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Miserable Zeiten

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03.12.2002
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Miserable Zeiten

Der Tag war dahin. Das Knäckebrot hatte wieder Feuchtigkeit gezogen – mein Frühstück fiel aus. Die weißen Härchen des Küchenfußbodens wiegten sich im Luftzug der undichten Fenster sanft hin und her – bislang hatte ich nie über einen Teppich verfügt, aber der hier gedieh prächtig.
Ich, Lorenz Tobbs, war Besitzer eines roten Mietscheins, das war Stufe drei und schlimmer als ein schlechter Ruf. Dieser Schein kam einem Personalausweis gleich und verbarg nichts: Ärgerte sich mein gegenwärtiger Vermieter über mich, erfuhren es auch alle zukünftigen. Mittlerweile umfasste mein Mietschein dreiundfünfzig verwerfliche Einträge – vielen Dank, Vermieterschutzbund! Geld hatte ich zwar, aber es fand sich niemand, der einen Risikomieter wie mich wollte. Der Makel haftete an mir wie ein Teerklumpen und am Ende war ich in einer Bleibe gelandet, die gerade mal dazu diente, mich den Blicken der Straße zu entziehen.
An diesem Morgen verließ ich bibbernd aber nicht ganz widerwillig meinen Unterschlupf, vertrieben vom Frühschoppenlärm der angrenzenden Kneipe – und vom Hunger.
In der Bäckerei herrschte Hochbetrieb, und das war meine Lieblingszeit. Ich tauschte gerne die frische Luft von draußen gegen die feucht-beißende Wärme im Laden – je länger ich anstand, umso wärmer würde mir werden.
Als ich an der Reihe war, lächelte Frau Rundlich mitfühlend hinter der Brötchentheke hervor und fragte, „Na, noch auf Wohnungssuche?“
„Immer dringender“, sagte ich, dann senkte ich reumütig den Blick. „Ich weiß, ich bin nicht ganz unschuldig. Es gibt Verstöße, die sind einfach unverzeihlich: Nachtduschen, Raufaser entfernen – tja, und das mit dem Kammerjäger...“, ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Ach was“, sagte Frau Rundlich, „Ihnen diese Leute auf den Hals zu hetzen, wegen einem vorübergehenden Untermieter, war völlig unnötig!“ Sie hatte Recht, mein Freund hat sich davon bis heute nicht ganz erholt.
Verschwörerisch deutete Frau Rundlich mir dann, ich solle ihr mit meinem Kopf über der Theke entgegenkommen, dort flüsterte sie, „Gestern sind auf der Brücke DREIHUNDERTFÜNFZIG Autos ineinander gerast.“
Dreihundertfünfzig? Ich horchte auf. Brachte Frau Rundlich etwa lang ersehnte Nachrichten? Scheinheilig fragte ich, ob sie was genaues weiß. Daraufhin schnitt sie ein Brot in fingerdicke Scheiben und schwieg beschäftigt – anscheinend war alles gesagt. Ihre Vorsicht war in diesen Zeiten freilich verständlich, denn immer wieder standen Horcher in ihrem Laden. Als Informations-Dealerin angeklagt zu werden, konnte sich schlimm auf ihren Bäckerinnen-Schein auswirken. Inzwischen raunte die Kundenschlange hinter mir, die gottlob nichts verstanden hatte, angewidert wegen den Stockflecken in meinem Parka, und so machte ich mich lieber davon. Aufgewühlt hockte ich mich zum Nachdenken auf meinen Lieblingssims zwischen die Taubenscheiße. Dreihundertfünfzig – ich legte mir das Wort auf die Zunge und ließ es genussvoll darauf zergehen. Es gab keine Massenkarambolage, da war ich sicher – es ging um den Flüstercode. Dreihundertfünfzig, das hieß, irgendwo in der Stadt wurden illegal Mietscheine versteigert. Gelbe, im Idealfall sogar grüne! – alles war besser als rot! Eine Welle der Erregung fuhr durch meinen unterkühlten Körper – aber war Frau Rundlich überhaupt loyal?
Während ich später vor meiner Haustüre hin und her tigerte, um noch einmal tief Luft zu holen, fuhr mir ein Fahrrad in die Quere. Klaus, der Kurier.
„Ja Lorenz“, rief er gespielt überrascht, „da bist du ja!“ Er schaute sich wachsam um, zog mit geheimnisvoller Geste ein knittriges Päckchen hervor und dämpfte seine Stimme.
„Das hier habe ich gerade erstanden – für ganze zwei Euro und –“
Was erzählte er da? Das Stück Papier in seiner Hand war ja leer!
„Zwei Euro“, schwor er, „und DREI-HUNDERT-FÜNFZIG Cent!“
Dreihundertfünfzig! – schoss es mir durch den Kopf. „Und weiter?“
Klaus ließ sich jedoch genau wie Frau Rundlich zu keinem weiteren Wort hinreißen. Auch er war sehr vorsichtig und radelte flugs davon. Ich rekapitulierte: Entweder er und meine Bäckerin hatten Gründe mich gehörig reinzulegen, oder ich hatte verlässliche Freunde. Jeder gab den Flüstercode zwar mit seiner ganz eigenen Methode weiter, aber allem Anschein nach war tatsächlich eine IMV geplant, eine inoffizielle Mietschein-Versteigerung. Endlich. Doch wann? Und wo? Ich musste sofort meinen Informanten aufsuchen.
Tröger wohnte in einem Hinterhof Ecke Kellerloch. Er behauptete, so errege er weit weniger Aufmerksamkeit, denn er lebe ja nicht von Bagatellen wie IVMs allein. Bedacht stieg ich die schmierige Treppe hinab, ein finsterer Gang, überall Einmachgläser, Staub und dumpfe Geräusche. Ich klopfte an und fiel mit der Tür ins Haus.
„Einfach daneben stellen,“ rief Tröger aus einer spärlich beleuchteten Ecke.
„Tag Tröger“, begrüßte ich ihn. Er erkannte mich nicht gleich, denn ich hatte geschworen, mich erst wieder zu rasieren, wenn ich ein intaktes Waschbecken besaß. Ich erklärte, draußen kursiere die DREIHUNDERTFÜNFZIG und ob er davon gehört hätte.
„Klar, aber – kann ich dir vertrauen?“ scherzte er, es könne ihn immerhin in Teufels Küche bringen. Er hob eine vergammelte Klamotte von einem Papierstapel und setzte hinzu, „allerdings könnte man meinen, ich säße schon mitten drin.“
„Tröger, was ist nun!“ Ich spannte ja immer noch auf der Folter.
„Mein Junge, willst du es denn nicht mal ehrlich versuchen?“
„Wer lässt mich mit einem roten Schein denn bitteschön noch irgendwo einziehen“, lamentierte ich, „wo nun kürzlich auch noch Portweinflaschen der falschen Marke in meinem Müll gefunden wurden. Und damit nicht genug, Tröger“, ich wirkte überaus bemitleidenswert, „Eintrag Nummer dreiundfünfzig: ich wurde gesehen bei einem Sack-Blabbath-Konzert!“
„Das ist ja ein handfestes Vorstrafenregister“, knirschte Tröger. Er begriff den Ernst meiner Lage und sagte schließlich, „Heute – Wohnheim Betreutes Trinken.“
Ich bezahlte ihn und begab mich auf Irrwegen zu der geheimen Auktion, um es einem Vermieterspitzel unmöglich zu machen, mir zu folgen. Meine Chance war endlich gekommen, jubelte ich freudig. Bald schon sollte ich wieder menschenwürdig wohnen. Der verheißungsvolle Code, der einen grünen Mietschein und ein sonniges Zimmer bedeuten sollte, erschien schillernd wie der Heiland vor meinem inneren Auge, leuchtete von Kirchtürmen herunter, tanzte Samba nur für mich, und hunderte dieser kleinen Zahlen fielen wie Konfetti auf mich herab – so jedenfalls fühlte ich mich.
Ein beträchtlicher Andrang erwartete mich bereits vor der Tür. Da standen sie, die Messis, die Mietpreller und die Saxophonisten. Ich staunte, was manche für Krempel dabei hatten. Die schienen nicht einmal einen roten Mietschein zu besitzen und schleppten ihr ganzes Mobiliar mit sich rum! Zudem zappelten erstaunlich viele Kinder an der Hand ihrer geplagten Eltern umher. Sie, ich, wir alle hatten es nötig.
Ohne mich mit Höflichkeiten aufzuhalten, wand ich mich flink durch die Menge, zeigte meinen roten Mietschein vor und schlüpfte in den Auktionssaal. Vor lauter Köpfen konnte ich nicht viel sehen, aber ich hörte das Klopfen des Hammers – zum Ersten – und instinktiv streckte ich meinen Arm in die Höhe. Erst da fiel mir auf, dass mein Arm der einzige war. Niemand sonst schien sich um den Zuschlag zu bemühen, die einen murmelten und lachten, die anderen stierten angestrengt nach vorne. Zum Zweiten – jetzt glotzten mich plötzlich alle schaulustig an – und zum Dritten. Aber das musste ein Irrtum sein! Wo war ich denn hier hin geraten? Schnell sah ich zur Tür – zu spät, sie wurde bewacht. Mit einem Mal wurde mir klar: hier gab’s gar keine Mietscheine! Hier wurden Miet-Bremsen versteigert! Das war mir doch gleich komisch vorgekommen, all die großen Hunde, Vogelkäfige, die sperrigen Möbel... und die vielen Kinder – ich wette, alles nutzlose Zweit- und Drittgeborene! Tröger würde einen fetten Anteil kassieren, ich war in die Falle getappt und hatte soeben –
„Meine Damen und Herren, somit geht der kleine Mario für zweihundert Euro an den eifrigen Herrn an der Tür!“

 

Hallo WinniePuuh,

erstmal herzlich willkommen. :)

Nicht schlecht, nicht schlecht, Deine Geschichte. Witzige Idee, angenehmer Stil, flüssig und gekonnt geschrieben, gute makabere Schlußpointe. Alles in allem eine runde Geschichte mit gelungenem Humor.
Beim Lesen sind mir ein paar Fehler aufgefallen. Wenn Du nochmal drübergehen willst, sag mir Bescheid. Würde der Geschichte den letzten Schliff geben.

Liebe Grüße,
Sav

 

Hallo raven,
vielen Dank für deine nette Kritik.
Wenn es nicht den Rahmen sprengt, sag mir gerne, welche Fehler dir aufgefallen sind. Ein ganz gravierender ist mir selbst grad ins Auge gestochen: "Ein" bzw. "zwei" Euro... grober inhaltlicher Schnitzer.
Viele Grüße
Winnie

 

Hallo WinniPuuh!
Erst mal auch ein herzliches Willkommen von mir! :)

Zu deiner Geschichte, ich muss sagen, dass ich sie nicht soo super lustig finde. Denn irgendwie hat mich nichts auch nur zum Schmuzeln gebracht (aber vielleicht wolltest du das auch gar nciht?).
Doch das Ende ist dir gut gelungen. Da musste ich auch lachen!
Ich schließe mich raven an, dein Stil ist wirklich angenehm zu lesen!

bye und tschö

 

Hallo winniepuuh,

Dein Nick hat mich zu Deiner Geschichte geführt... ;)

Mir gehts genau wie meinen Vorrednern. Dein guter Stil hat mich am Lesen gehalten, aber je weiter die Geschichte fortschritt, umso enttäuschter war ich.
Das wirkt alles zu konstruiert und ist deshalb ncht lustig. Einzig der Schluss - der ist gut.

Aber schon aufgrund Deines Stils würd ich gerne mehr von Dir lesen.

Gruß
Bobo

>wiederwillig< - widerwillig

 

Hallo,
damit kann ich doch was anfangen, danke für die Reaktion.
Wenn ich so dran denke, wie ich über der Geschichte saß und konstruiert und konstruiert habe... musste es ja so kommen.
Grüße Winnie

 

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