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Minnesänger
Vicarius fühlte die Schwermut in seinem Herzen. Es verlangte ihn nach seiner Geliebten. Bedächtig stieg er die Stufen hinab, in den finsteren Keller. Allein begleitet vom flackernden Schein der Kerze. Dort unten würde er sie ehren, die ihn verlassen hatte. Sein Lied würde sie wiederauferstehen lassen, für eine Weile. Das Instrument würde ihre Stimme erwecken und sein Gesang würde sie preisen.
Vicarius steckte die Kerze in den Halter und nahm das Instrument zur Hand, dass er ihr zu Ehren angefertigt hatte. Kunstfertig mit Schnitzereien verziert und filigran war es, dennoch vermochte es ihre einstige Schönheit nicht einzufangen.
Auch sein Lied würde nur ein Abglanz ihres reinen Wesens sein.
Oh, wie hatte er sie geliebt.
Seine Finger glitten gewandt über die Saiten und entlockten ihnen Töne, hell wie ein Frühlingsmorgen. Vicarius sang von ihr und weinte dabei. Er pries ihre Stimme, ihre roten Lippen, wie sie gelächelt und ihn verzaubert hatten. Er sang von seiner Liebe zu ihr und der Gram wich von ihm.
Lange Zeit spielte er, die Welt um ihn vergessend. Er wurde nicht müde ihr Lied zu singen, denn sein Herz frohlockte. Stunden, Tage? Er vermochte es nicht zu sagen. Weder Hunger noch Durst plagten ihn, denn die Liebe war es die ihn nährte. Die Kerze war vor langer Zeit verloschen, doch er brauchte kein Licht um sie zu sehen.
Er spielte ohne Unterlass, mit blutenden Fingern und sang dazu mit stechender Kehle.
Er fühlte nicht die Schmerzen, denn sie waren ein geringer Preis für die Freude in seinem Herzen.
Dann war es vorbei. Eine Saite war gerissen, das Stimmband. Es konnte nicht ersetzt werden. All seine Instrumente waren einzigartig beschaffen. Wenn eines brach, war es für immer. Nie wieder würde er damit die Erinnerung an seine Geliebte wecken können. Nun war sie endgültig tot, doch er trauerte nicht mehr.
Vicarius nahm das Instrument und legte es in eine Truhe, die mit Samt ausgekleidet war. Darauf setzte er eine goldene Tafel, mit dem Namen seiner Liebe. Dann stieg er aus dem dunklen Keller nach oben. Er würde ruhen und sich erholen. Während sein Körper neue Kraft schöpfte, würde die Liebe verblassen.
Es war nicht das erste Mal, dass er dies durchmachte. Binnen kurzem würde er sie vergessen haben.
Schon bald sollte er erneut die Suche nach einem jungfräulichen Mädchen beginnen, aus deren Körper er ein Instrument zu fertigen vermochte.