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Miluji te oder Von einer Reise ins Glück
Miluji te oder Von einer Reise ins Glück
"Ich bin dann mal weg, bis morgen". Bernhard schloss die Tür hinter sich. Fast 40 Jahre kannten sie sich nun schon und waren fast genauso lange miteinander verheiratet. Und trotzdem war jeder einzelne Moment dieser 40 Jahre nichts als eine Lüge. Sie war 17 und Bernhard 19, als sie sich kennenlernten, und kaum drei Monate waren vergangen, als sie feststellte, dass ein Kind unterwegs war. Heiraten, eine andere Lösung gab es nicht. Beider Eltern hätten nie akzeptiert, wenn sie sich dagegen entschieden hätten. Und, das obwohl Bernhard und sie schon längst festgestellt hatten, dass sie sich nicht richtig liebten. Als Sebastian geboren wurde und heranwuchs, versuchten sie, ihm zu Liebe eine richtige Familie zu sein. Aber oft sehnten sich beide nach einem Partner, den sie liebten. Mehr als einmal traf Elly Männer, mit denen sie sich ein Leben hätte vorstellen können. Und Bernhard ging es wohl nicht anders. Als Sebastian dann aus dem Haus war, hätten sie sich trennen könne, aber eine Scheidung? Was hätten die Nachbarn gesagt, die Kollegen? Bernhard war längst Chefredakteur der hiesigen Zeitung, und Elly hatte, als Sebastian aus dem Gröbsten heraus war, mit einem Studium der Journalistik begonnen und sich im Laufe der Jahre zu einer bekannten Journalistin gemausert. So waren sie, als der Junge dann nicht mehr zu Hause lebte, vielbeschäftigte Menschen und konnten sich aus dem Weg gehen, denn ein ständiges Zusammensein hätten beide nicht verkraftet.
Elly packte die letzten Kleidungsstücke in ihren Koffer. Morgen war eine wichtige Konferenz in einer tschechischen Kleinstadt. Sie hatte sich entschlossen, mit dem Auto zu fahren, da die Zugverbindung viel zu kompliziert war. Nachdem sie Bremen hinter sich gelassen hatte, fühlte sie sich frei. Endlich wieder am Steuer des eigenen Wagens. Sie fuhr über die Landstraßen, hatte die Fenster geöffnet und die Zeit verging wie im Flug. Es kam ihr vor, als hätte sie gerade das Haus verlassen, da passierte sie schon die oberpfälzisch-tschechische Grenze. Sie fuhr weiter, frei und glücklich, und war mitten in der tschechischen Einöde, als der Wagen ein qualvolles Geräusch von sich gab und absolut nichts mehr ging. "Verdammt", schrie Elly. Der Tank war voll, was konnte es sein? Elly hatte keine Ahnung von der Technik eines Fahrzeugs. Sie sah auf ihr Handy. Kein Empfang! Das konnte ja noch heiter werden. Sie durfte doch nicht zu spät kommen! In ihrem Ärger passte sie einen Moment nicht auf, stolpterte über einen Stein und landete mit der linken Hand auf dem steinigen Fahrbahnrand. Sie fluchte vor Schmerz. Jetzt hatte sie natürlich auch kein Desinfektionsspray oder Pflaster dabei. Zwei Stunden waren vergangen, da hielt endlich ein Laster an. "Kann ich helfen?" fragte der junge Mann am Steuer. Er hatte als Tscheche natürlich einen starken Akzent, sprach aber einwandfreies Deutsch, was Elly sehr beruhigte, denn vielleicht konnte er ihr wirklich helfen. "Ich komm nicht weiter", sagte Elly. "Am Tank liegt es nicht, ich bin aufgeschmissen". Der junge Mann betrachtete kurz das Innenleben des Wagens. "Motor hinüber. Aber ich habe eine... oh, mir fällt das deutsche Wort nicht ein... Haken zum Ziehen?" Elly lachte. "Abschleppen meinen Sie". "Ja genau?", lachte der Mann. "Übrigens, mein Name ist Tómas. Tómas Vasicek, aber bei uns sagen wir alle Du". "Gerne", erwiderte Elly. "Elvira Brandt, von allen Elly genannt".
Tómas dockte Ellys Wagen an seinen Laster an und Elly setzte sich auf den Beifahrersitz. "Wohin musst du denn?" fragte Tómas. "Der Ort heißt.. einen Moment, ich muss nachschauen.... Bílovec", erwiderte Elly. "Wo ist das denn?" fragte Tómas. "Hast du einen Autoatlas hier?" fragte Elly. "Nein, aber schauen wir mal hier nach" erwiderte Tómas und gab den Ort in sein Navigationsgerät ein. "Oh, das ist weit. Das ist in Mähren, weit im Osten, in der Nähe von der Slowakei. Am besten, du schläfst heute in meinem Dorf und morgen früh fährst du weiter". "Ich danke dir, Tómas", erwiderte Elly. "Nichts zu danken", lachte Tómas. Elly war müde und geschafft. Sie liebte ihren Job, aber er ließ ihr wenig Freizeit. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, schlief sie während der Fahrt schnell ein. "Jetzt sind wir da", sagte Tómas und Elly wachte wieder auf. "Mich freut es, wieder zu Hause zu sein. Zwei Wochen war ich nicht zu Hause", sagte Tómas. Es war ein kleines, aber gemütliches Dörfchen. Tómas fuhr den Wagen in einen Hof. "Jirka, das ist unser Allgemeinarzt hier, der soll sich mal um deine Hand kümmern", sagte er. Sie stiegen aus. "Můj kamarád! Můj nejlepší přítel! Jsi zpátky!" (1) schrie die Gestalt freudestrahlend, die direkt aus dem Haus gerannt kam. Der Mann war etwa 60, hatte graue Haare und einen rauen Bart, eine Mischung aus Dreitage- und Vollbart. "Ano, já jsem také", (2) erwiderte Tómas ebenso strahlend. Dann umarmten sich die beiden Männer. Der ältere küsste Tómas beide Wangen ab, ein ungewöhnlicher Anblick, aber sie wusste ja, wie offenherziger die Menschen in solchen Ländern waren. Sie fühlte sich irgendwie wohl. Warum, das konnte sie nicht sagen. "Kdo je to krása?" (3) fragte der ältere lächelnd und deutete auf Elly. "Jsem odtaženo auto, byla zaseknutá uprostřed ničeho. Pochází z Německa", (4) antwortete Tómas. "Dívka, Vítejte", (5) sagte der ältere zu Elly, umarmte sie fest und küsste auch ihr die Wangen ab. Völlig verdutzt sah Elly ihn an. Tómas deutete auf Ellys Hand. "Vaše ruka je lehce zraněn, ale podívejte se tam. Ona nemá nic dezinfikovat a připojení", (6) erklärte er seinem Freund. Der nickte. "Ach, ich muss euch ja vorstellen", sagte Tómas. "Elly, das ist Jirka, ein sehr guter Freund von mir. Und Jirka, das ist Elly. Ach dummes Zeug, er versteht das ja nicht". Tómas musste lachen. "To je Elle", (7) sagte er zu Jirka. Jirka strahlte und küsste ihr nochmals beide Wangen ab. "Teď, ale to je dost. Teď se postaráme o její ruku", (8) sagte Tómas zu seinem Freund. Der nickte und zeigte Elly, dass sie ihm folgen wolle. In der Praxis zeigte er auf einen Stuhl. Elly setzte sich, und Jirka sah sich ihre Hand an. "Tak špatný", (9) sagte er und reinigte vorsichtig die Hand. Elly biss die Zähne zusammen. Dann holte er ein Desinfektionsspray und sprühte die Wunde ein. Elly verzog das Gesicht und stöhnte. "To je už nad", (10) sagte Jirka sanft. Dann verband er die Hand. Während er den weißen Verbandstoff um die Hand zog, sah er Elly immer wieder lächelnd an. "Danke, Jirka", sagte Elly, als sie fertig waren. Jirka führte sie wieder hinaus. "Wo kann ich schlafen?" fragte Elly Tómas. "Meine Eltern haben ein Gasthaus. Da gibt es ein paar Zimmer. Wir fahren gleich hin", erwiderte er. Tómas Mutter, eine herzensgute Frau, kam noch freudestrahlender als Jirka aus dem Haus gelaufen, als sie ihren Sohn sah. Die beiden fielen sich in die Arme. Elly wurde einen Moment wehmütig. Sebastian und sie liebten sich sehr, aber sie sahen sich so selten, da er in Österreich lebte. Tómas erklärte seiner Mutter die Situation. Wieder verstand Elly kein Wort, fühlte sich aber wohl. Er stellte Elly und seine Mutter, die Márta hieß, gegenseitig vor. Márta legte ihren Arm um Elly und führte sie die Treppe hinauf ins Fremdenzimmer. Dort angekommen, fiel Elly völlig erschöpft aufs Bett. Sie war so müde, dass sie direkt einschlief. Als sie wieder erwachte, war es gerade einmal 22 Uhr und sie nun hellwach. Sie machte sich etwas frisch und ging nach unten, wo Tómas, sein Vater, seine Mutter, sein jüngerer Bruder und einige Freunde um einen runden Tisch versammelt saßen. Sie unterhielten sich laut und es schien lustig zu sein. "Elly, setz dich zu uns", rief Tómas. Elly setzte sich. Wieder fühlte sich sich einfach nur wohl, obwohl sie kein Wort verstand. Kurz darauf kam auch Jirka vorbei. Er freute sich sehr, Elly zu sehen und konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Elly jedoch war von einem ganz anderen gebannt. Tómas - sie wusste nicht, was genau sie an diesem jungen Menschen, der erst um die dreißig war, am wunderbarsten finden sollte. Seine Grübchen, wenn er lachte? Die unbekümmerte Art? Das braune, leicht wellige Haar, und die eine Strähne, die immer irgendwo abstand? Und auch Tómas war total nett zu ihr, und jedes Mal, wenn er ihr ein Lächeln schenkte, durchströmte Elly eine Welle der Glückseligkeit.
Am nächsten Morgen fuhr sie schon früh los. Die Konferenz in Bílovec war zwar früher vorbei als geplant, aber nun war es bereits zu spät, als sich wieder in Richtung Heimat zu begeben, und sie quartierte sich für die Nacht in einer Pension im Ort ein. Am nächsten Tag fuhr sie wieder zurück. Obwohl sie jetzt ohne Weiteres zurück nach Bremen hätte fahren können, konnte sie nicht anders, als in Tómas Dörfchen anzuhalten. Tómas war sogar zu Hause. Lachend begrüßte er Elly. "Na, alles gut gegangen?" fragte er. "Ja", sagte Elly strahlend. "Wollen wir einen Spaziergang machen?" fragte sie Tómas. "Ja, einverstanden", erwiderte der. "Ich zeige dir ein bisschen die Gegend".
Sie streiften durch den Wald, über die Feldwege, und Elly genoss die Nähe von Tómas. Sie spürte, dass sie sich verliebt hatte. War er auch an die 25 Jahre älter, so war ihr das egal - sie fühlte ganz fest, dass sie jetzt wieder eine Liebe gefunden hatte.
Da Elly die nächsten beiden Wochen keinen Termin hatte und Bernhard zu Hause sowieso nicht wartete, entschloss sie sich, noch etwas zu bleiben. Sie ging mit Tómas und Márta zu einem tschechischen Fest, wo sie sich amüsierte, wie lange nicht mehr. Márta zeigte ihr, wie man Polka tanzte, und Elly hatte das Gefühl zu schweben. Ihr kam es vor, als sei sie schon seit Ewigkeiten hier. Plötzlich kam eine junge Frau. Sie war in Tómas Alter oder ein paar Jahre jünger. Ihr Haar war lang und blond. Sie rannte auf Tómas zu. "Ana!" rief dieser freudestrahlend. Die beiden fielen sich in die Arme, küssten sich leidenschaftlich. "Das ist Ana, meine Verlobte", stellte er Elly die junge Frau vor. Ana streckte ihr strahlend die Hand entgegen.
Es war, als hätte Elly jemand mit einem Dolch ins Herz geschlossen. Ihr Traum war zerplatzt wie eine Seifenblase. Sie rannte weg. Einfach nur weg von diesem Fest! Sie fand eine leerstehende Scheune, warf sich, so wie sie war, ins Heu und schluchzte bitterlich. Sie fühlte sich leer. Wie konnte sie nur so dumm sein, in ihrem Alter! Verliebt in einen 25 Jahre jüngeren Mann, ihr musste doch klar sein, dass er lediglich Sympathie für sie empfand! Aber es tat so weh. Sie bemerkte erst gar nicht, dass die Situation auf dem Festplatz, den Schock in ihren Augen, jemand bemerkt hatte und ihr voller Sorge gefolgt war. Jetzt fühlte sie, dass sich jemand über sie beugte. "Neplač, prosím tě, neplač", (11) flüsterte Jirka, strich ihr die feuchten Strähnen aus der Stirn und die Tränen vom Gesicht. Elly sah ihn mit verquollenem Gesicht an. Dann legte sie ihr Gesicht an seine Brust. "Všechno je dobré, moje malá holčička", (12) murmelte Jirka sanft, streichelte ihr Haar und drückte seine Lippen auf ihren Kopf. Dann begann er zu summen. Elly fühlte sich sehr geborgen. Es war, als sei man noch einmal Kind und wird getröstet. Er wiegte Elly, bis sie sich wieder gefangen hatte. Dann nahm er Ellys Hand und sah sie auffordernd an. Elly nickte. Sie gingen spazieren, lange, und Elly merkte erst spät, dass sie die ganze Zeit Hand in Hand liefen. Sie wollte ihn nicht loslassen. Es spendete ihr Trost, seine Hand zu halten. An einer großen Weide befand sich eine Bank. Elly und Jirka setzten sich. "Da sieht man ja schon Sterne", sagte Elly. Jirka lächelte verlegen und zuckte mit den Schultern. Ach, bin ich dumm, dachte sich Elly, er kann ja kein Deutsch. Eine Zeitlang saßen beide schweigend auf der Bank. Jirka hatte seine Hand in die von Elly gelegt und Elly spürte, wie er ihre Hand immer wieder streichelte. "Miluji te", (12) flüsterte Jirka plötzlich. Elly hatte ein Bauchgefühl, was das wohl heißen konnte. "Miluji te, Elly", flüsterte er nochmals. Elly sah ganz erschrocken, dass eine Träne über seinen Nasenrücken lief und in seinem Dreitagebart versickerte. Sie streichelte über seine glitzernden Augen. Dann wurde ihr ganz warm ums Herz. Anders als bei Tómas. Stärker, viel stärker. "Miluji te", flüsterte sie in Jirkas Ohr. Der sah sie an, und ihm liefen wieder Tränen über das Gesicht, aber Elly wusste, dass er vor lauter Glück weinte. Auch sie konnte sich nicht beherrschen und spürte Tränen über ihre Wangen laufen. Als beide sich sanft küssten und sich ihre Tränen vermischten, wusste Elly, dass sie zu Hause angekommen war.
Am nächsten Morgen, nach der wunderschönsten Nacht ihres Lebens, mit Jirka an ihrer Seite, telefonierte Elly lange mit Bernhard. Er freute sich, dass sie sich verliebt hatte. Am Nachmittag kam Jirka von seinen Hausbesuchen zurück. Elly sah, dass er sich geistig gerade sehr anstrengte. Seine Stirn schlug starke Falten. "Ich dich lieben sehr", brachte er mühsam, aber glücklich lächelnd hervor. "Das ist doch schon gut", erwiderte Elly. Dann nahm sie ihr Handy, tippte etwas ein". Je to již velmi dobré", sagte sie. Schließlich musste sie ja auch Tschechisch lernen.
Ein paar Tage später fuhr Elly, mit Tómas als Chauffeur, zurück nach Deutschland, um ihre Sachen abzuholen. Tómas war letztendlich zwar nicht ihr neuer Mann, aber ein Freund fürs Leben geworden, und sein LKW war groß genug, um Ellys Sachen zu verstauen. Als sie wieder im Dorf angekommen waren, lief ihnen Jirka schon entgegen. Er vergaß völlig, Tómas zu begrüßen, da er nur Augen für seine Elly hatte. Er wirbelte sie durch die Luft. "Meine Mädchen wieder in ihre Schulhaus", rief er freudestrahlend. Elly und Tómas begannen herzlich zu lachen. Elly freute sich auf ihr neues Leben. Das Warten hatte sich gelohnt.