Mitglied
- Beitritt
- 14.09.2003
- Beiträge
- 11
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Misses Dormens Weihnachten
Seit einigen Wochen bedeckte ein weißer Zauber die schmale, leere Straße in dem katholischen Viertel. Die alte Misses Dormen saß hinter ihrem Fenster und beobachtete das Treiben auf der Minner Street. Vom oberen Stockwerk aus hatte sie einen guten Überblick.
In der warmen Jahreszeit langweilte sie sich nie. Viele Menschen, junge und alte kamen an ihrem Backsteinhaus vorbei. Nur wenige Meter davon entfernt befand sich das Südtor des Stadtparks. Niemand kannte Misses Dormens wahres Alter. Es schien beinahe so, als dass die alte Lady schon immer dort wohnte.
Alleine die Jungen aus dem Nachbarhaus und deren protestantischer Cousin konnten sich diese Frage noch beantworten lassen. Sie waren die letzten Menschen, zu denen Misses Dormen noch Kontakt hatte. Sie schenkte ihnen oft eine Tafel Schokolade oder anderes Naschwerk. Den Jungen gefiel dies sehr und grüßten immer freundlich, wenn sie unter Misses Dormens Fenster vorbeigingen. Zwölfjährige Jungen machen sehr viel für Schokolade.
Als Misses Dormen die Jungs zum ersten Mal ansprach, bot sie jedem etwas Kleingeld und eine Tafel Schokolade, der ihr ihre entlaufene Katze zurückbrächte. Sie suchten wirklich lange nach dem Tier, doch ohne Erfolg. Trotzdem blieb diese Verbundenheit. Das lag nun schon 18 Monate zurück und die alte Frau hatte sich seither keine neue Katze zugelegt.
Der unlängst verstorbene Mister Dormen hatte die Katze vor vielen Jahren aus dem kleinen See im Park gerettet. Jemand hatte das Tier in einen Jutesack gesteckt, ihn fest zugeschnürt und ins Wasser geworfen. Seither lebte die ängstliche Katze in der kleinen Wohnung der Dormens. In den ersten Monaten verkroch sie sich stets unter der Holzkommode, die neben der Heizung im Wohnzimmer stand. Das Ehepaar ließ der Katze alle Zeit, die sie brauchte. Es war an Heilig Abend im Jahre 1976, erzählte sie immer wieder den Jungs, als die Katze zum ersten Mal unter der Kommode hervorgekrochen kam, um sich auf den Schoß ihres Mannes zu setzen. Für sie war es das schönste Weihnachtsfest in ihrer Ehe.
Und nun stand bald wieder das Fest der Liebe an. In wenigen Tagen würden wieder Weihnachtslieder gesungen, Kinderaugen würden so groß wie die hübschen, buntbemalten Christbaumkugeln und draußen würden ganz leise die Schneeflocken die Dächer der Stadt zudecken. Auch die Jungs würden dann zu Hause sitzen und es sich und ihren Familien richtig gut gehen lassen. Weihnachten ist eine solch beschauliche, solch ruhige und friedliche Zeit.
Bei dem Gedanken an den festlichen Tag ließ die greise Misses Dormen einen kränklichen Seufzer über ihre trockenen Lippen kommen. Es würde das erste Weihnachtsfest ohne ihren geliebten Mann sein. Das erste Mal in absoluter Einsamkeit. Mister und Misses Dormen hatten keine Kinder. Keine der Geschwister lebten noch und es gab auch keine Neffen oder Nichten, die wenigstens der Form halber anrufen hätten können. In diesem Jahr war sie allein. Ganz allein.
Der Tag ging zu Ende. Misses Dormen legte sich in das alte Ehebett und schlief gleich darauf tief und fest. Es war noch dunkel draußen, als sie bereits das Bad geputzt hatte, und die Teekanne auf dem Gasherd nach Erlösung pfiff. Sie hörte sehr schlecht, aber dass das Teewasser kochte, wußte sie auch, ohne das Pfeifen zu hören. Sie machte sich jeden Tag einen Malve-Tee. Jeden Tag, seit so vielen Jahren.
Die einsamen Tage bargen einen widerlichen Alltag. Abwechslung bot einzig der beschwerliche Gang zum Friedhof, den die alte Frau jedoch nur selten beschreiten konnte, da auch ihre Füße nicht mehr so wollten, wie sie selbst. Jetzt, wo auch noch die Straßen rutschig waren, traute sie sich nicht alleine hinaus. Doch wer sollte ihr helfen? Von den Jungen aus dem Nachbarhaus konnte sie das nicht erwarten.
So blieb sie auch an jenem Tag wieder zu Hause und setzte sich an ihren Platz am angeeisten Fenster. Sie faltete ein blaues Tuch zusammen und legte es neben ihren linken Ellenbogen, der auf einem bestickten Kissen ruhte. Nur sehr selten griff sie nach dem Tuch, um die Spuren ihres Atems von der Scheibe zu entfernen, um besser erkennen zu können, wer gerade unten vorbeiging. So alleine, wie an jenen Tagen hatte sie sich noch nie zuvor gefühlt. Es gingen so selten Menschen vorbei. Der Marktplatz mit den vielen Läden lag genau am anderen Ende der Straße, so daß die Hausfrauen kaum an ihrem Haus vorbei mußten. Die Kinder saßen noch in den Schulen und die Männer arbeiteten.
Es begann wieder zu schneien. Vermischt mit Regen hinterließ der Niederschlag ein hässliches Bild. Die saubere, weiße Decke verschwand stellenweise und der Matsch war getränkt vom Dreck des Asphalts.
In ihren Blicken erkannte man immer mehr und mehr Trübsal. Schon vor Tagen hätten Passanten dies nicht für möglich gehalten, dass sich der traurige Anblick der alten Dame noch verschlimmern ließe, doch mit dem Schneeregen fiel auch ihr letzter Funke an Lebenswillen in ein unbeschreiblich tiefes Loch hinab.
Nur zwei Tage später lag zwischen dem bestickten Kissen und dem Tuch ein weißes Blatt Papier. Die zittrige Hand umklammerte einen schlecht gespitzten Bleistift, den sie aus der Schreibtischschublade ihres Mannes nach langem suchen hervorgeholt hatte. Misses Dormen eröffnete ihr Schreiben wie einen formellen Brief. Rechts oben stand Ort und Datum, es war der 24. Dezember 1981. Heilig Abend, und die Straßen waren wie leer gefegt. In den letzten beiden Tagen hatte es nur noch geregnet, die letzten Schneereste verschwanden in jenem Augenblick. Vom Park breitete sich der dichte Nebel bis zu dem Nachbarhaus, in dem die Jungen lebten aus. Die Straße war kaum zu erkennen.
Schon nach der ersten Zeile stockte sie, mußte sie doch überlegen, an wen sie den Brief richten sollte. Sie ließ den Platz vorerst noch frei und begann zu schreiben.
´Ich habe ein langes glückliches Leben hinter mir. Mein Mann hinterließ mir keine Reichtümer, und doch habe ich etwas Geld beiseite legen können. Ich habe es in der blauen Blechdose im Vorratsraum versteckt. Dort steht nur diese eine blaue. Ich möchte, daß sie das Geld nehmen, und sich darum kümmern, daß ich bei meinem Mann beerdigt werde. Ich möchte wieder zu ihm, alleine zu sein ist schlimmer als all das Leid, dass ich in den Kriegen erleben musste. Wenn noch Geld übrig ist, möchte ich, daß sie es der katholischen Kirche übergeben. Gott möge mir meinen Schritt verzeihen. Ich habe weder in meinen Knochen, noch in meinem Kopf die nötige Kraft, weiter zu leben. Mein Herz ist leer, ich leide sehr in dieser Einsamkeit.`
Noch, bevor sie weiterschreiben konnte, kullerten ihre Tränen an den faltigen Wangen hinab, und tropften in die Schürzentasche, in der ein Gläschen mit starken Schlaftabletten auf seine Leerung wartete. Sie griff hinein und schluckte hastig einen Großteil mit einem Glas Wasser hinunter. Ihre Unterschrift fehlte noch, als ein Schatten unten auf der Straße auftauchte. Misses Dormen nahm ein letztes Mal das Tuch zur Hand und wischte ihre Fensterscheibe frei.
Sie erkannte erst spät, daß der Schatten unter ihrem Fenster stehenblieb und zu ihr deutete. Sie nahm das Kissen, das Tuch und den Stift zur Seite, um das Fenster öffnen zu können. Unten stand der Cousin der Nachbarkinder mit einer kindlich verpackten Flasche und grüßte die alte Dame freundlichst. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Als erstes schoß ihr der Gedanke nach einer Tafel Schokolade durch den Kopf, die sie dem Jungen geben wollte. Sie griff neben sich in das Regal, wo seither immer einige Tafeln lagerten, nahm die Oberste und ließ sie dem Jungen hinunterfallen. Er hob sie auf, bedankte sich artig und deutete mit einer Armbewegung an, dass er die Flasche nach oben werfen wollte, was natürlich nur scherzhaft gemeint war.
Genau in dem Moment, als er den Arm ganz ausgeholt hatte, durchbrach ein lauter Knall die weihnachtliche Stille. Ein gezielter Kopfschuß tötete den Jungen auf der Stelle. Der halbe Kopf verteilte sich auf dem festlich geschmückten Schaufenster des Angelgeschäfts im Erdgeschoß. Sein kleiner Körper brach zusammen und legte sich auf den nassen Asphalt der Minner-Street.
Der ehemalige Richter, Dr. Lesh, erkannte in dem Jungen einen protestantischen Terroristen, der gerade einen Molotowcocktail auf Misses Dormens Haus werfen wollte.
Auch er lebte seit Jahren alleine, doch statt der Schokolade war sein Regal mit vielen Kisten Munition für sein Sturmgewehr gefüllt. Ahnte der alte Mann doch, daß sich in den letzten Monaten immer öfter Protestanten in dem Park unterhalb seines Hauses aufhielten.
© by Marcus Wallner.