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Miss Coffee
Umweht von einer schweren aromatischen Brise. Das dazugehörige Coffein schon im Blut – dadurch angetrieben zu außergewöhnlicher „Arbeitstriebhaftigkeit“.
„Nur mehr eine Kapsel.“
Durch diesen unerwarteten "Schicksalsschlag ist sie rasch mürbe geworden, kratzt sich hektisch an den Wangen. Wie soll sie das heute noch alles schaffen? Die Pupillen sind geweitet – ein feines Netzwerk aus roten Wurzeln durchzieht das Weiße in ihren Augen. Sie fühlt sich wie ein Motor ohne Treibstoff. Ihre Finger lösen sich nur langsam von den Tasten. Die permanente geistige Verbindung zu ihrer Tätigkeit wird durchlässiger, dünner.
Nur nicht schwach werden, denkt sie. Das kann sie sich jetzt am allerwenigsten leisten. Ein verhaltenes Lächeln legt sich auf ihr Gesicht. Ihre Gedanken schweifen ab.
Dreiundvierzig. So alt hat sie werden müssen, um diese gehobene Stellung zu erreichen. Eigenes Büro, eigener Fachbereich. Der Neid der anderen war da nur normal. Komisch findet sie, dass sie nicht schon früher befördert wurde. Schließlich hat sie ja immer alles zu Herrn Schadmanns vollsten Zufriedenheit durchgeführt. Auch die gelegentlichen Nachbesprechungen auf dem großen Eichentisch, spätnachts, in seinem Büro. Alles. Nur: Erst seit dem sie sich zu diesem, für viele radikalen Schritt entschlossen hat, ist sie endlich da angelangt, wo sie schon immer sein wollte. Und wie toll sich das anhört: "Fachbereichsleiterin Datendigitalisierung, Todesanzeigen." Spitze!
Kurz fühlt sie sich stark, mächtig, dann überkommt sie wieder das widernatürliche Verlangen.
Weiter - weiterarbeiten. Schnell ...
Nicht nachlassen!
Bevor sie schließlich nach der letzten Kapsel in ihrem Handwerkergurt greift, bemerkt sie beiläufig ein einzelnes Wort in der vorhin getippten Todesanzeige auf dem Bildschirm. Die Verbindung zur Arbeit wird wieder stärker.
„Posthum?“
Sie ist sich nicht sicher und die Finger verharren weiter in Schwebeposition, einige Millimeter oberhalb der Tastatur. Die Augen stieren wieder rüber zu leeren Tasse.
„Posthum?“
„Wir bedauern zutiefst, dass unser lieber Gatte, Vater, Bruder, plötzlich und unerwartet von uns gegangen ist. Posthum.“
„Posthum? Kann man denn posthum versterben? Oder waren die Verwandten auch schon tot?“, fragt sie sich.
Die Leute kommen ja auf seltsame Ideen.
„Posthum ...“
Egal, jetzt muss der Mist ja nur noch eingespeist werden. In das System. In das „ewige“ Gedächtnis. Das ist ihre Aufgabe. Ihr Machtbereich. Ihre STELLUNG ...
„Man kann nicht sterben wenn man schon tot ist!“
Sie löscht die Anzeige, steht auf und ein wellenartiges Knacken zieht sich durch ihre Wirbelsäule nach oben – die Augen füllen sich mit Tränen. Die Buchstaben vor ihr auf dem Bildschirm werden dadurch schemenhaft. Ist kaum der Erwähnung wert, findet sie. Aber die Schmerzen. Sie muss sich jetzt zusammenreißen. Kurz durchatmen, dann geht es wieder.
„Eine Tasse ...“
Sie ächzt und bäumt sich weiter auf – greift nach dieser letzten Kapsel im modifizierten Handwerkergürtel an ihrer Hüfte. Ein befreiendes Seufzen entfährt ihr und ihre strenge Miene erschlafft. Kurz geht der Stresspegel gegen Null. Sie ist erleichtert. Ja, gleich wird sie wieder genügend Kraft haben, für diese besondere, für diese herausfordernde Tätigkeit. Herr Schadmann hatte schon eine guten Riecher bewiesen, sie damit zu betrauen. Gibt es doch sonst niemanden – wirklich niemanden, der so effizient arbeiten kann wie sie, Frau K., die einstige Chefsekretärin und jetzige Abteilungsleiterin ihres eigenen Bereiches. Dieses Bereiches in dem nur sie tätig ist. Von morgens bis abends. Und nur sie. Niemand stört sie. Niemand wagt es. Nur Hannes Schadmann. Der CHEF. Sie liebt es, wenn er sich von hinten nähert und sich seine großen Hände in ihren roten Locken verlieren. Und wenn es passt. Ja, dann kann sogar heute noch sein, dass sie beiden wieder etwas nachzubesprechen haben – auf dem Tisch. So wie in alten Zeiten.
Nur: Sie hat keine Ahnung davon, wie die Dinge wirklich laufen. Zum Glück. Denn Mitleid spielt ein große Rolle, wenn man einen Posten schafft, den es eigentlich gar nicht zu geben bräuchte - aus der Sicht von Herrn Schadmann. Und während sie so vor sich hinsinniert, schließen sich die Finger der anderen Hand zärtlich um den Henkel der Tasse auf dem Tisch. Gleichzeitig spürt sie seine starken Arme an ihrem Nacken - das Gewicht der Maschine ist aufgehoben.
"Ah, Hannes! Das tut gut ..."
"Belohne mich, ja ..."
„ ... niemanden liegt das Wohl der Firma so am Herzen wie mir!“
Dann schreckt sie hoch, das Büro ist leer. Sie wirkt unsicher und stellt nun die Tasse auf den Port der Espressomaschine.
"Was?"
Hektisch wird die Kapsel in den leeren Magazinschacht gedrückt. Dann betätigt sie den Drehschalter und drückt auf START.
Nichts geschieht.
„Was?“
Bestürzung zwingt ihren Blick hinab, dorthin wo der moccabraune Kaffeehalbautomat um ihren Körper geschnallt ist.
Sie sieht das rot blinkende Kontrolllämpchen.
„Mist! Mist! Der Akku ist leer!“
Eine Anhäufung unkoordinierter Bewegungen hebt die Tasse aus dem Port und beschert ihr ein unwürdiges Ende auf dem Boden.
Das unvermeidliche Klirren dient Frau K. als der stichfester Beweis, den sie jetzt dringend braucht, dass ihre „Genius at Work Tasse“ nun nie mehr für sie dasein wird. Das Unglück potenziert sich. Und sie kann nichts dagegen tun. Trotzdem versucht sie die auswegslose Lage noch irgendwie zu revidieren. Sie bückt sich, versucht angestrengt die Fragmente mit bloßen Fingern wieder zusammenzufügen. Es misslingt, schnell steht sie wieder auf und beginnt mit beiden Armen hektisch an der Maschine herumzufummeln. Sie drückt den Drehschalter, öffnet den Schacht, nimmt die Kapsel heraus, gibt sie wieder hinein, betätigt den Drehkopf. Noch immer keine Reaktion. Nimmt den Akku ab. Steckt in rein. Zieht, dreht, klopft, schlägt – es knarrt und quietscht.
„Verflucht! Ich will jetzt ...“
Ein paar Finger folgen einem unvermittelten und wilden Gedanken, sondern sich blindlings ab und versuchen den Akku samt Halterung aus dem Gehäuse rauszureißen.
„Na los. Komm schon! Raus – geh raus!“
Die Maschine scheint aufzustöhnen, die Halterung rutscht raus und die beiden Verbindungskabel reißen ab.
„Endlich!“
Flüchtige Stille zieht durch das karge Büro.
Sie lächelt. In ihrer Hand der Akku. Um ihren Bauch der nun völlig nutzlos gewordene Kaffeehalbautomat. Die Kabel hängen hinab. Gleich den leblosen Beines eines toten Tieres. Die wilden Gedanken verschwinden ebenso, wie auch das Lächeln verschwindet und der zuversichtlicher Blick ertrinkt zunehmend in gähnender Leere. Sie geht zu Boden. Der Kaffehalbautomat drückt gegen ihr Kinn. Sie bemerkt es nicht.
War das jetzt ihre glorreiche Lösung für das Problem? Purer Zerstörung. Irreversibilität? Die klammen Finger verkrampfen sich, so weit bis das letzte Bißchen Rosa unter deren Haut verschwunden ist.
„Aaahhhh ...“
Der Druck in ihrem Kopf beginnt sich zu erhöhen und die Augen streifen wahllos durch das karge Büro. Entlang der Decke, zum Mittelpunkt. Zur Tür. Wieder entlang der Decke. Erneut zu deren Mittelpunkt. Dann zur Deckenleuchte. Ein scheinbar rettender Gedanke bringt neue Hoffnung.
„Ja ...“, denkt sie: „ … Strom!“
Sie braucht Strom. Zur Bestätigung sucht sie den Anblick der losen Kabel, die sich vor ihr an den Boden schmiegen.
„Das ist es!“
Sie steht auf. Mit manischem Blick. Eine Stromquelle braucht sie und – eine Schere.
„Die Schere ist ...“
Ihre Beine tragen sie rüber zum Schreibtisch. Sie öffnet die Schublade.
„Ordnung ist – ja, ist das halbe Leben.“, ihre Lippen beginnen zu beben. Ordnung. Das ist der Schlüssel zur absoluten Effizienz. Deshalb hat sie diese Stellumg erreicht. Die anderen hinter sich gelassen. Mit Ordnung und …
„Kaffee ...“, sie nimmt sich die Schere.
„Jetzt – Strom!“
Ihre Augen wandern weiter. Suchen. Die Pupillen dabei so ausgedehnt, dass man das Blau ihrer Augen nur mehr erahnen kann. Die Lippen spitzen sich, wie immer wenn sie angestrengt überlegt. Dann: Die Augen treffen auf den Kopierer. Starkstrom? Oder doch nicht? Sie bewegt sich rüber, bückt sich.
“Starkstrom!“
Aber was macht das schon für einen Unterschied. Kaffe muss her, sofort. Die letzte Kapsel steckt schon im Schacht.
„Leistungsfähig bleiben.“, diese hohlen Worte verbreiten sich wie eine stumme Anklage in ihrem Schädel. Ihre Augen verirren sich zum Bildschirm.
„Posthum!“
Was wohl einmal in ihrem Nachruf stehen wird?
Jetzt nimmt sie das Kabel. Sie muss es nur noch durchschneiden.
„Einmal schnapp und ab!“
Langsam setzt sie die Scherklingen an den Schutzmantel des Kabels und setzt ihre Worte in die Tat um.
Kurz geht das Licht aus. Im gesamten Gebäude. Die Volt fahren durch ihren Körper, die Kapsel im Schacht explodiert im rasenden Taumel der Elektrizität. Ihr Körper verkrümmt sich, entspannt, krampft zusammen, die Haare verbruzeln.
Dann: Alles ist aus.
Sie liegt zitternd auf dem Boden. Von einer Seite ihres Rockes steigt dunkler Rauch auf. Es riecht nach gebratenem Fleisch. Ihre Augen sind weit geöffnet. Sie atmet. Flach – aber es wird immer heftiger und gieriger. Ihr Brustkorb bäumt sich auf. Die Last des Kaffeehalbautomaten macht es ihr unmöglich ausreichend zu atmen. Trotzdem kennen ihre Gedanken nur ein Ziel.
„Brauche neues Kabel!“, ihre ansonsten helle Stimme klingt nun wie die einer alten Frau. Sie keucht schwer und scheint gleich zu ersticken. Ein verbrannter Geschmack durchströmt ihren Mund. Die Luft pfeift in ihrem Rachen.
Trotzdem: Sie bewegt sich. Dreht sich auf die Seite. Beginnt heftig zu husten.
Dann: Sie steht auf – wie durch ein Wunder. Greisenhaft kämpft sich ihr gepeinigter Körper hoch auf einen Meter. Die Kaffemaschine drückt sie nach unten. Sie kämpft. Kommt schließlich hoch auf einen Meter dreißig. Ihre Augen quellen hervor. Sie röchelt und spuckt warmes Blut. Jetzt kommt sie hoch auf einen Meter dreiundsiebzig – und steht. Wackelig, aber aufrecht. Beinahe andächtig streift sie sich die verkohlten Haare aus dem leicht angeschwärzten Gesicht. Einige brechen ab und kleben als verdorrte Reste an ihren Fingern. Rauch steigt ihr in die Nase. Beschert ihr ein übles Aroma, nach verbranntem Plastik und Kaffeeextrakt.
„Brauche Kaffe!“
Sie löst die beiden Schultergurte der Maschine. Während diese fällt, hat es der Computer geschafft, automatisch wieder neu hochzufahren.
„Willkommen.“, steht auf dem Bildschirm. Sie lächelt.
„Oh, Glück. Er ist bereit.“
Ihre Lippen spannen sich zu einem grausamen Lachen.
„Sogar ein Stuhl!“
Nur mit äußerster Mühe schaffen es die halbgar gebruzelten Beine sie zum angepeilten Sessel zu schaffen. Das feine Wurzelwerk in ihren Augen ist unterdessen zu einem mächtigen Flussdelta herangewachsen. Aus einem Augen tropft Blut.
„Muss leistungsfähig bleiben!“, murmelt sie erneut und wiederholt es immer wieder. Dann setzt sie sich.
„Brauche Kaffee!“, sagt sie an den vermeintlichen Kaffeevollautomaten gewandt, der ihr Computer ist, dann geht die Türe auf.
„Kathi! Herrgott, wie siehst du denn aus?“
Kathi zuckt zusammen! Ein trotz ihrers verbrannten Riechorgans herrlicher Geruch, umströmt sie. Dann entdeckt sie den weißen Becher in den Händen von Herrn Schadmann.
„Aber Kathi?“
Für seine enorme Bestürzung fehlt ihr jegliche Wahrnehmung. Das einzige was ihr auffällt, als sie die Hand aus einiger Entfernung nach dem weißen Kaffeebecher ausstreckt, ist nur die Schere in ihrer Hand. Diese Schere deren Eisengriff in ihre Hand eingebrannt ist.
„Schere in meiner Hand!“
Ratlos wendet sie sich an ihre Chef.
"Hannes?"
Herr Schadmanns Gesicht ist blankes Entsetzen. Langsam kommt sie näher und näher. Versucht freundlich und höflich zu wirken. Als sie letztlich vor ihm steht, beginnt ihr Chef zu weinen. Sie blickt ihm in die Augen.
„Daaarf ich?“
Aus erstarrten Fingern nimmt sie sich den weißen Becher. Sie lächelt ein letztes Mal. Zufrieden. Ihr Gesicht vermag diese Zufreidenheit nicht mehr richtig auszudrücken, doch sie ist es.
Beim Versuch einen Schluck zu nehmen, fällt sie rücklings um. Der halbvolle Becher landet auf ihrem Gesicht. Nachdem ihr Herz aufgehört hat zu schlagen, gelangt der erste Tropfen koffeiinfreien Kaffees in ihren Rachen. POSTHUM ...