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Mirabelle und die Sommerblumen
Die kleine Blumenfee Mirabelle war aufgeregt. Mit ihren sieben Wochen war sie nun endlich alt genug, um mit den anderen Feen auf die Wiese zu fliegen, wo sie sich gemeinsam um all die Blumen kümmerten, die dort ihr Zuhause hatten. Heute, an diesem strahlenden Sommertag, war es soweit. Mirabelle und die älteren Feen verließen ihr Blätternest auf dem Baum und flogen los. Die kleine Fee wäre am liebsten schon vorausgeflogen, doch sie zwang sich zur Geduld. Als sie von weitem das leuchtende Grün der Wiese sah, klopfte ihr Herz fast zum Zerspringen. Sprachlos bestaunte sie die bunte Vielfalt, die sich ihr bot. Große und kleine Blumen, weiße und farbige Blüten, Stengel in allen möglichen Grüntönen lachten ihr entgegen. Die kleine Fee flog von einer Blume zur nächsten, während die älteren Feen über ihren Eifer lächelten. Mirabelle konnte sich nicht sattsehen. Sie bewunderte die edlen Rosen, die ihre tiefroten Köpfe der Sonne entgegen reckten. Sie freute sich über die vorwitzigen Gänseblümchen, die sich trotz ihrer geringen Größe selbstbewusst aufrichteten. Das satte Gelb der Löwenzahnblüten brachte sie vor guter Laune zum Jauchzen. Ein Schmetterling, der gerade eine Margeritenblüte bestäubte, zwinkerte ihr fröhlich zu.
"Na, kleines Fräulein? Zum ersten Mal auf der Blumenwiese?", fragte er.
"Ja, ja", erwiderte Mirabelle atemlos. "Und alles ist so schön bunt! Ich weiß gar nicht, zu welcher Blume ich zuerst fliegen soll ..."
Der Schmetterling lachte. Er hatte schon oft erlebt, wie junge Feenkinder zum ersten Mal die Wiese bestaunt hatten. Er wünschte der kleinen Fee noch einen schönen Tag und flog weiter zur nächsten Blüte.
Mirabelle verbrachte den halben Tag damit, so viele Blumen wie möglich in Augenschein zu nehmen. Immer wieder hielt sie inne, um eine von ihnen zu beschnuppern. Am Nachmittag war sie erschöpft. Trotzdem bestürmte sie die älteren Feen mit unzähligen Fragen über die Blumenwiese. Sie wollte wissen, um welche Blumen sie sich am meisten zu kümmern hatte, wann es ihre Aufgabe war, für Wasser zu sorgen, ob sie Tiere vertreiben musste. Die älteren Feen beantworteten geduldig ihre Fragen und beruhigten das aufgeregte Feenmädchen. Die jüngsten Feen brauchten sich gar nicht um viel zu kümmern, nur an heißen Tagen die Blüten morgens mit etwas Wasser benetzen. Für Mirabelle war es jedoch keine Arbeit, sondern ein Vergnügen. Am Morgen konnte sie es kaum erwarten, zur Blumenwiese zu fliegen. Sie trauerte um jede verdorrte Blüte, streichelte ihre Lieblingsblumen wie die fröhlich leuchtende Margerite und ließ sich von den wuscheligen Ähren des Knöterich kitzeln. Bald kannte sie auch alle Schmetterlinge, Bienen und Hummeln beim Namen, die die Wiese regelmäßig besuchten. Sie winkte ihren Freunden zu und schwebte, ein Liedchen summend, über den bunten Blumenteppich. Die Tage vergingen, ohne dass es Mirabelle bei ihren Aufgaben langweilig wurde. Jede neue Blüte wurde von ihr herzlich begrüßt, fremden Bienen und Schmetterlingen gab sie Tipps, wo der beste Nektar zu finden war. Auch ihr Freund vom ersten Tag auf der Wiese kam regelmäßig vorbeigeflattert, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Wenn sie sich am Abend in ihrer kleinen Blatthöhle auf dem Baum zusammenrollte, freute sie sich schon auf den nächsten Tag, auf die süßen Düfte und die weichen Blüten, die immer zu einem Nachmittagsschläfchen einluden.
Eines Morgens flog die kleine Fee wie immer zur Wiese, gutgelaunt und voller Tatendrang. Als Erstes wollte sie die kleinen, gelben Trollblumen besuchen, die so selten geworden waren, dass sie sich besonders gefreut hatte, einige davon zu entdecken. Mirabelle erreichte die Wiese - und erstarrte. Vor ihr lag nichts als eine glatte, grüne Fläche. Gras, Gras und nochmal Gras, so weit das Auge reichte. Sehr kurzes Gras. Und dazwischen ein paar verlorene, einzelne Blüten. Jetzt nahm Mirabelle auch das Knattern wahr, dass aus der Ferne erklang. Als sie den Kopf drehte, erkannte sie am Ende der Wiese ein riesige Ungeheuer, die langsam über den Boden kroch. Zitternd ließ sich das Feenmädchen auf einem Baumstumpf nieder. Immer wieder glitt ihr Blick von einem Ende der Wiese zum anderen. Die Farbenpracht war verschwunden und dort hinten war dieses Ungeheuer, das alle Blumen geraubt hatte. Mirabelle sah eine Bewegung neben sich. Es war ihr Freund, der Schmetterling. Sein Gesicht war so ernst, wie sie es noch nie gesehen hatte.
"Was ist passiert?", brachte sie stockend hervor. "Die Blumen, alle Blumen ..."
"Ja ja", seufzte der Schmetterling und setzte sich neben sie. Er starrte auf die Wiese. "Es war der Bauer mit seinem Mähdrescher", sagte er dann und deutete auf das Untier. "Die Heuernte hat begonnen." Die kleine Fee verstand kein Wort. Der Schmetterling erklärte ihr, dass jedes Jahr um diese Zeit die Wiese gemäht wurde. Das Ungeheuer war eine Maschine, die der Bauer steuerte. Mirabelle liefen die Tränen über die Wangen.
"Na na, wer wird denn gleich weinen", beruhigte sie der Schmetterling. "Nächstes Jahr stehen sie alle wieder da, wie eh und je. Wirst schon sehen!"
Die Fee schaute ihn mit großen Augen an. Was sagte er da? Die Blumen kamen wieder?
"Aber natürlich", sagte der Schmetterling. Er hatte oft darüber mit den anderen Feen gesprochen und niemand kannte sich besser mit der Wiese aus als sie. Er versprach dem Feenmädchen, dass alle Blumen wiederkämen, so bunt und so süß duftend wie zuvor. "Das ist der Lauf der Dinge", schloss er.
Mirabelle zögerte. In diesem Augenblick landete eine der älteren Feen neben den beiden. Sie seufzte leise, als sie Mirabelles Gesicht sah.
"Nun weißt du es also", sagte sie und Mirabelle nickte. Warum hatte sie niemand auf diesen Tag vorbereitet?
"Ich wollte es dir oft sagen, die anderen ebenso", sagte die Fee mit bekümmerter Stimme. "Aber als wir gesehen haben, wie sehr du dich auf die Blumen gefreut hast jeden Morgen, wie gerne du hier warst ... Es hätte dir nur unnötigen Kummer bereitet." Sie verstummte. Der Schmetterling wiegte sein Köpfchen hin und her.
"Machen Sie sich nicht zu viele Vorwürfe, liebe Fee. Die jungen Leute wachsen an den eigenen Erfahrungen."
Mirabelle begriff nicht viel von dem, was der Schmetterling und die ältere Fee über Erfahrungen sagten. Aber nach und nach glaubte sie, dass die Blumen tatsächlich nicht für immer zerstört waren. Es machte Sinn, was die beiden sagten. Die anderen Feen hatten sich mittlerweile auch auf der Wiese eingefunden. Alle schauten etwas traurig aus, aber keine war verzweifelt, weil sie wussten, dass die Blumen nicht für immer verschwunden waren. Sie saßen auf den Grashäufchen, auf Steinen und auf Baumstümpfen wie Mirabelle. Der Schmetterling ahnte, dass er sie jetzt allein lassen musste und verabschiedete sich von der kleinen Fee. "Kopf hoch und bis bald", sagte er zum Abschluss, ehe er davonflog. Mirabelle und die ältere Fee schwebten zu ihren Gefährtinnen. Sie alle wussten, dass die Blumenwiese im nächsten Sommer genauso prächtig leuchten würde wie noch vor kurzer Zeit. Trotzdem lag eine schwere Stille über der Wiese. Nur ab und zu hörte man eine der Feen leise seufzen. Mirabelle sah, dass unter einem Büschel Gras etwas Gelbes hervorglitzerte. Sie flog hin und holte eine der Trollblumen hervor, die sie heute hatte besuchen wollen. Das gelbe runde Köpfchen hing kraftlos herab. Mirabelle drückte die Blume an sich und schwebte mir ihr zu ihrer Höhle. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die anderen Feen es ihr gleichtaten, jede mit ihrer liebsten Blume im Arm.
"Bis nächstes Jahr", flüsterte Mirabelle der Wiese zu.