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Mister Phantastico alias Servi Artisti
Bei dem letzten Trick muss ich grinsen.
Zwei weiße Tauben flattern aufgeregt über den Tisch eines älteren Ehepaares hinweg und stoßen dabei die noch fast gefüllten Weingläser der Beiden um.
Die in ein grell buntes Frack gehüllte Jahrmarktsgestalt mit Schnurrbart saugt den tosenden Applaus der Anwesenden voller Genuss in sich auf, ehe sie eine Hälfte der nassen Tischplatte für einen Moment unter dem rechten Ärmel ihres lächerlichen Kostümes verschwinden lässt.
Jetzt steigern sich die Menschen fast in eine extatische Verhuldigung des alten Schwindlers, als sie sehen, dass die Gläser anschließend wieder aufrecht stehen und gefüllt sind.
Ronaldo, der selbsternannte Zauberkünstler aus Spanien; Mister Phantastico, wie er sich auch im Laufe des Abends schon des öfteren gerne selbst betitelt hat, vollführt einige tiefe Verbeugungen in sämtliche Richtungen des aus naheliegenden Altersheimen angerückt zu sein scheinenden Publikums und zieht sich dann in eine kurze Pause zurück.
Vermutlich, um sich noch der zweiten Halbzeit seiner Whiskyflasche zu widmen, spekuliere ich im Geiste.
"Jetzt komm schon, dass ist doch lustig.", kumpelt mich Kathrin an, der meine Verbitterung über dieses zweifelhafte Spektakel scheinbar aufgefallen ist.
"Sehr lustig! So einen hätten wir uns auch nach Hause bestellen können. Solche Leute stehen, wenn ich mich nicht irre, in den Gelben Seiten unter der Rubrik Kindergeburtstag."
Sie schaut mich daraufhin nicht böse an. Böse wäre okay. Nein, vielmehr wirft sie mir einen Blick zu der mich daran zweifeln lässt, jemals an Petrus vorbei durch die Tore des Himmels schreiten zu dürfen.
"Du hast halt keinen Sinn für solche Sachen. Mach es doch ersteinmal nach, bevor du rumnörgelst. Ich geh jetzt jedenfalls zum Buffet. Du kannst ja nachkommen, wenn du willst.", fährt sie mich auf eine Art an, die kein wirkliches Nein zulässt. Zumindest nicht, wenn man das Risiko einer stillen Heimfahrt in Kauf nimmt, bei der man die Emotionen fast schon in der Luft knistern hören kann.
"Ich komme gleich nach.", sage ich dennoch.
Ich habe von Anfang an keine Lust auf diesen Abend gehabt. Es ist Samstag und normale Menschen in meinem Alter sollten sich jetzt im Stadtpalais befinden und zu der Musikrichtung ihres Verlangens in - dem Mischverhältnis von Blut und Alkohol in den Adern angepasst - mehr oder weniger extatischen Bewegungen über die Tanzfläche springen; und wer darauf keine Lust hat macht es sich halt im Kino gemütlich, oder in einer Kneipe, einer Cocktailbar, oder was weiss ich wo.
Jedenfalls nicht in einer gottverdammten Scharlatanaufführung der Amateur Zauberei, deren Sinn und Zweck einzig darin besteht senilen Schaulustigen das Geld aus der gut gefüllten Tasche zu ziehen.
Ich mache Kathrin meinerseits schließlich auch keine Vorwürfe, wenn sie sich irgendwo langweilt, während ich dabei bin mich zu amüsieren. Nicht, dass das jemals vorgekommen wäre, aber wenn, dann würde ich nicht. Aber ich bin auch nicht ein solcher Egoist wie sie und ich frage mich inzwischen ernsthaft was diese Frau außer ihrem knackigen kleinen Hintern und den straffen Brüsten überhaupt zu bieten hat, außer vielleicht der Erniedrigung sich in ihrer Begleitung einer solchen Show aussetzen zu müssen; und den endlosen Streitereien natürlich.
Ich meine, ich liebe David Copperfield und ich würde sie jederzeit begleiten, wenn es um die wahre Kunst der Illusion ginge. Alles was ich hier bisland heute Abend allerdings erlebt habe, weiss ich schon von meinem ersten Kasten der Magie besser, den mir mein Onkel zum zwölften Geburtstag geschenkt hat. - "Kannst mir ja dann gleich den Schnaps aus der Blutbahn wegzaubern.", hatte er damals gesagt und dann gerülpst. Später war er dann im Vollrausch über die "Geheimnisvollen Ampullen des Vergessens" gestolpert und hatte sie zerbrochen, so das ich diesen Trick bis heute nicht kenne und so eventuell zumindest noch eine Überraschung zu erwarten habe, wenn Mister Phantastico aus seinem Kabuff zurückkehrt.
Natürlich sitzen auch noch ein paar Eingeweihte im Publikum, wie das Ehepaar von vorhin, das mit den Weingläsern.
Ich krame in meiner Tasche nach den Marlboros und zünde mir meine zehnte Zigarette heute Abend an. Deswegen hat Kathrin mir auch schon ein paar abwertende Blicke zugeworfen, ohne diese bis jetzt aber zu kommentieren.
Mein Magen rumort nach dem ersten Zug und plötzlich wird mir bewusst, dass ich tatsächlich einen Bärenhunger habe. Es hat sich mittlerweile eine Schlange von knapp zwanzig Leuten vor den drei Aufstelltischen gebildet, obwohl die meisten davon wahrscheinlich ohnehin mit ausreichend Haftcreme bewehrt sind, um peinlichen Situationen aus dem Weg zu gehen, hat man doch vorsorglich sämtliche "gefährliche" Speisen von dem spartanischen Buffet ferngehalten und sich auf unterschiedliche Salatsorten und einige Weissbrothäppchen geeinigt. Vielleicht allerdings auch bloß aus Kostengründen.
Ich beobachte Kathrin einen Moment dabei, wie sie sich ihren Teller mit irgendeinem pampigen Allerlei vollschlägt, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kartoffelsalat handelt, welches rein optisch aber eher die Assoziation mit einem George A. Romero Film zulässt.
Sie ist mit ihren knappen eins fünfundfünfzig kaum größer als die sie umgebenden Senioren und nicht minder unattraktiv bekleidet. Als sie davon sprach sich in Schale zu werfen, meinte sie dabei scheinbar ein der Situation angepasstes Outfit.
Ein grässlich farbenfroher Wollpullover mit glitzernden Plastik -Schmetterlingen? Käfern? Totenschädeln?- , naja, Plastikdingern halt, betont ihre Figur ungefähr genauso gut wie der Mona Lisa eine Baseballkappe stehen würde, und die umherschlabbernde Hose sieht aus, als wäre sie gerade aus ihrer Gefangenschaft in einem Altkleidercontainer befreit worden.
Sie schaut zu mir herüber und formt mit ihren Lippen irgendeinen stillen Satz. Vermutlich will sie wissen, warum ich mich nicht zu ihr und der ganzen anderen illustren Gesellschaft
begebe. Zusätzlich kneift sie noch bösartig ihre Augen zusammen und mir wird bewusst, dass ich lieber verhungern würde, als ihr jetzt noch das befriedigende Erlebnis einer Genugtuung zu schenken.
Die nächsten Minuten verlaufen still und unharmonisch, aber zumindest habe ich mich nicht Kathrins Willen gebeugt. Ich finde diesen Abend zum kotzen und - verdammt nochmal! -, ich habe auch kein Problem damit, ihr diese Tatsache völlig unverhohlen auf dem Silbertablett zu präsentieren.
Soll sie beleidigt sein und schmollen. Ich wollte was trinken gehen.
"Hier. Schaff ich nicht mehr", raunt sie in meine Richtung und schiebt den Teller mit ein paar Resten des undefinierbaren Etwas zu mir herüber. - "Vielleicht hast du ja bessere Laune, wenn du was in den Magen bekommst", fügt sie absolut unnötigerweise hinzu und ich frage mich, wie sich der Salat auf der Vorderseite ihres Pullis machen würde.
Zu allem Überfluss fangen die Gäste an den vorderen Tischen in dieser Sekunde auch noch zu klatschen an und ich weiss sofort, wem der Applaus gilt.
Ronaldo springt mit dem Elan einer müden Schildkröte auf die Bühne und verliert dabei aus einer Innentasche des Mantels heraus sein Handy, welches - um das Missgeschick auf die Spitze zu treiben - genau im selben Augenblick auch noch zu klingeln beginnt.
"Peter und der Wolf", lacht eine Frau am Tisch neben uns und übersieht dabei großzügig, dass der Klingelton mit zeitgenössischer Klassik ungefähr genausoviel gemein hat, wie gesunde Zähne mit Bibern.
Scheinbar bin ich der Einzige hier, der aus dem schrillen Piepsen den Beat eines Eminem Liedes heraushört. Nichteinmal Kathrin fällt es auf, oder sie ist zu eingeschnappt, um es laut auszusprechen.
Soviel also zu Mister Phantasticos Mysterien, denke ich.
Innerlich brenne ich indess darauf zu erfahren, wie er sich aus dieser Peinlichkeit herauszuwinden gedenkt.
"Na sowas!" - Mehr sagt er nicht.
Dann deutet er mit seinem Zeigefinger auf das gebannt starrende Publikum und lässt ihn hin und her wandern.
"Ich glaube fast, da verlangt das Telefon nach einem unserer Gäste. Eigentlich wollte ich nach der Pause ja eine kurze Ansprache halten, um Sie auf die weiteren, Ihnen bevorstehenden Unglaublichkeiten vorzubereiten. Aber nun..." - Er macht eine Pause, während das Handy indess unaufhörlich weiterklingelt.
"Nun sieht es wohl so aus, als wenn wir den Betreffenden ersteinmal sprechen lassen müssten. Besitzt jemand von Ihnen ein solches Gerät wie dieses hier?", fragt er verschwörerisch.
Keine Antwort. Natürlich nicht.
"Den Ton hab ich bei dir vorhin auch eingestellt. Dieses langweilige Gedudel vorher war ja kaum zu ertragen", sagt Kathrin plötzlich.
Ich kann nicht sagen ob es sich um Sorge, oder bloß um eine reflexmäßige Zwangsüberprüfung handelt, jedenfalls greife ich ohne lange darüber nachzudenken in meine linke Hosentasche und finde sie vollkommen leer vor.
"Der Bastard hat mein Nokia geklaut!", entfährt es mir in einer Lautstärke, die unter Verwendung eines Mikrophons das gesamte Münchener Olympiastadion beschallen würde.
Ein paar Gäste schütteln entsetzt die Köpfe und murmeln aufgebracht vor sich hin.
"Ahhhhh...es scheint so, als hätten wir den Besitzer ausfindig gemacht. Kommen Sie doch bitte zu mir auf die Bühne", sagt der Mann im lächerlichen Kostüm und mit dem dämlichen Schnurrbart richtig freundlich, meine Bemerkung absolut und total ignorierend.
Ich habe das Gefühl, als würden mich tausend Augen erwartungsvoll dazu auffordern, irgendetwas zu unternehmen (was sie im Grunde auch tun).
Alles, bloß nicht wie festgewachsen auf dem Stuhl sitzen bleiben.
Mister Phantastico lächelt mich auf eine Weise an, als wäre ich sein neugeborener Enkelsohn und Kathrin versetzt mir währenddessen einen - in Anbetracht eines sich liebenden Pärchens - deutlich zu heftigen Stoß in die Seite, als wenn ihr der Glitzer-Pulli mit einemmal doch zu peinlich wäre; in Anbetracht des Umstandes, dass unser Tisch im Augenblick für alle Anwesenden interessanter ist als Großmagier Ronaldo selbst.
"Jetzt geh schon", keift sie mich flüsternder Weise an und verdreht dabei die Augen.
Innerlich bin ich noch immer wütend darüber, dass dieser Mistkerl sich einfach meines Handys bemächtigt hat, aber irgendwie kann ich diese Emotion gerade schlecht zum Ausdruck bringen, denn ich fühle mich wie ein Verurteilter des Mittelalters auf seinem langsamen Weg hin zum Schaffot, während ich mich unter den strengen Blicken der anderen Gäste der Bühne nähere.
Als ich sie endlich erreicht habe, stelle ich zu meiner Verwunderung fest, dass Ronaldo angenehm nach irgendeinem sündhaft teuren Parfüm riecht. Ein Duft, den man ob seines Äußeren überhaupt nicht erwarten würde.
"Schön, dass Sie es letztendlich doch noch bis hierhin geschafft haben", scherzt er und wird anschließend von kurzem Gelächter aus dem Publikum entsprechend honoriert.
Mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute.
Im Gegenteil.
Ich will mein Handy zurück haben und dann nach Hause fahren und schlafen gehen. Vorher will ich diesem selbstgefälligen Drecksack aber noch mindestens die Fresse poliert haben.
In so einer erniedrigenden Situation habe ich mich seit der zweiten Klasse nicht mehr befunden. Was damals passiert ist werde ich jetzt mal als das belassen was es ist, ein tieftrauriges Geheimnis halt.
Aber das hier übertrifft alles.
Das Nokia klingelt indess übrigens noch immer wie verrückt; scheinbar war ich derart abgelenkt, dass ich es überhaupt nicht mehr bewusst wahrgenommen habe.
Ronaldo richtet seinen Blick nach unten und dann wieder direkt in meine Augen.
"Wie heißen Sie?", möchte er wissen.
"Marcus", erwidere ich hörbar gereizt.
"Schön Sie kennenzulernen, Marcus. Möchten Sie denn nicht drangehen und das Gespräch annehmen?"
Ich zögere kurz.
Dann bücke ich mich und hebe das wie verrückt schrillernde Gerät auf, ohne noch ein Wort zu sagen.
Mit der grünen Hörertaste bestätige ich den Anruf.
Es vergehen ein paar Minuten, bis ich mit dem roten Pendant wieder auflege und die Verbindung beende. Alles, was ich in der Zwischenzeit gesagt habe, waren ein paar ' Aha´s ' und ' Ja, okay´s '.
"Ist jetzt alles klar bei Ihnen, Marcus?", fragt mich Ronaldo, nachdem er in der Zwischenzeit - in der ich am Telefonieren war - , dem Publikum bereits DIE Vorführung des Abends angekündigt hat.
Er wird mich verschwinden lassen.
Einfach so.
Ich steige in die Holzkiste - der Boden ist selbstverständlich absolut dicht -, er schließt die selbige, murmelt ein paar Formeln, öffnet sie dann wieder und...Abrakadabra...ich bin weg.
Auf Nimmer Wiedersehen; zumindest solange bis er mich zurückholt.
"Sind Sie bereit?" - Natürlich bin ich. Wird sowieso nicht funktionieren.
Ich nicke.
Mister Phantastico schließt den ebenholzernen "Sarg" und das letzte was ich sehe ist die hereinbrechende Dunkelheit, die mich von dem Anblick der Anwesenden - insbesondere aber dem Anblick Kathrins - erlöst und dann ist es plötzlich still. Ganz ruhig und schwerelos.
Ich habe begriffen.
***
"Es hat echt geklappt?" - Kathrin rutscht wie ein kleines Kind, das mal dringend pinkeln muss auf dem Beifahrersitz hin und her.
"Hat es! Es war tatsächlich, als würde ich mich in einer anderen Welt befinden. Absolut unglaublich!"
Sie klopft mir aufgeregt auf die Schenkel und ich habe das Gefühl, als wenn sie jede Sekunde von einem Asthma-Anfall heimgesucht werden würde.
"Dann gehen wir jetzt noch schön essen, ja? Wird ja doch noch ein schöner Abend! Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass Zauberei was tolles ist!"
"Sicher! Fahren wir ins Roxana. Ich lad dich ein."
"Ich dachte wirklich, dass dieser Abend im Krach zuende gehen würde", freut sie sich weiter und tritt dann aufs Gas.
Unser Wagen gleitet sanft durch die Nacht. Das Restaurant ist eine gute halbe Stunde von hier entfernt.
Zeit genug.
***
"Falkenbergerstraße 34, richtig?" - Der bullige Mann mit dem russischen Akzent hat alles mitgeschrieben, was ich ihm gesagt habe.
"Ganz genau! In der dritten Etage, linke Wohnung. Bei Asselmann.", ergänze ich noch vorsichtshalber.
"Und wenn ihr schonmal da seid, da stehen so kleine Porzellanfigürchen, die liebt sie total."
Der Mann grinst mich kurz an. - "Schon verstanden. Werde ich persönlich kurz und klein schlagen. Den Rest müssen wir aber mitnehmen. Soll sich ja schließlich lohnen."
"Gut", sage ich, "Ausgerechnet mit diesem Arsch aus ihrem Volleyballverein. Wie habt ihr das überhaupt rausgefunden?"
"Das wird nicht verraten. Kleiner Tipp, die Tickets werden einen Monat vorher bestellt. Da bleibt Zeit genug sich seine Gäste etwas näher anzuschauen. Jetzt müssen Sie aber wieder nach oben", sagt er hastig und deutet dabei mit seiner Hand auf die Holzkiste, die an die Wand des kleinen Lagerraumes gelehnt ist.
"Boris hier wird Sie zurück durch den Bühnenboden heben. Ist ein starker Mann, was Boris?" - "Du willst dir doch nur den Rücken schonen, du dummer Hund!", ruft der gleichfalls kräftige, zweite Mann zurück und verfrachtet mich etwas unsanft wieder in meinen "Sarg".
"Keine Sorge! Den Abend wird Ihre Freundin so schnell nicht vergessen, wenn sie später nach Hause kommt. Denken Sie nur daran, uns genügend Zeit zu lassen! Und nehmen Sie die Schlüssel wieder mit. Sind bereits nachgemacht." - Ich stecke mir den Bund in die Tasche und dann wird es wieder dunkel.
Boris stemmt mich nach oben.
Zurück auf die Bühne.