Mitglied
- Beitritt
- 21.04.2016
- Beiträge
- 36
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Mister Winterbotten
Dieses ist die Geschichte von Mr. Winterbotten. Er sitzt, wie jeden Abend seit drei Jahren, um genau 19:00 Uhr beim Abendbrot. Er löffelt seine Suppe mit der linken Hand, denn er ist Linkshänder. Als Kind hatte er deswegen alle Weile Schwierigkeiten. Denn noch vor sechzig Jahren galt es als unschicklich, mit der linken Hand zu essen. In der Schule schlug ihm der Lehrer mit dem Rohrstock auf die Hand, denn geschrieben wurde mit rechts und nur mit rechts. Er konnte das einfach nicht. So musste er Schläge und Ermahnungen deswegen in Kauf nehmen. Heute ficht ihn das alles nicht mehr an, denn er ist allein und niemandem Rechenschaft schuldig.
Das einzige Lebewesen, das er in seiner Wohnung duldet, ist sein Hund Racker. Er ist ihm im Laufe der letzten drei Jahre – seit seine Frau tot ist – immer wichtiger geworden. Ja so wichtig, dass er mit ihm am Tisch sitzen und die Mahlzeiten mit ihm gemeinsam einnehmen darf. Racker benimmt sich dabei recht manierlich.
Wohltuendes Schweigen umgibt die Beiden. Mr. Winterbotten denkt an vergangene Zeiten, als sein Luischen noch bei ihm war. Was konnte die Frau lachen. Laut, aus voller Kehle und so heftig, dass es ihr oft die Tränen in die Augen trieb. Es störte sie dabei gar nicht, dass sich ihre Wimperntusche in Wohlgefallen auflöste und wie kleine schwarze Bahnen die prallen roten Wangen hinablief. In diesen Momenten liebte er sie am meisten. Er nahm sie dann oft in seine Arme und wirbelte sie so lange herum, bis beide außer Atem waren und sich zu Boden sinken ließen. Das ist alles schon lange her und doch immer wieder eine schöne Erinnerung. Durch dieses Erinnern ist Luischen ihm wieder nah und er kann fast ihre Wärme spüren. Ja, manchmal erwischt er sich dabei, wie er mit ihr redet, oder den Hund ausschimpft: „Wenn das das Frauchen sieht.“ Ein wenig traurig hält er dann inne.
Bis vor ein paar Monaten hat der alte Mann sich noch sehr einsam gefühlt. Es war so, als luge die Einsamkeit hinter dem roten Samtvorhang, den Luischen unbedingt haben wollte, hervor und verhöhne ihn. Er fühlte sich schon versucht, ihn durch einen gelben Voilevorhang zu ersetzen. Hat es aber gelassen, denn mit ihm kann er die Einsamkeit auch verstecken – allerdings erst seit ein paar Monaten, nachdem er endlich loslassen konnte.
Wenn man jetzt denkt, der alte Mann sei allein, so stimmt das nicht. Seine Erinnerungen an vergangene Zeiten sind seine Weggefährten. Die Fotoalben, ja sogar ein kleiner Film von seinem Luischen sind seine Begleiter. Wann immer Sehnsucht in ihm aufsteigen will, holt er die Fotos hervor. Dann sind da auch noch die alten Briefe – geschrieben vor fünfzig Jahren – im ersten Liebestaumel. Er liest sie immer und immer wieder und schmunzelt oft darüber. Dann sieht er seine Frau vor sich – in der Blüte ihrer Schönheit und Jugend. Im weißen, luftigen Sommerkleid, mit geflochtenen Haaren, blitzenden Augen, rosigen Wangen und einer Taille, die einer Wespe zur Ehre gereicht hätte. Die Taille hat sich allerdings im Laufe von fast fünfzig Jahren sehr verändert. Und doch – die Liebe ist geblieben – wenn auch in einer anderen Dimension.
Mr. Winterbotten löffelt weiter seine geschmackvolle Suppe, wenn sie auch nicht so gut schmeckt wie Luischens.