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Milena
Milena war nie ein besonders glückliches Kind.
Im Kindergarten spielte sie nicht gerne mit den anderen, denn sie war von eher stiller Natur und die wilde und rücksichtslose Art der anderen Kinder verwirrte und ängstigte sie.
Als sie in die Grundschule kam, verliebte sie sich Hals über Kopf in ihren Mathe-Lehrer. Diese Liebe wurde leider nie erwiedert, was ihre Beziehung zu männlichen Bezugspersonen nicht unbedingt förderte.
In der dritten Klasse attestierte man ihr Legasthenie.
Ihre Ärztin erklärte ihr, dass läge daran, dass sie sich statt Wörtern im Kopf immer nur Bilder vorstellen könne und sich daher zum Beispiel nicht merken könne, wie man Fahrrad schreibt. Ihr Vater erklärte ihr, es läge daran, dass sie dumm wäre.
Einfache Menschen geben sich gerne mit einfachen Antworten zufrieden und ihr Vater war ohne Zweifel die Pommes mit Ketchup unter den Gourmet-Menüs der Komplexität.
Doch in den Augen eines Kindes sind die Eltern wie Götter und ihre Worte werden, heiligen Gesetzten gleich, für immer ins Unterbewusstsein gebrannt.
Milena sah also schon früh ein, dass sie dumm war – was ihren Vater aber trotzdem nicht zufrieden stellte, da dieser ja auch nur das Beste für sein Kind wollte. Also beschimpfte er sie regelmäßig für ihre Dummheit, mit dem besten Willen, sie damit zu mehr Intelligenz anzutreiben.
Er hatte fast Erfolg. Milena wurde zwar nicht unbedingt schlauer, aber sie hörte auf zu essen.
Wenn einem das Leben entgleitet und über den Kopf wächst, ist es ein sehr beruhigendes Gefühl, über wenigstens eine Sache die Kontrolle zu haben, auch wenn dies nur die Füllmenge des eigenen Magens ist.
Anorexia nervosa, oder auch liebevoll Ana, kann eine gute Freundin sein, wenn man nicht viele Menschen kennt, die einen wirklich mögen. Selbsthass und der sehnliche Wunsch nach Auflösung geben dem Tag Struktur und die viele Zeit, die man durch Nahrungsverweigerung einspart, kann man sinnvoll nutzen, zum Beispiel mit mantrahaft wiederholter geistiger Selbstbeschimpfung.
Kein Vater, auch der Engagierteste nicht, kann einen so sehr quälen, wie der eigene Geist und eine gute Freundin, welche mit ihrem ganzen Engagement auch noch ihre Schwester mit dazu holt. Sie hört auf den Namen Mia oder auch Bulemia.
Eltern merken schnell, wenn ihr Kind nichts isst und so musste Milena mit zwölf dazu übergehen, die brav gespachtelten Nährstoffe bei laut aufgedrehtem Wasserhahn an die Toilette weiterzugeben. Die Eltern freuten sich sichtlich, dass ihre kleine Tochter endlich wieder gesund war und sie schöpften selbst bei Familienessen, welche stets von Milenas ständigem Harndrang und einem verstopften Abflussrohr begleitet wurden, keinen Verdacht.
Es war am Tage ihres ersten Selbstmordversuchs, an welchem Milena die Krähe das erste Mal sah.
Sie lag verletzt unter einem Baum, direkt neben der Brücke, von der sich das Mädchen gerade stürzen wollte. Sie hob den Vogel auf. Er lag schwer in ihrem Arm und schaute mit seinen großen schwarzen Augen schwach zu ihr empor. Sie wusste nicht wie, aber dieser arme zerzauste Vogel brachte in ihr eine Seite zum klingen, welche das Leben zu schätzen wusste und so sah sie vorerst davon ab, sich in den Tod zu stürzen und nahm stattdessen die Krähe mit nach Hause um sie dort gesund zu pflegen.
Milena kümmerte sich rührend um die Krähe und obwohl sie ihres Wissens ja eigentlich dumm war, hatte sie offensichtlich ein gewisses Talent im Retten von Leben und der schöne schwarze Vogel wurde wieder ganz gesund. Er blieb bei ihr und wurde ihr ein treuer Freund. Immer wenn Milena draußen vor ihrem Haus unter den Bäumen saß, kam die Krähe herangeflattert und zupfte ihr liebevoll am Kleid oder an den Haaren. Ehrliche Liebe, ohne eine Gegenleistung einzufordern, ist ein seltenes Geschenk. Milena konnte ihr Glück kaum fassen. durch ihren neuen Freund vergaß sie sogar für eine Weile ihre alten Freundinnen Ana und Mia und so ließen nicht nur ihre Ohnmachts- und Schwächeanfälle nach, sie bekam sogar endlich die Rundungen, welche für ein Mädchen in ihrem Alter üblich sind.
Sie hätte sogar fast glücklich werden können, aber auch ihr Vater bemerkte Milenas neu erworbene Weiblichkeit und so kam es, dass er sie eines Tages unter den Bäumen besuchte, unter denen sie so oft saß.
Natürlich kämpfte ihr Vater gegen seine Triebe an, doch wie hätte man es ihm verdenken können? Nachdem seine Frau ihn und Milena für immer verließ, da sie sein unkontrolliertes Verhalten nach Heimkehr aus der Stammkneipe nicht mehr länger ertrug, war der arme Vater einsam geworden - und das Bordell zu kostspielig.
Doch auch wenn Milena an ihrer neuen Rolle litt und oft weinend zu Füßen der hohen Bäume saß, wenn der Vater sein Werk vollbracht hatte, heiterte sie doch schnell ihre Krähe auf, welche angeflattert kam und sie zu trösten versuchte.
Eines Tages träumte Milena von einem Haus; weit, weit fort von ihrem eigentlichen Wohnsitz.
Das Haus stand zwischen goldenen Feldern und Pferde galoppierten am wolkenlosen Horizont entlang. Es war alt und ganz aus Holz gebaut, doch mit vielen offenen Fenstern und im Inneren war es hell und ganz von Licht durchflutet. Im und um das Haus herum tanzten die weißen Samen der Bäume, die wie ein zauberhaftes Schneegestöber alles unter einer weichen Decke begruben. Es war still und warm und doch so voller flirrender, erhabener Schönheit, dass Milena niemals mehr wieder von hier fort wollte. Während sie mit den Samen durch die Räume tanzte, spürte sie tief in sich ein Gefühl, welches ihr unbekannt war. Ein Gefühl von Zuhause.
Doch sie erwachte bald aus ihrem Traum und die harte Wirklichkeit holte sie ein.
Eines Tages, als Milena wieder einmal von ihrem Vater unter den Bäumen besucht wurde, kam ihr plötzlich ihr Freund die Krähe zur Hilfe. Wütend pickte die Krähe auf den fluchenden Vater ein und hackte ihm schließlich ein Auge aus. Doch dieser bekam wiederum die Krähe zu fassen und schlug sie voller Zorn tot.
Milena weinte bitterlich. Ihre Freundinnen Ana und Mia kehrten zurück und mit ihnen all der Verzicht, doch selbst dies konnte sie nicht mehr aufheitern. Sie war allein und mit jedem Tag wurde es schlimmer.
Als ihr Vater sie erneut besuchte, nahm sie es kaum noch war. Milena war noch dort, bei den Bäumen, doch im Geiste war sie weit fort. Sie besuchte ihr Haus zwischen den Feldern und während ihr Vater sie bestieg, wanderte sie umher und beobachtete das Spiel der Sonne zwischen den alten Holzdielen. Das Haus wurde ihr Versteck, ihre Zufluchtsstätte.
Wann immer sie nun angebrüllt, geschlagen oder misshandelt wurde, oder ihre Lehrer ihr Unfähigkeit bescheinigten, ihre Mitschüler sie mieden und als das Vogelmädchen beschimpften, floh Milena. Sie floh in ihren Geist, zu ihrem alten Haus, wo alles gut und friedlich und schön war. Immer öfter blieb sie dort und immer seltener besuchte sie die Realität, gab es doch nichts dort, was ihr noch in irgendeiner Form Glück gebracht hätte.
Sie wurde noch dünner und blasser, doch keiner störte sich mehr daran. Ihr Vater verging sich an ihr wie eh und jäh, aber die Sträucher der Nachbarn waren zu hoch oder das Abendprogramm zu spannend, als das dies jemals irgendjemand mitbekommen hätte. Doch auch Milena selbst hatte immer weniger Anteilnahme an sich oder der Welt um sich herum. Sie wusste, dass sie hier nichts mehr hielt. Das sie diese Welt verlassen wollte. Es gab da nur eine einzige Sache, ein einziger Faden, der sie noch festhielt und sie von ihrer neuen schönen Heimat trennte.
Als die Polizei Milena fand, saß diese in einer Lache von Blut in der Küche ihres Elternhauses. Der Vater selbst lag am Boden, eines der guten Brotmesser der Mutter im Rücken. Sein noch verbliebenes Auge war entfernt worden und lag achtlos in der Ecke des Raumes. Da Milenas Mutter nicht aufzufinden war, wurde sie fortgebracht, die Nachbarn erfuhren nie genau wohin.
Doch eine letzte Sache in dieser Geschichte ist erwähnenswert. Man erzählt sich vom glasigen Blick, den das Mädchen bei der Ankunft der Polizei gehabt haben soll. Von ihrer völligen Abwesenheit. Sie hätte keinerlei Widerstand geleistet, nicht gesprochen und sie hätte allgemein gewirkt, als wäre sie nicht mehr in dieser Welt anwesend.
Milena ist nun weit fort. Sie sitzt vergnügt im Halbschatten des alten Holzhauses, spielt mit Stöcken und Steinen und beobachtet die Samen der Bäume, wie sie in der herrlich warmen Sommerluft umhertanzen wie kleine Feen. Auch die Krähe ist bei ihr. Sie sitzt auf Milenas Schulter und zupft ihr liebevoll am Kleid, wie sie es schon immer getan hat.
Bleib dort, Milena, bleib dort.
Du bist nun endlich Zuhause.