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Miriams Reise
„Besetzt“, murmelte das Mädchen mit den blonden Zöpfen und wandte sich von Miriam ab. Auch die anderen Kinder schüttelten ihre Köpfe und tuschelten weiter mit ihren Sitznachbarn. Die ganze Busfahrt über starrte Miriam auf ihre roten Schuhe, die Mama ihr für den ersten Schultag gekauft hatte. Sie krallte sich an einem der Sitze fest, es ruckelte so, dass sie beinahe umfiel. Immer wieder warfen die Anderen ihr verachtende Blicke zu.
Als der Bus vor ihrer neuen Schule hielt und alle raus auf den Hof stürmten, zögerte Miriam kurz. Ein neues Zuhause, eine neue Schule, sie fühlte sich verloren.
„Mach’ das Beste draus“, hatte Mama ihr zugeflüstert und ein kleines Stoffschweinchen in ihre Tasche gesteckt.
Miriam biss die Zähne zusammen und stieg aus dem Bus.
„Mein Name ist Miriam“, sagte sie und blickte sich in der Klasse um. „Wir sind hergezogen, weil meine Mama schwanger ist und wir ein größeres Haus brauchen. Und weil mein Papa hier einen besseren Job hat.“ Die Lehrerin nickte ihr aufmunternd zu und wies mit der Hand auf einen freien Stuhl.
„Danke für deine kleine Vorstellung, Miriam. Ich hoffe, es gefällt dir und deiner Familie hier.“
Als sie Platz nahm, konnte sie die Blicke der Anderen spüren, sie musterten sie und wisperten hinter ihrem Rücken über sie. In der Pause spielte niemand mit ihr und sie saß einsam auf der kleinen Steinmauer und ließ die Beine baumeln. Sie wünschte, jemand würde mit ihr reden. Das Mädchen neben ihr sprach kein Wort.
„Wie war’s denn?“ fragte Mama und küsste sie sanft auf die Stirn, als Miriam zur Tür reinkam. Mamas runder Bauch berührte sie und Miriam zuckte kurz.
„Das Baby ist wieder ordentlich am Strampeln, he?“ lachte Mama und streichelte sanft über die große Kugel, die plötzlich aus ihrem Körper herauswuchs. Miriam nickte und versuchte zu lächeln, aber sie fühlte sich so einsam und traurig. Und wenn das Baby erst einmal da war, würde auch ihre Mama keine Zeit mehr für sie haben.
Sie lief raus in den Garten und ließ sich in das weiche Gras fallen. Es war warm und sie wünschte, sie hätte eine Freundin mit der sie Roller fahren oder Blumenkränze basteln könnte. Sie dachte an Lischen, die im Nachbarshaus gewohnt hatte und mit der sie bei gutem Wetter auf der Straße spielte. Jetzt war sie hier und Lischen noch immer daheim. Und hier wollte niemand mit ihr befreundet sein.
Sie fuhr mit Mama in die Stadt um die Einkäufe zu erledigen und schlenderte nun gelangweilt neben ihr her.
„Jetzt sei’ doch nicht so schlecht drauf“, murmelte Mama und nahm ihre Hand. „Das Wetter ist toll und wir beide machen uns jetzt einen schönen Tag.“
„Ja, und morgen stehe ich auf dem Pausenhof trotzdem alleine da“, antwortete Miriam schnippisch und befreite ihre Hand. Ihre Mutter schüttelte den Kopf und blickte sie traurig an.
„Ich weiß, dass es schwer ist, Freunde zu finden, aber je fröhlicher und offener du bist, umso schneller hast du Glück“, sagte sie und strich ihr über’s Haar. „Und jetzt kaufen wir erst einmal Schokopudding, damit wir einen feinen Nachtisch haben können.“ Sie lachte und Miriam griff nach ihrer Hand.
Als Papa nach Hause kam und seine großen Arme um Miriam schlang, gluckste sie laut und strahlte ihn zufrieden an.
„Na, du musst ja einen tollen Tag gehabt haben“, lachte er und setzte sie wieder ab. Sie nickte heftig mit dem Kopf und schmeckte noch immer den warmen, süßen Pudding auf ihren Lippen.
„Hast du schon neue Freunde gefunden?“, fragte Papa, doch Miriam mochte nicht schon wieder an die Schule denken. Kopfschüttelnd rannte sie zurück in die Küche und versuchte sich in Mamas Schoß zu kuscheln.
„Miri, das geht nicht“, murmelte Mama und als Miriam nicht nachließ und wieder versuchte in ihren Schoß zu klettern, sagte sie lauter: „Pass doch auf das Baby auf!“ Damit schob sie sie von sich und legte die Hände auf ihren Bauch. Beleidigt verschwand Miriam in ihrem Zimmer.
„Doofe Schule, doofe Mama“, murmelte sie und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihr war langweilig und sie hört wie ihre Eltern unten lachten und quatschten und sie wünschte sich, sie könnten jetzt alle wieder Zuhause sein und in ihrem alten Haus leben. Dort konnte sie noch auf Mamas Schoß sitzen ohne an den dicken Bauch zu stoßen.
„Ach Miriam“, sagte Papa, als er seinen Kopf durch die Tür steckte.„Ist es wirklich so schlimm hier?“ Sie nickte traurig mit dem Kopf und starrte auf ihre kleinen Füße.
„Komm mit, ich zeig’ dir was“, sagte er auf einmal und griff nach ihrer Hand. „Das wird dir gefallen.“
Als sie im Flur standen, holte er einen langen Stab und öffnete die Luke zum Dachboden.
„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Dachboden haben“, sagte Miriam und folgte ihrem Vater. Als sie oben ankamen und sie durch das kleine, schmutzige Fenster nach draußen blickte, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie konnte in den Wald blicken und beobachten wie der Bach sich durch die Wiesen schlängelte.
„Das ist so wunderschön“, lachte sie und schaute sich noch einmal um. „Hier gibt es so viel zu sehen.“ Papa nickte ihr zu und winkte sie zu sich rüber.
„Eigentlich wollte ich dir was ganz anderes zeigen“, sagte er und schob ihr eine kleine goldene Kiste entgegen.
„Mach’s ruhig auf“, sagte er, als sie zögerte. Voller Spannung klappte sie den mit Steinchen verzierten Deckel auf und blickte auf ein dickes, altes Buch. Als Papa bemerke, dass Miriam sich nicht sicher war, ob sie sich wirklich darüber freuen sollte, oder ob das Fenster mit dem Blick auf den Wald nicht doch viel spannender war, sagte er schnell: „Das ist ein altes Märchenbuch, das meine Mutter mir immer vorlas. Ich dachte, du Leseratte hättest vielleicht Interesse daran.“ Miriam schmunzelte und fuhr mit ihrer Fingerspitze über die Titelseite.
„Es ist schön“, sagte sie leise.
„Sehr schön und auch sehr alt“, ergänzte Papa. „Schon deine Großeltern haben es gelesen. Es hat etwas Magisches.“ Sie legte es zurück in die Kiste und blickte ihren Papa an.
„Und jetzt darf ich es lesen?“ fragte sie und freute sich unheimlich, als er nickte.
„Du musst nur sehr vorsichtig damit umgehen. Solch ein Buch kann man nicht nachkaufen.“ Miriam nickte bestimmt und konnte kaum drauf warten, sich ins Bett zu kuscheln und die ersten paar Seiten zu lesen.
„Danke Papa“, flüsterte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Es war einmal eine kleine, schöne Fee, die mit ihren rotschimmernden, glitzernden Flügeln alles und jeden verzaubern konnte“.
Miriam las den ersten Satz wieder und wieder, stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie zaubern könnte. Sie hätte viele Freunde, mit denen sie draußen rumtoben und Fangen spielen könnte und am liebsten würde sie sich wieder zurück nach Hause zaubern und ohne das Baby leben. Aufgeregt las sie weiter, bis ihr plötzlich kurz die Augen zufielen. Sie schreckte auf und starrte das Buch an, sie hatte schon fast zwanzig Seiten gelesen, und legte es dann vorsichtig beiseite.
„Gute Nacht, kleine Fee“, murmelte sie und schloss die Augen. Sie träumte von den Abenteuern, die die kleine Fee bestehen musste und konnte das Surren ihrer Flügel im Schlaf hören. Plötzlich riss Miriam die Augen auf und starrte in die Dunkelheit. Hatte sie wirklich nur geträumt? Es klang so echt. Schnell knipste sie das Licht an und blickte sich um. Nichts. Auch das schöne Geräusch, das das Flattern der Flügel erzeugt hatte, war verschwunden. Sie hatte also doch nur geträumt. Müde rieb Miriam sich die Augen und schaltete das Licht wieder aus, doch nun konnte sie nicht mehr einschlafen. Ihr Herz schlug noch immer wild. Sie begann das Lied zu summen, das Mama jede Nacht für sie sang, als sie plötzlich wieder das Surren hörte.
„Es war also doch kein Traum!“, dachte sie aufgeregt und auch ein wenig ängstlich und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Sie blickte rüber zum Fenster und entdeckte einen goldenen Schimmer. Leise japste sie und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie konnte nicht erkennen, was es war, bis es immer näher und näher kam.
Das Surren wurde lauter und klang wie Musik in ihren Ohren und nun sah sie das kleine, runde Gesicht und die blonden Locken, die es umfassten. Die kleine Fee! Aufgeregt flatterte sie auf Miriam zu, schlug wie wild mit den Flügeln und grinste sie breit an, als sie vor ihrem Gesicht Halt machte. Miriam starrte sie ungläubig an, rieb sich wieder und wieder die Augen und schüttelte den Kopf.
„Das kann doch nicht ... Ich verstehe nicht, wie ...“, stammelte sie, doch die Fee unterbrach sie: „Ich bin die kleine Fee.“ Sie war wunderschön und so klitzeklein, dass Miriam sie in ihrer Hand halten konnte.
„Ich weiß, wer du bist“, sagte Miriam und lächelte zurück. „Du bist aus meinem Buch.“ Die kleine Fee nickte und flatterte einmal um Miriams Kopf.
„Ich bin hier um eine kleine Reise mit dir zu unternehmen.“ Bevor Miriam fragen konnte, wohin es denn ginge, schrumpfte sie bis auf die Größe eines Bleistifts und hockte unsicher auf ihrem Bett, das plötzlich riesig schien. Die Fee griff nach ihrer Hand und beide erhoben sich in die Lüfte. Miriam stieß einen Schrei aus, sie krallte sich in die Hand der Fee und blickte unsicher nach unten. Der Zimmerboden war meilenweit weg, schien es ihr.
„Schlag’ mit deinen Flügeln“, sagte die Fee und ließ ihre Hand los. „Jetzt!“ Miriam fiel, sie fiel und fiel, der Boden war schon so nah, als sie plötzlich ein Zucken in ihrem Rücken spürte. Flügel wuchsen aus ihren Schulterblättern, wunderschöne, blaue Flügel! Sie jauchzte und flatterte immer schneller, erhob sich wieder in die Lüfte und flog durch’s offene Fenster raus in die Nacht.
„Ich fliege“, schrie sie vor Glück und lachte die kleine Fee an. „Ich fliege!“ Die beiden rasten durch die Lüfte und Miriam fühlte sich großartig- obwohl sie plötzlich so klein war.
„Ich möchte dir etwas zeigen“, rief die Fee und landete auf einem der Dächer. Miriam nickte neugierig und folgte der kleinen Fee, als sie durch das offene Fenster in ein fremdes Zimmer flog.
„Dürfen wir das denn?“, fragte Miriam und schwirrte umsicher umher. Die Fee schüttelte den Kopf, machte aber trotzdem keine Anstalten das Kinderzimmer zu verlassen. Sie flog auf das kleine Buch zu, das auf dem Schreibtisch lag und landete daneben.
‚Hilf’ mir mal“, meinte sie und stemmte sich gegen die Seiten. „Ich kann es nicht alleine aufklappen.“
„Aber das ist ein Tagebuch“, erwiderte Miriam. „Wir können doch nicht einfach ein fremdes Tagebuch lesen. Das ist gemein.“ Die Fee nickte, stemmte sich aber immer noch gegen die Seiten.
„Du wirst es mir danken, trau’ mir.“ Miriam zögerte kurz und landete dann neben der kleinen Fee auf dem Schreibtisch. Gemeinsam klappten sie die Seiten um und obwohl Miriam ein komisches Gefühl dabei hatte, las sie ein paar Zeilen.
„Was?“, stieß sie hervor. „Das ist das Tagebuch von Lisa?“ Die Fee nickte und las laut: „Da ist ein neues Mädchen in unserer Klasse, Miriam heißt sie. Sie hat so tolle Buntstifte, ich sitze neben ihr. Ich möchte so gerne mit ihr reden, aber die Anderen machen das auch nicht. Alle flüstern immer nur hinter ihrem Rücken. Ich wünschte, ich hätte wieder richtig gute Freunde. Und ich wünschte, Miriam würde nicht so unglücklich aussehen.“ Miriam konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Mädchen neben ihr fand sie also doch gar nicht so doof. Die kleine Fee nickte Miriam zu und versuchte, das Tagebuch wieder zu zu klappen. Gemeinsam schafften sie es und verließen leise das Zimmer.
„Die Reise ist noch nicht vorbei“, meinte die kleine Fee und sauste im Sturzflug auf ein Haus zu. Als sie landeten, erkannte Miriam, wo genau sie waren, und traute ihren Augen nicht. Es war ihr altes Zuhause! Bevor sie Fragen stellen konnte, schlängelte die Fee sich durch das Schlüsselloch und schwirrte nun drinnen rum.
„Komm“, formte sie mit ihren Lippen und Miriam flog vorsichtig durch das kleine Loch. Sie wollte ihre kleinen Flügelchen nicht verletzen.
„Da ist ja Mama!“, rief sie und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Es ist okay, sie kann dich nicht hören. Wir sind in ihrem Traum.“
„In ihrem Traum?“
„Alle Menschen haben Wünsche und Träume. Ich wollte dir gerne zeigen, wovon deine Mama träumt.“ Miriam folgte der kleinen Fee, die nun durch das Wohnzimmer flog und auf der Couch landete. Mama hielt einen kleinen Jungen in den Armen, er war wunderschön und hatte große, blaue Augen, genau wie Miriam. Sie sah zufrieden aus und wiegte das Baby sanft hin und her.
„Mama, ich konnte die Flasche nicht finden“, tönte es plötzlich aus der Küche. War das etwa sie, die da sprach? Es war eindeutig ihre Stimme, und trotzdem kam es Miriam komisch vor.
„Bin ich das?“, fragte sie vorsichtig und die kleine Fee nickte.
„Du gehörst schließlich zu dem Traum deiner Mama dazu.“ Miriam lachte und flatterte auf ihren Bruder zu und plötzlich konnte sie kaum erwarten, das echte Baby zu betrachten und in den Armen zu halten.
„Ihr Wunsch ist also, dass wir wieder hier leben und das Baby endlich da ist?“, fragte Miriam und blickte die Fee an.
„Warum sind wir denn dann umgezogen?“
„Weil dein Papa durch seinen neuen Job hier mehr Geld verdient und weil deine Eltern wollten, dass ihr Kinder genug Platz zum Spielen habt. Und dass du dein eigenes Zimmer hast“, antwortete die Fee.
Mama hielt noch immer das Baby in den Armen und zog Miriam, die nun aus der Küche kam, an sich.
„Ich bin so froh, dass du dich so gut mit deinem Geschwisterchen verstehst. Und dass du dich auf ihn gefreut hast.“ Miriam verzog das Gesicht. Das war also der Traum ihrer Mutter – dass sie sich auf das Baby freute und eine gute Schwester war. Und sie zerstörte den Traum ihrer Mama.
„Können wir nach Hause fliegen?“, fragte sie plötzlich und die Fee nickte.
„Nur eins noch“, sagte die Fee. „Lass’ uns mal dein Zimmer ansehen.“
Als sie die Tür öffneten, strahlte ihnen ein wunderschönes Blau entgegen- Miriams Lieblingsfarbe. Sie hatte ein tolles Himmelbett und viele Spielsachen, einen gemütlichen Sessel und ein hübsches Regal für all ihre Bücher. Und an der Pinnwand hingen Fotos von Miriam und ihren Freunden, lachende Gesichter strahlten ihr entgegen und ihr wurde plötzlich ganz warm ums Herz.
„Wow, das wünscht Mama sich?“, fragte sie verdutzt.
„Sie wünscht sich, dass du glücklich bist.“ Miriam stiegen Tränen in die Augen. Wenn ihre Mama ihr ihren Traum erfüllen wollte, wollte sie das Gleiche für sie tun.
Miriam schlang ihre Arme um die kleine Fee und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
„Danke“, flüsterte sie in ihr Ohr und die Fee nickte. Dann schwang sie ihren Zauberstab und Miriam wuchs auf ihre natürliche Größe zurück.
„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder“, lachte die Fee, winkte noch einmal kurz und verschwand dann in die dunkle Nacht. Miriam schlüpfte schnell in ihren Bademantel und lief rüber zu dem Schlafzimmer ihrer Eltern.
„Mama“, hauchte sie und rüttelte sanft an ihrem Arm.
„Ich freue mich doch auf’s Baby, ich freue mich doch.“ Ihre Mutter öffnete verwirrt die Augen und Miriam schlüpfte unter die warme Bettdecke.
„Ich weiß, mein Schatz, ich weiß“, flüsterte Mama.
„Ich will, dass alle deine Träume in Erinnerung gehen“, sagte Miriam gähnend und schlief auf der Stelle ein.
„Der ist für dich“, sagte sie am nächsten Morgen in der Schule und reichte ihrer Sitznachbarin Lisa einen ihrer Buntstifte.
„Vielleicht können wir irgendwann einmal zusammen malen“, grinste sie und das Mädchen nickte heftig mit dem Kopf.
„Danke“, lachte sie.
Zufrieden lehnte Miriam sich in ihrem Stuhl zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Sie traute ihren Augen kaum, als sie die kleine Fee entdeckte. Sie lächelte ihr unauffällig zu und wandte sich wieder an Lisa.
„Glaubst du an Feen?“