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Mister Fokuhila
Ich erkannte ihn sofort: an den urinfarbenen Westernstiefeln über der Militär-Tarnhose. Am straßenköterblonden Foku-Hila-Schnitt, an mit Axe Oriental aufdringlich überdeckten Körperausdünstungen. Und an der verwaschenen Schimanski-Jacke, unter der sich auf Hüfthöhe zur Bierplauze das gefürchtete Datenaufnahme-Gerät wölbte.
Aber es war vor allem der Blick, das Blitzen in den trüben Augen, das mir erzählte: „Ick weeß, wo der Hammer hängt! Also versuch erst jar nich, mich zu verarschen! Wir sind alle nich zum Spaß hier und Gnade vor Recht – det jibt et nich. Keener wird verschont – es sei denn, er hat `ne Fahrkarte.“
Leider besaß ich so etwas nie, und in der Berliner U-Bahn ist das immer ein russisches Roulette. Einen ganzen Monat unerwischt schwarz zu fahren, ist hier so wahrscheinlich wie ein Meteoreinschlag ins Wohnhaus.
Für einen haftentlassenen Dauer-Schwarzfahrer gibt es in der Hauptstadt nämlich nur eine einzige moralische Wiedergutmachung: Der Job als U-Bahn-Kontrolleur.
Es ist wie bei einem entzogenen Heroinabhängigen: kaum ist er aus dem Kreislauf, ist die Sehnsucht groß, missionarisch tätig zu werden, als Drogenberater etwa oder Streetworker. Denn was sind U-Bahn-Kontrolleure anderes als Streetworker?
Und wenn die Läuterung noch mit Provisionen vergütet wird, darf er nachts doppelt befriedigt ins Bettchen hüpfen.
So hat jeder seinen Spaß: Die BVG kann sicher sein, dass ihr „Kampfhund“ die in eigener Praxis erlernten Schwarzfahr-Tricks mühelos entlarven wird. Und der Schwarzfahrer bekommt jemanden vorgesetzt, der es ihm leicht macht, zum Feind zu haben: einen proletarischen Wichtigtuer, der seinen Ein-Euro-Job einen Tick zu ernst nimmt, als dass man ihn selbst ernstnehmen könnte. Und bei dem jede Körperzelle einen Mangel an natürlicher Autorität offenbart, die durch Vorabendserien-Cop-Gehabe kompensiert werden soll.
Die Taktik der BVG ist dabei klar wie Spreequelle: INKOGNITO heisst das Zauberwort.
Zumindest bis die Schiebetüren ins Schloss gefallen sind und die zwei am schlechtesten gekleideten Kerle im Waggon einem verdreckte Lichtbild-Kärtchen unter die Nase halten: „Schön`juuten Tach, Fahrscheinkontrolle!“
Wobei INCOGNITO übertrieben ist: wer schwarz fährt, lernt die Kontrolleurs-Körpersprache schnell zu durchschauen: Er achte nur auf die beiden Ex-Knackis, die mit vorgestreckter Brust und Wachhundblick als letzte in der Reihe den Waggon betreten, ihn mit Pokerface durchschreiten, und an gegenüberliegenden Enden breitbeinig aufbauen, als wollten sie sich duellieren. Das in Klamotten, die selbst die Caritas entsorgen würde, und die aussagen sollen: Volksnähe – dabei durch ihre Schmuddeligkeit so entlarvend sind wie eine BVG-Uniform.
Wenn diese Anzeichen stimmen, heisst es für Schwarzi: raus aus der U-Bahn und auf die nächste gewartet!
Wenn die Schotten nicht bereits dicht sind und das Schicksal seinen Lauf nimmt, wie mir das an jenem herbstlichen Morgen in der U 8 geschah.
Ächzend schob sich das Fahrgestell aus dem Bahnhof Heinrich Heine Straße in Richtung Jannowitzbrücke. Und kaum hatte die Fahrt begonnen, hätte sie von mir aus schon wieder enden können. Denn leider war die kostenlose Stadtfahrt, seit ich vor Jahren hier hergezogen war, Ehrensache für mich geworden.
In meiner ersten Berlin-Woche hatte ich noch geglaubt, ich könnte die BVG-Reisen so problemlos ohne Ticket bewältigen, wie ich das von der Grazer Tram oder der Bremer Bimmelbahn gewohnt gewesen war – frecherweise noch mit meinem Fahrrad, da ich mich als Neuling in den Schluchten der Großstadt verfahren hatte, und resigniert die überschaubarere U-Bahn nutzen wollte.
Nur wurde ich von einem jener Zeitgenossen, welcher dem, dem ich gerade begegnete, wenn nicht aufs Haar glich, dann auf den Foku-Hila-Schnitt, eines Besseren belehrt.
Und, da er mich schon mal ertappt hatte, gleich doppelt abkassiert: einmal für mich, einmal für meinen stummen Begleiter, das Fahrrad, das dagegen nicht mal protestieren konnte.
Ebenso wie ich, der ich meine erstmalige Personalien-Aufnahme offenen Mundes über mich ergehen ließ. Und fortan begriffen hatte, wo der Hammer hängt.
Dummerweise fällte ich damals eine folgenschwere Entscheidung: Ich beschloss, mich so lange ticketlos durch die Großstadt kutschieren zu lassen, bis ich die verlorenen achtzig Euro wieder eingefahren hatte. Ein Sysiphos-Unterfangen – es dauerte keine zwei Wochen, und erneut war ich fällig.
Zum Glück hatte ich mich nach der Feuertaufe durch die BVG meiner Schwarzfahr-Technik aus Anfängerzeiten besonnen und nun immer genug Bargeld parat, um einer zweiten Aktennotiz aus dem Wege zu gehen – sonst hätte ich mir wahrscheinlich an jenem Donnerstagmorgen als geläuterter Schwarzfahr-Ex-Knacki selbst gegenübergestanden, um so ungeniert meinen Fahrschein zu fordern, wie es Mister Fokuhila gerade versuchte.
Ich fummelte, wie das in solchen Situationen meine Art war, ein wenig in der Jackentasche herum, tat so, als würde ich mein Portemonnaie nicht finden, obwohl ich es längst in der Hand hatte, und als er meinen telepathischen Wink, einfach weiter zu wandern, nach endloser Zeit immer noch nicht verstanden hatte, sondern: „Wird`s bald! Oder soll ick für Ihre Show vielleicht Eintritt zahl`n?“ raunte, da wusste ich: Jetzt oder nie.
In meinem Portemonnaie, das keine Chance besaß, in der Jeansjacke zu verharren, befand sich nämlich tatsächlich eine BVG-Fahrkarte. Nur keine gültige.
Als ich die alten Quittungen vor den skeptischen Augen meines Gegenübers durchwühlte, um sinnlos weiter Zeit zu schinden, leuchtete sie plötzlich wie ein Heiligenschein hervor und ihre Geschichte kam mir in den Sinn: In einem Anfall von Redlichkeit hatte ich zwei Wochen vorher am Kottbusser Tor eine Fahrkarte gezogen, und sogar abgestempelt – da mir kurz vor Einfahrt der Bahn eingefallen war, dass ich keine vierzig Euro bei mir trug, die ich dem Kontrolletti im Fall der Fälle weltmännisch hätte entgegenstrecken können.
Doch bei U-Bahnkontrolleuren verhält es sich wie bei Polizisten: sehnt man sie sich herbei, sind sie nicht da. Denn wie immer, wenn ich guten Gewissens meine Investition gerechtfertigt wissen wollte, kam dies Mal niemand, und die Karte versauerte in den Tiefen meiner Brieftasche.
Aber nun war ihre Zeit überraschenderweise gekommen, und einen Versuch war sie allemal wert.
Doch Mister Fokuhila nur einen kurzen Blick!
Er nickte missmutig in meine Richtung, als wäre mit dem Ding in meiner Hand alles in Ordnung. Und als prangte darauf nicht ein Stempelaufdruck aus praehistorischer Zeit! Er widmete sich einfach meinem Sitznachbarn.
Was ihn ritt, mein vor Urzeiten verfallenes Ticket abzusegnen, und das unabgestempelte des Opas neben mir zum Betrugsversuch zu erklären, blieb mir allerdings schleierhaft. Zusammen mit seinem Compagnon zerrte er den in Fremdsprache zeternden Touristen zwecks Datenaufnahme auf den nächsten Bahnsteig.
Meinem Hauch Mitleid wich die Einsicht, dass es Momente wie diese waren, die einen wie mich an seinem Laster festhalten ließen. Denn das Gefühl, einen mit allen Schwarzfahrerwassern gewaschenen Untergrund-Hells-Angel ausgetrickst zu haben, ist ein Kick, der seinesgleichen sucht.
Doch meinte ich eine Woche später, die falsche Droge eingeworfen zu haben, als mir dieselbe Schimanski-Jacke erneut gegenüber stand: in einem überfüllten Waggon der U 6 und wie vom Himmel gerotzt.
Dabei trifft man in der Innenstadt von Tokio eher einen alten Bekannten, als in der Berliner U-Bahn zweimal denselben Kontrolleur. Woran das liegen mag, weiß ich nicht. Vermutlich wird das Personal regelmäßig selbst wieder straffällig, und landet im Vollzug. Oder der Erkennungseffekt ist zu groß, als dass es sich das Unternehmen leisten könnte, die Monatsverträge zu verlängern. Das ist nicht schlimm: Der Nachschub zu diesem „Traumjob“ scheint unerschöpflich.
Leider hatte ich es bei Mister Fokuhila nicht mit einem Ausgetauschten zu tun. Und ich muss zugeben, das irritierte mich.
Immerhin war ich seit unserem Aufeinanderprallen nicht mehr kontrolliert worden. Jetzt doch noch für ihn blechen zu müssen, wäre ein gerechter Wink Gottes gewesen, hätte aber ein Gefühl des Doppel-Versagens in meinem Magen hinterlassen.
„Papiere!“ befahl er, als ich ihm chancenlos offenbaren musste, dass ich nicht im Besitz eines Fahrscheins war. Und ich überlegte, ob ich die Situation doch noch für mich entscheiden konnte, indem ich ihm mit „Schere!“ antwortete. Nur schien der Mann alles andere als in Laune zu sein, „Schnick-Schnack-Schnuck“ mit mir zu spielen.
Er wandte sich stattdessen den Umstehenden zu, die ihm mit schlotternden Händen Tickets unter die Nase hielten, immer mit der Angst im Gesicht: Würde er so gnädig sein, sie abzusegnen?
In der Zwischenzeit wühlte ich in der Jacke nach meiner Brieftasche. Doch meine Konzentration lag woanders: ich entdeckte, dass der Zug in den Bahnhof „Französische Straße“ eintrullerte.
Ein Seitenblick verriet, der Mann meiner Alpträume war noch mit Betrachten anderer Ausweise beschäftigt. Und so witterte ich meine Chance.
Langsam schlich ich durch den Menschenpulk zur Tür. Im selben Moment, da der Zug zum Stehen kam, stürzte ich wie eine läufige Hyäne durch die Öffnung, erklomm die nahe Ausgangstreppe, hastete in Giraffensätzen hinauf, warf mich über die U-Bahninsel und Straßenkreuzung direkt ins nächste Gasthaus, wo ich mich hinterm Türvorhang versteckte.
Hier gestattete ich mir das erste Mal, durchzuatmen. Dabei vermied ich es, hinter mich zu schauen: die Gaffer von den Tischen des Sternerestaurants waren mir durch den filmreifen Auftritt eh sicher.
Nach einer endlosen Minute hatte ich das Gefühl, die Luft wäre rein. Ich öffnete die Holztür einen Spalt und erschrak.
Unweit der U-Bahntreppe entdeckte ich ihn: Mister Fokuhila, verloren auf der Verkehrsinsel wie Robinson Crusoe. Als wäre er von einer Meute Schwarzfahrer umzingelt, irrte sein Blick in der Gegend herum. Ich selbst kam mir vor wie John Wayne, einem Indianerstamm entronnen.
Ich holte tief Luft. Durch den Türschlitz betrachtete ich verstohlen, was der Mann da draußen jetzt tun würde.
Klar war: er verfolgte mich! Ich hatte ihn in seiner Kontrolleurs-Ehre gekränkt, und Gott wusste, wie er mir das vergelten würde.
Doch da er sich in meine Richtung wandte, ohne das zu ahnen, sein hilfloser Blick die Restauranttür streifte, und seine Arme gespannt hielt wie eine Plastikpuppe, seine Beine verkrümmt, als hätte er sich gerade in der Hose entleert, bekam ich Mitleid mit ihm: mit ihm, Mister Fokuhila, der sich einfach nur bemühte, seinen Job gut zu machen.
Ich sah auf einmal die Traurigkeit seines angestrengten Lebens, seine Unfähigkeit, Scheitern einzugestehen, seine Verzweiflung am Unrecht, das ihm durch mich wiederfahren war.
Und beinahe wäre ich herausgekommen, ihm mit offenen Armen entgegengelaufen, hätte ihn an die Brust gedrückt, ihn dort flennen lassen, wäre über seine blondierten Spitzen gefahren und hätte gesagt, dass alles gut werden würde. Dass die Bösen ihre Strafe erhielten, und dass ich mich stellen würde.
Aber die Welt ist kein Melodram und Gerechtigkeit gibt es nur im Kino. Und solange das der Fall ist, wird ein Schwarzfahrer wie ich nicht aus seinem Versteck herauskommen. So leid es mir tut.
Doch hatte ich mich zu früh gefreut. Die letzte Begegnung mit ihm sollte auch diese nicht bleiben.
Der Winter hatte in die U-Bahnwägen Einzug gehalten und die Fahrgäste wagten nicht zu zittern, um sich keine unnötige Blöße zu geben. Sie mummelten sich in ihre Kleider, auch ich in meinen dicken Schal, als ich in der hintersten Ecke der U 7 hockte, und die Untergrundschluchten Kreuzbergs an meinen müden Augen vorbeiflackerten. Ich versank in die Kurven einer dunkelhaarigen Schönheit, die gerade eingestiegen war und dämmerte in Morgenträume.
Plötzlich schoss er durch den Waggon wie eine Rakete auf mich zu:
„Du entwischt mia noch ma!“ krächzte es im Trommelfell.
Und bevor ich begriff, woher ich den Axe Oriental Geruch kannte, der den Waggon verpestete, wuchtete Mister Fokuhila wie ein böser Flaschengeist vor meinem Leib - und hielt mir seine zerfledderte Kontrolleurs-Befugnis unter die Nase. Mein Körper bebte, die Augen weiteten sich, und das Grinsegesicht über mir zog sich in die Länge.
Ich beobachtete es eine Weile und entdeckte etwas, dass mir bisher nur im Film begegnet war: die totale Befriedigung!
Sämtliche Western, in denen das Gute doch noch über das Böse triumphiert, marschierten an meinem geistigen Auge vorbei.
Ich sah Charles Bronson den angeschossenen Henry Fonda die Mundharmonika zwischen die Zähne stopfen mit den Worten: „Spiel mir das Lied vom Tod!“ Mir kam die Genugtuung Pat Garretts in den Sinn, als er in endloser Zeitlupe Billy the Kid niedermetzelte, den er Jahre gejagt hatte.
Und ich sah Santer, den Mörder Winnetous, von Indianerpfeilen durchbohrt die Schlucht hinunterstürzen.
Das alles lag in seinem Gesicht, der Visage Mister Fokuhilas. Es war das gerechteste Gesicht, das ich je betrachtet hatte. Und plötzlich verstand ich, dass Gerechtigkeit wohl von Rache kam.
Ich senkte meinen Blick, und begriff, dass ich verloren hatte. Dem Mann war meine Visage ins Hirn tätowiert, und ich war sicher: Selbst wenn ich eine Fahrkarte gehabt hätte – was natürlich nicht der Fall war – hätte er irgendwas gefunden, um mich anzuschwärzen. Was hatte da heute noch in meinem Horoskop gestanden? „Akzeptieren Sie die Dinge, die Sie nicht ändern können.“
Traurig öffnete ich meine Jacke, um vierzig Euro rauszuholen.
„Der Mann fährt auf meiner Karte mit“, raunte es plötzlich neben mir.
Ich blickte zur Seite.
Ein graumelierter Herr streckte sein Umweltticket aus. Und mir kam in den Sinn, dass ja Wochenende war, und die BVG ihren Stammkunden erlaubte, auf ihr Ticket eine Person mitzunehmen – und sei es nur der wildfremde Schwarzfahrer von nebenan.
Ich wusste nicht, wer innerlich mehr aus den Stiefeln kippte, ich oder Mister Fokuhila. Doch da ich bereits saß, musste wohl er es sein.
Sofort suchte mein Blick den Boden. Denn seine entglittenen Gesichtszüge hätten mein Zwerchfell zum Platzen gebracht.
„Det jeht nich,“ brummte er.
„Warum nicht?“, lachte der Melierte. „Ich kenne den Mann schon lange. Beweisen Sie mir das Gegenteil!“
„Aba det is…det is`n … Schwarzfahrer!“ stammelte Fokuhila.
„Schwarzfahrer?“ entrüstete sich mein Nachbar. Er wandte sich mir zu. „Wenn ich Sie wäre, würde ich den Herrn anzeigen! Das ist Verleumdung! Solange Sie bei mir mitfahren, fahren Sie nicht schwarz!“
Ich sah, wie sich der Schädel Fokuhilas mit Blut anfüllte, wie der Kopf eines italienischen Kaffeekochers mit Espresso. Verzweifelt drehte er sich zu mir. Anschließend zum Melierten. Dann wieder zu mir. Scheinbar wollte er was sagen, aber raus kam nichts.
Auch ich selbst ließ das Reden lieber bleiben. Jede Äußerung wäre gegen mich verwertet worden. Fokuhila nach zu urteilen, vielleicht sogar in Form eines Faustschlags. Ich stierte einfach weiter auf den Boden und pfiff ein wenig: „Hoch auf dem gelben Wagen…“
Leider muss ich gestehen, dass die Geschichte kein Happy End hat. Auch wenn sie das nun wirklich verdient hätte.
Aber die Guten bleiben im Leben halt oft die Verlierer, und ich nehme an, die BVG hat vergessen, diese Botschaft ihren Kontrolleuren mit auf den Weg zu geben. Eine Mission ist etwas Wunderbares. Doch kalte Ratio manchmal besser.
Zumindest hätte die bei unserer letzten Begegnung sicherlich geholfen.
Der Frühling zeigte in den U2-Waggons schon erste Auswüchse, in Form luftigerer Damenkleider und Schwärme pubertierender „Flatrate-Säufer“ aus England.
Ich lächelte, war mal wieder frisch verliebt. Wenn auch nur in die Blondine mit Hotpants und Pausbäckchen, die mir schräg gegenübersaß, und seit Alexanderplatz scheue Blicke zuwarf. Mich beschäftigte mehr, die zu beantworten, als meinen Schwarzfahrersinn zu aktivieren. Ansonsten hätte ich ihn einsteigen sehen – Mister Fokuhila, immer noch im Amt! - und wäre selbst noch rasch ausgestiegen.
Wie für einen GSG 9-Einsatz durchkämmten die Westernstiefel den Gang – ein entschlossener Griff in die Schimanski-Jacke, als wollte er seine Kanone zücken. Doch zum Vorschein kam nur: der verdreckte Lichtbildausweis.
„Schön`juuten Tach, Fahrausweise!“
Nun war ich wirklich fällig! Wie sollte ich da noch rauskommen?
Ich blickte zur Seite. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach einem Umweltticket, auf dass ich in letzter Sekunde mitgenommen werden könnte. Doch sinnlos, es war ja nicht mal Wochenende!
Ich stierte aus dem Fenster. War die nächste Station in Sicht?
Im Gegenteil: Tunnelschwärze quälte sich am Milchglas vorbei, langsam wie eine handbetriebene Dresine – vermutlich, um Fokuhila Zeit zu geben, mich meiner wohlverdienten Strafe zuzuführen! Mein Rettungsring, der Bahnsteig, über den ich hätte fliehen können: gefühlte Stunden entfernt!
Gerade hatte er das Einzelticket meiner Blondine abgenickt, als er sich mir zudrehte.
Natürlich wühlte ich pro forma wieder in der Brieftasche, wie das um mich herum alle taten, nur wusste ich, dass ich dort noch nicht mal ein verfallenes Ticket entdecken würde.
Fokuhila starrte mich an, zog die Stirn in Falten:
„Hab ick ihr`n schon jesehn?“
Prompt stockte meine Hand, die die Brieftasche befummelte.
Doch ich nickte. Ich nickte einfach.
Da sah ich es. Mitten in seiner verlebten Visage, für mich so transparent wie die Reichstagskuppel. I
ch sah, wie es in ihm arbeitete: Wer ist das? Kenne ich den? Bin ich ihm vor zehn Sekunden begegnet, um sein Ticket abzusegnen – oder vor drei Wochen?
Ich sah, wie Kurz- und Langzeitgedächtnis ihm gleichzeitig ein Schnippchen schlugen!
Einen Moment lang dachte ich, er würde sich an alles erinnern. In einem geistigen Blitzschlag: an den praehistorischen Fahrschein, Robinson Crusoe auf der U-Bahninsel, den graumelierten Samariter mit Umweltticket!
Doch dann wandte er sich von mir ab und meinem Nachbarn zu.
Ich wagte nicht zu atmen, ließ die Hand, die immer noch im Schlitz meiner Sackotasche steckte, langsam auf meinen Oberschenkel gleiten.
War`s das jetzt? Das war`s!
Wie seltsam, überlegte ich, während Fokuhila bei der nächsten Station aus dem Waggon verschwand, für immer aus meinem Blickfeld: Der Kontrolleur – ein Opfer seiner Psyche! Zumindest hätte ich ihm die Provision gegönnt.
Ein scheues Lächeln machte sich auf meinen Mundwinkeln breit.
Doch galt es wieder der Blondine.
Manchmal denke ich noch an ihn. Wen er wohl gerade kontrolliert? Oder ist er aus Verzweiflung vor der Durchtriebenheit der Welt wieder im Knast gelandet?
Vielleicht wären Mister Fokuhila und ich in einem anderen Leben Freunde geworden. In einem Leben, in dem keiner versucht, den Anderen auszutricksen. In dem es keine Kontrolleure gibt und keine Schwarzfahrer. In einem gerechten Leben. Und in einem verflucht langweiligen Leben.