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Mirror of Ice
Spiegel aus Eis
Meine liebste Jahreszeit war der Winter. Mich faszinierten die kleinen Eiskristalle an den Fenstern und die weiß bedeckten Landschaften. Jedes Mal wenn es schneite, stellte ich mir vor, Engel würden im Himmel tanzen. Wenn ich zu Bett ging, betrachtete ich für eine Weile mein selbst gemaltes Bild, das über dem Schreibtisch hing. Die Bleistiftzeichnung stellte einen betenden Engel dar. Sie war zwar nicht perfekt, ließ aber mein Herz höher schlagen. Meine Mutter beunruhigten diese Art Bilder. Aber aus irgendeinem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, fühlte ich mich zu diesen Geschöpfen hingezogen.
Eines Nachts, als der Mond seine ganze Pracht der Erde offenbarte, vernahm ich eine sonderbare Melodie. Ich lauschte ihrem Klang. Mein Geist schien hinfort zu schweben, an einen Ort den ich zu Fuß nie erreichen könnte.
Gefangen in tiefer Schwärze vernahm ich von überall her Stimmen. Flüsternd wiederholten sie ein und den selben Namen. Mika'il.
Langsam wurde die Dunkelheit von kleinen Lichtern verdrängt. Zuerst tänzelten sie willkürlich in alle Richtungen. Sie ordneten sich parallel zueinander an. Inmitten dieser Reihe breitete sich unter meinen Füßen ein roter Teppich aus. Unerwartet wurde es so hell, dass ich mir die Hand vor Augen halten musste. Mehrmals blinzelte ich, um wieder etwas erkennen zu können. Die Lichter um mich herum verwandelten sich in wunderschöne Engelsstatuen.
Alle trugen schlichte Gewänder. Ihre Flügel waren nur zum Teil ausgebreitet, als wollten sie jeden Moment davon fliegen. Eine von diesen Skulpturen betrachtete ich genauer. Da lächelte mir dieses kalkweiße Geschöpf zu. Es streckte sich und breitete die Flügel aus, als wäre es aus einem langem Schlaf erwacht. Alle waren zum Leben erwacht. Nun blickten mehr als hundert von Augenpaaren auf mich hinab.
Da war sie wieder. Diese bezaubernde Melodie. Die nun zum Leben erwachten Statuen zeigten alle in eine Richtung, auf ein riesiges Portal am andern Ende des Läufers. Die Engel fingen an mir leise zu zu flüstern. Sie sagten, er warte dort auf mich. Wie in Trance ging ich auf dieses Portal zu. Ich bemerkte nicht was hinter mir geschah, bis mich ein lautes Knacken und Ächzen zurück blicken ließ.
Die Fassade der Engel bröckelte wie alter Putz von ihren Körpern. Das was zurück blieb, war erschreckend.
Da wo Federn ihre Flügel zierten, war nur noch ein Gerippe, das einer Fledermaus ähnelte. Ihr wohlgeformter Körper mutierte zu einem Skelett und ihre wunderschönen Gesichter wurden zu grauenhaften Fratzen. Die schlanken Finger die zuvor auf das hölzerne Portal zeigten, formten sich vor meinen Augen zu gefährlichen Klauen, die nur darauf warteten sich in unschuldiges Fleisch zu bohren. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Ich schlang mir die Arme um den Körper. Wo war ich? Was passierte hier?
Diese grauenhaften Kreaturen gaben fürchterliche Schreie von sich. Sie versuchten nach mir zu schnappen, erreichten mich jedoch nicht. Ich zögerte nicht lange und rannte los, fort von diesem abscheulichen Anblick. Das Portal öffnete sich einen Spalt und ich schlüpfte hindurch. Nun befand ich mich in einem riesigen Saal. Die Wände wurden von aus Mosaik gefertigten Engeln verziert. An der Decke hing ein riesiger Kronleuchter, der in allen Regenbogenfarben leuchtete.
Nervös blickte ich mich um. Was erwartete mich hier? Meine Aufregung ließ mein Herz regelrecht rasen. Dann sah ich ihn. Inmitten dieses Raumes. Unbeschreiblich schön. Anmutig. Sein hübsches Gesicht sah zu mir hinüber. Sonnengelbes Haar, das wie Seide auf seinen Schultern lag. Eine cremefarbene Bluse mit V-Ausschnitt, sowie eine kastanienbraune Hose und schwarze Stiefel zierten seinen Körper.
„Mika’il?“, flüsterte ich.
Langsam kam er auf mich zu. Zwischen uns waren nur noch wenige Zentimeter Luft. Von Nahem betrachtet war er noch viel schöner. Der rötliche Schimmer seiner Augen erinnerte mich an die untergehende Sonne und sein Lächeln strahlte eine solche Wärme aus, dass ich mich an einen warmen Sommertag erinnert fühlte.
Mit seinen vollen Lippen sprach er meinen Namen aus. Es schien als habe er eine Macht über mich, der ich nicht entkommen konnte.
Ein schrilles Geräusch ließ mich aus diesem Traum erwachen. Mein ganzer Körper bebte und schmerzte vor Angst. Entkräftet tastete ich nach meinem Wecker neben der Kommode. Was wäre passiert, wenn er nicht geklingelt hätte?
Sachte klopfte es meiner Tür.
„Nadine, ist alles in Ordnung?“ hörte ich meine Mutter besorgt rufen. Als ich nicht antwortete, kam sie in mein Zimmer. Schweißnass saß ich auf dem Bettrand. Ohne zu zögern nahm sie mich tröstend in ihre Arme. Nach einiger Zeit, als ich mich wieder beruhigt hatte, erzählte ich ihr von dem Traum. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. Sie stammelte sinnloses Zeug vor sich hin. Als sie sich wieder gefangen hatte, erzählte sie mir auch den Grund ihrer Reaktion.
Damals, als sie mit mir schwanger war, nagte eine schwere Krankheit an Vaters Gesundheit. Die Ärzte hatten jegliche Hoffnung aufgegeben. Geschockt über diese Diagnose, lief sie zu dem Ort, an dem Vater ihr einen Antrag gemacht hatte. Sie schrie, flehte, fluchte. Ihr Glück schien zu zerbrechen. Dann tauchte ein gleißendes Licht auf. Aus diesem Schein stieg ein Engel empor. Dieses Geschöpf schlug ihr einen Handel vor. Er sagte ihr, dass sie das Herz ihres ungeborenen Kindes für das Leben ihres Mannes eintauschen könne.
Ich spürte wie das letzte Blut aus meinen Gesicht entwich.
„Ich werde sterben?“ es war eher eine Feststellung als eine Frage. Da fing meine Mutter fürchterlich an zu weinen. Sie machte sich Vorwürfe. Sie bat mich um Vergebung. Ich drückte sie fest an mich und sagte ihr, wie sehr ich sie liebte.
Die Tage danach schlief ich nicht. Meine Mutter war rund um die Uhr bei mir. Dabei sprach sie mir gut zu. Sie und Vater würden nicht eher ruhen, bis sie eine Lösung gefunden hatten, um mir zu helfen.
Nach zwei Tagen ohne Schlaf, fielen mir die Augen immer häufiger zu. Jedes Mal schaffte Mutter es mich wach zu halten. Doch irgendwann umarmte mich die Müdigkeit wie eine Mutter ihr Kind.
Ich lauschte der bezaubernden Melodie, die mich sanft in das Reich der Träume sinken ließ. Die verzweifelten Rufe meine Mutter, entfernten sich immer weiter von mir. Mein Körper schien leicht wie eine Feder hinab zu sinken, in eine Welt aus Schönheit und Angst.
In diesem Traum befand ich mich in einem kleinen Zimmer. Auch hier waren die Wände mit wunderschönen Engeln geschmückt. Sie schienen den Betrachter anzulächeln.
An der Decke sah ich ein Engelspaar, das sich wie zwei Liebende umschlungen hielt.
Dann vernahm ich Schritte. Ich war allein in diesem Raum. Langsam ging ich auf die einzige Tür zu und hörte Schritte die hallend näher kamen. Neugierig wie ich war, wollte ich die Tür öffnen. Keine Chance. Sie war verschlossen. Da hörte ich Mika'ils Stimme. Es war nur ein Wispern. Sanft forderte er mich auf, diese Tür zu öffnen. Aber wie? Es gab keinen Riegel, nur ein Schlüsselloch ohne Schlüssel. Erst da bemerkte ich etwas kaltes, hartes an meinen Hals. Der Schlüssel! Hastig nahm ich ihn mit samt Kette ab. Ich steckte ihn in seine dafür angefertigte Öffnung. Bevor ich ihn jedoch umdrehen konnte, hörte ich die Stimme meiner Mutter aus weiter Ferne. Besorgt und ängstlich klang sie.
„Willst du mich töten?“ fragte ich. Mika’il beantwortete meine Frage nicht. Stattdessen redete er mit sanfter und verlockender Stimme auf mich ein.
Je länger ich zögerte, umso ungeduldiger klang seine Stimme.
"Du kannst mir nicht entkommen..." sagte er und eine ungekannte Furcht stieg in mir auf.
Ich glaubte ihm. Weder meine Mutter, noch sonst irgendwer konnte mir helfen. Ich musste mich ihm stellen. Zittrig drehte ich den Schlüssel. Ein lautes Klacken ertönte. Ich ging ein paar Schritte zurück, presste meine Augen zusammen und wartete darauf, dass mein Leben hier zu Ende ging. Es geschah nichts. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Da stand er. Direkt vor mir. Worauf wartete er? Er sah mich nur an, sprach kein Wort. Dann schweifte sein Blick zur Decke hinauf. Ich tat es ihm gleich. Entsetzen breitete sich in meinem Gesicht aus. Einer der Engel mutierte zu einem Dämon mit schwarzen Flügeln. In seinen Armen, der andere Engel. Das schneeweiße Geschöpf blickte mit einem von Tränen bedecken Gesicht seinen Liebsten an.
Schwarze Federn fielen wie Schnee von der Decke, bis der Boden vollkommen bedeckt war.
Mika'il ging die wenigen Meter die uns trennten auf mich zu. Mit meinen ausgestreckten Armen bedeutete ich ihm nicht näher zu kommen, er ignorierte es. Unsanft packte er mich am Handgelenk und zog mich an seinen Körper. Ich wehrte mich mit aller Kraft. Zwecklos. Ich konnte mich nicht von ihm los reißen. Als er bemerkte, dass ich aufgab, nahm er mein Gesicht in seine Hände, schaute mir tief in die Augen. Tränen liefen mir heiß über die Wangen. Ich begann zu schluchzen, verrückt vor Angst.
„Worauf wartest du? Beende es!“ Auf meine Aufforderung lächelte er mich nur an. Sein Mund kam meinen immer näher. Sein Atem kitzelte auf meiner Haut .Seine Lippen berührten zart die meinen, wanderten langsam zu meinen Hals hinab.
Ein kurzer Schmerz ließ mich aus dem Traum erwachen. Völlig außer Atem lag ich in meinen Bett. Etwas warmes lief meinen Hals hinab. Reflexartig griff ich zu dieser Stelle. Etwas Blut klebte an meiner Hand. Ich nahm meinen Handspiegel, der auf der Kommode neben mir lag und betrachtete die frische Wunde. Ein Abdruck von einem Gebiss. Zuerst war ich erleichtert, dass der Traum zu Ende war, aber in meinem Herzen machte sich ein ungekannter Schmerz breit. Ich fühlte innere Zerrissenheit und eine tiefe Leere. Wenn ich nicht bei Mika’il war, wollte ich zu ihm. War ich bei ihm, wollte jede Faser meines Körpers wegrennen.
„Was hast du mit mir gemacht?“, flüstere ich in die Stille.
Vorsichtig verließ ich mein Zimmer. Gerade als ich mir einen Mantel und Schuhe überziehen wollte, kam meine Mutter aus der Küche.
„Nadine? Wo willst du noch so spät hin?“ Sie blickte mir tief in die Augen, sah die Entschlossenheit darin.
„Es hat keinen Sinn ... Ich muss zu ihm.“ Ich wusste, dass es weder für sie noch für mich leicht sein würde. Doch bevor mein Vater von dieser Auseinandersetzung noch etwas mitbekam und mich am gehen hinderte, wollte ich das Haus verlassen. Meine Mutter zog mich an sich und hielt mich fest umklammert. Ich riss mich los.
Ich hörte wie sie weinend nach meinem Namen rief. Tränen liefen über meine Wangen. Ich hätte mich gern anders verabschiedet.
Der Winter zeigte sich in seiner schönsten Gestalt. Die Kälte kroch wie eine Schlange durch mein Kleid und ließ meinen Körper erzittern. Mit nackten Füßen stapfte ich durch den Schnee. Alles tat mir weh. Ich ignorierte den Schmerz und die Kälte. Denn ich wollte ihn sehen. Aber warum? Warum sehnte sich mein Herz so sehr nach seiner Berührung? Bald stand ich vor dem See, an dem meine Mutter einst Mika'il begegnet war und dem Handel zugestimmt hatte.
Die letzten Sonnenstrahlen tänzelten wie kleine Glühwürmchen über die zugefrorene Eisdecke. Ein leichter Windhauch berührte mich sanft und mit ihm vernahm ich ein leises Flüstern. „ Komm zu mir.“ Es war Mika‘il der nach mir rief. Seine sanfte Stimme lockte mich auf den See. Unter meinem Gewicht gab das Eis langsam nach. Es knackte laut und bedrohlich, als wollte es mich warnen.
Dann glaubte ich unter dem Eis etwas zu erkennen. Wie gebannt starrte ich hinab in die Tiefe des Sees. Ein Lichtschein schien aus der Schwärze des Wassers zu steigen und mit ihm eine Gestalt. Dann sah ich ihn. Meinen Engel. Mit seinen schneeweißen Schwingen kam er der Eisdecke näher. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Er streckte seine Hand nach mir aus.
Plötzlich verlor ich meinen Halt. Durch den unsanften Aufprall bekam das Eis noch mehr Risse und das Wasser sickerte wie Blut durch die Wunden des Sees. Ich sank immer tiefer. Unsere Handflächen berührten die kalte Fläche, ein Spiegel aus dünnem Eis, der nur darauf wartete zu zerspringen. Dann sah ich etwas an seinem Hals, das mir bekannt vor kam. Ich hielt den Atem an. Er trug den Schlüssel aus meinen Traum. Erst da wurde mir bewusst welche Tür ich da geöffnet hatte. Es war die Tür zu meinen Herzen.