Minusgrad
Fuß vor Fuß - eins, zwei, eins, zwei. Ein Balanceakt auf dem Schienenstrang. Eins, zwei, eins... Ein Fuß in der Luft, kurzes Zögern, ein hilfloses Flattern, Fall. Zwischen zwei Gleisen eingekeilt - Zwänge., denkt das Ich. Zwänge sind die Enge des Raumes zwischen zwei Parallelen.
Das Ich atmet kühle Luft und den Blick in die Himmelsbläue. Ersterbend, die letzten Federn sträubend, erhebt es sich. Mit zitternden Flügeln weiter das „Ehne-mehne-muh-Spiel“ der Füße. Eins, zwei, eins, zwei, eins - Verharren. Es hat geschneit., denkt das Ich. Eins, zwei, eins, zwei und dazwischen Frösteln.
Aber das sind doch Federn - kein Schnee, keine Kristalle. Federn.
Schwanenfedern auf Schienensträngen. Im Schnee ein Kopf mit gebrochenen Augen und einem letzten Schrei im lang gebogenen Hals.
Später schneite es wirklich. Ob nun Schwanenfedern oder Eiskristalle wußte niemand zu sagen.
Und wenn die dritte Person nicht gestorben ist, geht sie noch immer ohne Ich auf der Grenze, welche zwischen zwei Parallelen liegt.
Rostock, den 2. Januar 1997
(c) by Edda Hofmann
[ 30.07.2002, 21:18: Beitrag editiert von: nikto ]