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Mischlingshunde
„Mit den Steinen, die einem im Weg liegen, kann man auch etwas hübsches bauen.“ [Goethe]
Der Hund sah sich nach allen Seiten um. Er sah keinen Weg, der diese Bezeichnung verdient hätte. Nur Stein in allen Richtungen. Stein unter seinen Pfoten, hohe Mauern aus Ziegel, Stein, Zement und Beton um ihn herum. Einzig direkt nach oben war kein Stein, aber nach oben war auch kein Weg. Schließlich können Hunde nicht fliegen. Nicht einmal Flughunde können aufwärts fliegen.
Er knurrte, stand auf, und setzte sich in Bewegung. Seine rechte Schulter schmerzte beim Laufen. Die Menschen, denen er auf dem Weg zum Fluss begegnete, sahen einen Mischlingshund mittleren Alters und mittlerer Größe von undefinierbarer Abstammung, dessen Fell struppig vom Regen war und hier und da eine Narbe aufwies. Er trabte in sportlichem Tempo an Ihnen vorbei. Von der schmerzenden Schulter sahen sie nichts. Sie sahen auch nichts von den Schmerzen in seiner Seele. Der Hund nahm es ihnen nicht übel. Es gibt nicht viele Menschen, die sich für die Schultern oder das Seelenleben von Mischlingshunden interessieren. Und das ist völlig in Ordnung so. Dem Hund war es recht.
Der Weg zum Fluss war aus Asphalt und gepflastertem Gehweg. Die Steine die lose darauf lagen waren so klein, dass nicht einmal daran zu denken war daraus etwas zu bauen. Auch der Weg war kein Erhabener. Es war nur der kürzeste Weg zum Fluss. Nichts Besonderes. Der Hund fragte sich, ob es den Weg erhabener machen würde, wenn größere Steine darauf liegen würden. Früher war er steinigere Wege entlanggelaufen. Über manche Steine war er einfach drüber gesprungen. Andere war er umgangen. Einmal war der Stein so groß gewesen, und der Weg so schmal, dass er umdrehen musste, um sich einen anderen Weg zu suchen. Was hätte man aus diesem Stein wohl alles bauen können?
Der letzte spannende Weg, den er entlang gerannt war, war ziemlich steinig gewesen. Immer wieder hatte er sich gestoßen, teilweise verletzt, und er war nur unter Flüchen und Schmerzen weitergelaufen. Immer schneller. Irgendwann musste der Weg ja enden. Die Steine waren immer mehr geworden, und der Weg immer weniger. Er erinnerte sich noch ganz genau: Plötzlich waren nur noch Steine da. Und kein Weg mehr, der irgendwo hinführte, wo es sich lohnte hin zu laufen. Was macht es für einen Sinn einen Weg entlang zu rennen, an dessen Ende nicht etwas Hübsches liegt?
In Ermangelung eines Weges, hatte er also die Steine genommen, und daraus etwas gebaut. Alles sah danach aus, als ob es hübsch werden würde, und er hatte weitergebaut. Steine waren genug da. Und er hatte gebaut und gebaut, voll Tatendrang und Zuversicht. Als er innehielt um sein Werk zu betrachten, stockte ihm der Atem. Etwas Wunderschönes war entstanden. Es war ganz klein und zart. Es war so schön, dass er blinzeln musste, weil seine Augen feucht geworden waren. Es war ein Meisterwerk. Schöner als alles was er bisher gesehen hatte. Schöner als alles was er auf dieser Welt für möglich gehalten hatte. Der Hund und sein Werk standen inmitten einer Wüste aus Stein. Er hatte nur die besten Stücke genommen. Er hatte das Herz der Steine freigelegt und verbaut. Der Rest lag als Schutt und Geröll um sie herum und bildete eine Wüste soweit das Auge reichte. Was er vor sich sah, war so wundervoll, so zerbrechlich, so wertvoll und unersetzlich, dass er weiterbauen wollte. Weiterbauen musste.
Aber es waren keine Steine mehr da. Und kein Weg.