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Miriam ist immer da
Der Nachmittag nach dem Kindergarten war langweilig gewesen. Es regnete. Leo musste alleine zu Hause spielen. Der kleine Junge hatte die ganze Zeit auf seinen Papa gewartet. Er spielte gern mit ihm, aber Wolfgang war immer noch auf der Arbeit.
„Räum dein Spielzeug auf“, mahnte Leos Mutter jetzt, "es gibt gleich Essen."
„Jaja“, antwortete der kleine Junge.
„Leo!“
„Ich mach ja schon.“
Die Haustür schnappte auf, und ein griesgrämiger Mann kam herein. Die Katze Pollux schreckte auf.
„Papa!“, rief Leo laut.
„Schon wieder zu spät“, sagte Agnes an den Kochplatten.
„Der Chef wollte noch was“, murmelte der zu spät Kommende und begab sich auf direktem Weg zum Kühlschrank.
„Papa, spielst du mit mir?“
„Wir essen jetzt“, unterbrach Leos Mutter jede voreilige Abendplanung.
Eine Minute später saß die dreiköpfige Familie still am Esstisch.
Der Sohn schlürfte seine Suppe mit dem großen Löffel.
„Leo, ohne Geräusche.“
Seinem Papa floss glucksend das kalte Bier durch die Gurgel.
„Du auch, Wolfgang“, meinte Leos Mutter. Leos Papa grummelte und trank dann langsamer.
Pollux lag schnurrend auf Leos Füßen.
„Können wir jetzt spielen?“, wollte der Junge wissen, als er keine Lust hatte, weiter zu essen.
„Iss auf, dann darfst du aufstehen.“
Nach einer weiteren Minute war es dann soweit.
„Bin fertig.“
Besorgt schaute Wolfgang auf seine Armbanduhr: „Es ist schon spät, du musst jetzt ins Bett gehen.“
„Aber…“
„Protestieren hilft nicht“, fiel ihm seine Mutter ins Wort.
„Ich lese dir eine Geschichte vor“, schlug Leos Papa vor.
„Na gut, aber ich suche sie aus.“
„Zuerst auf Klo gehen, Hände waschen, Zähne putzen, Spielsachen aufräumen, Pyjama an“, betete Agnes herunter.
Nach einer bewegten halben Stunde, in der Leo genörgelt, gebettelt und seine Eltern ihn ermahnt und geschimpft hatten, lag der kleine Junge schließlich im Bett.
„Pinocchio!“, erklärte er feierlich.
„Aber das dauert ja eine Stunde zum Vorlesen“, protestierte Wolfgang.
„Ich hör dir doch so gerne zu.“
„Also gut, heute lesen wir den ersten Teil und morgen den zweiten.“
Wolfgang fing an zu lesen, und Leo stellte sich die Holzmarionette vor, den alten Mann, die Fee und die bösen Männer vom Zirkus.
„So, und morgen geht’s weiter.“
„Ich will aber die ganze Geschichte hören...“, maulte Leo.
„Nein, morgen lesen wir den zweiten Teil. Gute Nacht, Leo.“
„Ich halte dich fest, Papa“, sagte der kleine Junge und umfasste den Arm seines Vaters.
Wolfgang lachte: „Leo, ich bin doch unten und schau mit Mama fernsehen.“
„Aber ich will nicht alleine schlafen“, klagte das Kind.
„Guck mal“, sagte sein Papa und riss sich los, „hier lassen wir die Tür auf; da kommt das Licht vom Gang rein. Und wenn du mich rufst, komme ich zu dir.“
„Aber…“
„Gute Nacht, Leo.“
„Gute Nacht, Papa.“
Traurig legte der kleine Junge seinen Kopf auf das Kopfkissen und schaute zum Lichtstrahl der angelehnten Zimmertür. Sein Vater ging schweren Schritts die Holztreppe ins Wohnzimmer. Von unten tönte dumpf die Stimme des Nachrichtensprechers. Gern hätte der Junge noch länger mit seinem Papa gespielt oder gelesen…
„Das ist ungerecht“, entfuhr es ihm.
Dann wurde er müde.
Als er wach wurde, war es stockdunkel. Kein Lichtstrahl war zu sehen. Und es war still. Kein Laut war zu hören. Das Haus kam ihm leer vor. Unendlich leer. Auch war es kalt.
„Papa?“, rief Leo in die Dunkelheit. „Papa!“ Und er begann aus Angst zu wimmern. „Papa…“
Doch keine Stimme antwortete. Nur die undurchdringlich schwarze Stille um ihn herum.
„Papa!“ Leo stand auf.
Er suchte den Lichtschalter, fand ihn aber nicht.
„Mama, Papa!“
Der Junge tastete sich zur Zimmertür. Er öffnete die Tür.
Auch im Gang war kein Licht an. Leo glitt an der Wand hin zum Elternschlafzimmer.
Er betrat das Zimmer, suchte das Bett. Er ertastete das Bettlaken, es war kalt und unberührt. Seine Eltern lagen nicht im Bett.
„Mama, Papa?“
Leo ging zur Treppe, hielt sich am Geländer fest, schritt Stufe für Stufe hinunter. Auch im Wohnzimmer war kein Licht.
„Mama, Papa, wo seid ihr?“
Der Junge ging zur Haustür, drückte den schweren Griff nach unten und trat nach draußen. Auch die Straßenlaternen waren aus. Außer dem Mond, der die Häuser und Strassen grau beschien, war kein Licht zu sehen.
Leo trat barfuß auf die Straße, der kalte Asphalt unter seinen Füßen tat ihm weh.
„Hallo, Mama, Papa, wo seid ihr?“
Er bekam keine Antwort. Langsam wurde ihm kalt. Eine tiefe Traurigkeit machte sich in ihm breit. War er ganz allein? Gerade in dem Moment, als er richtig Angst bekam, nahm ihn jemand an der Hand.
„Was machst du denn hier, Leo?“ fragte ein Mädchen neben ihm.
Es war sehr schön, fand Leo, und einige Jahre älter als er. Wo hatte er sie schon mal gesehen? Bei den Großen in der Schule?
„Weißt du, wo meine Eltern sind?“ fragte Leo sofort, ohne sich beirren zu lassen.
„Ja zuhause.“
„Aber … ich habe sie nicht gesehen.“
„Doch sie sind da.“
„Aber…“
„Wenn ich es dir doch sage“, beharrte das Mädchen.
Leo dachte nach. Endlich fragte er: „Wer bist du?“
„Miriam.“
„Kenn ich dich?“
„Ja sicher.“
„Woher?“
„Ich bin immer da.“
„Was willst du damit sagen?“ Leo war erstaunt.
„Naja, dass ich eben immer da bin.“
„Und was machst du, wenn du da bist?“
„Na, dich beschützen, das ist doch klar.“ Das Mädchen lachte.
„Was machst du?“
„Ich bin deine Glücksfee. Du kannst mich auch deinen Schutzengel nennen, aber eigentlich heiße ich Miriam.“
Der Junge nickte stumm.
„Willst du nicht nach Hause gehen? Dir muss ganz kalt sein.“
„Ja, aber zuhause ist doch keiner.“
„Das hast du nur geträumt.“
„Nein, ich habe es gesehen“, widersprach Leo.
„Ich weiß, dass du es gesehen hast, aber du hast es geträumt, Leo.“
„Wie kommt das?“
„Alle Kinder haben Angst und träumen, dass sie alleine sind oder dass ihre Eltern sie alleine lassen.“
Leo verstand gar nichts mehr: „Aber…“
„Komm“, meinte Miriam und zog ihn an der Hand.
Die beiden gingen zum Haus zurück.
Leise öffnete Miriam die Haustür. „Sag nichts, sonst bekommen deine Eltern Angst“, flüsterte die Fee. Licht und Wärme strömte den beiden aus dem Türspalt entgegen.
Pollux saß auf einem Stuhl nahe am Eingang, hob den Kopf und maunzte, als Leo das Haus betrat. Der Fernseher lief. Agnes und Wolfgang schauten konzentriert die Nachrichten an.
„Schnell“, wisperte der Schutzengel und führte Leo zur Treppe.
Bedächtig stiegen sie die Treppe hoch und gingen in Leos Kinderzimmer.
„Kannst du wieder einschlafen?“, fragte Miriam.
Leo nickte.
Sein Schutzengel lächelte.
Leo lächelte zurück und legte sich beruhigt auf sein Kissen.
Jemand streichelte ihm die Wange.
„Willst du nicht aufstehen?“
Leo machte die Augen auf.
Vor ihm kniete sein Papa.
„Willst du heute nicht in den Kindergarten?“
„Doch!“ Leo richtete sich auf.
„Was hast du geträumt, Leo? Du hast ja im Schlafen gelächelt!“
„Das ist doch wegen Miriam!“
„Wer ist denn das?“
„Das erzähle ich dir später einmal; aber es ist schön, dass du da bist.“ Leo schlang seine Arme um Wolfgang. „Kommst du heute Abend früher nach Hause?“