen Durchsichtigkeit konnte man vermuten, sie wäre von Elfen bewohnt.
Auf den schrägen Dächern tanzten Lichter, in allen Straßen blitzten kleine Mondlichtfunken.
Stille erfüllte diese Nacht.
Eine Stille, kaum zu erfassen und doch in ihrer Tiefe voller Melodie.
In der Ferne funkelten die Konturen des Flusses und nächtliche Nebel hingen an seinen Unfern. Der Fluss erinnerte das Mädchen an eine Schlange, die sich durch dickes Unterholz schlängelte, von diesem an einigen Stellen fast verschlungen und an anderen wieder freigegeben wurde.
Wenn das Mädchen seine Augen zusammenkniff, konnte es die tanzenden Feen auf dem Fluss erahnen. Es sah das spritzende Wasser und hörte das hohe Lachen.
Sie stand auf einem Vorsprung, weit oben auf einem der gläsernen Hochhäuser und ihre hellen Haare wehten im lauem Sommernachtswind.
Das Mondlicht zauberte ihre Haare silbern und ihre blauen Augen glänzend.
Die Arme hatte sie ausgebreitet, als würde sie die Welt damit umschließen wollen, sie in sich aufnehmen und geborgen heißen in ihrem Herzen.
Auf ihren Lippen war ein Lied, wurde leise hinausgesungen in die Nacht.
Das Mädchen streckte die Hände hinauf zu den Sternen, blickte zu ihren geöffneten Händen und sah darin die schimmernden Himmelskörper zum Greifen nah.
„Es ist, als könnte ich sie einfach vom Himmel pflücken“, dachte sie und verdeckte einen Stern mit ihrem linken Zeigefinger.
Als sie den Finger wieder fortnahm, war auch der Stern nicht mehr zu sehen. Auch auf Zehenspitzen stehend, ergab sich kein anderes Ergebnis. Der kleine Stern war fort.
Nachdenklich ließ sie sich auf dem Vorsprung nieder und betrachte die silberne Welt zu ihren Füßen. Wenn sie nun den Stern zum Verlöschen verdammt hatte? Musste er nun einsam verglühend vom nächtlichen Himmel fallen?
Eine dunstige Wolke schob sich vor den Vollmond, und mit ihr zog ein Schatten über die Stadt. Auf einmal schien eine Hälfte der Stadt aus Mondlicht gebaut und die andere aus Beton, wie eh und je.
„Der Zauber verfliegt schon...“, dachte das Mädchen und sehnte sich nach der nächsten, verzauberten Vollmondnacht. Es sehnte sich nach den nächtlichen Stunden, in denen die Realität in einen traumreichen Schlaf verweilte. In diesen Nächten ging sie auf Entdeckungsreise durch ein Mondlichtreich, indem die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt und durchlässig waren.
Mit einem Satz sprang sie von dem kleinen Vorsprung, es wurde Zeit durch das angelehnte Fenster hinein in ihr Zimmer zu schlüpfen, die Hausschuhe abzustreifen und in die weichen Kissen zu fallen.
Die Augen halb geschlossen blinzelte sie, in ihrem Bett liegend, noch einmal aus dem Fenster hinaus in die vergehende Mondlichtwelt.
Ihr Zimmer lag in einer Terrassenwohnung, weit oben auf einem gläsernen Hochhaus und sie konnte aus seinem Fenster den Himmel sehen.
Zwischen funkelnden Sternen, an dem vollem Mond vorbei, fiel ein Stern vom dunklem Himmelszelt und strandete schließlich nahe am Horizont.