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Milena

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18.11.2011
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Milena

Milena war nie ein besonders glückliches Kind.
Im Kindergarten spielte sie nicht gerne mit den anderen, denn sie war von eher stiller Natur und die wilde und rücksichtslose Art der anderen Kinder verwirrte und ängstigte sie.
Als sie in die Grundschule kam, verliebte sie sich Hals über Kopf in ihren Mathe-Lehrer. Diese Liebe wurde leider nie erwiedert, was ihre Beziehung zu männlichen Bezugspersonen nicht unbedingt förderte.
In der dritten Klasse attestierte man ihr Legasthenie.
Ihre Ärztin erklärte ihr, dass läge daran, dass sie sich statt Wörtern im Kopf immer nur Bilder vorstellen könne und sich daher zum Beispiel nicht merken könne, wie man Fahrrad schreibt. Ihr Vater erklärte ihr, es läge daran, dass sie dumm wäre.
Einfache Menschen geben sich gerne mit einfachen Antworten zufrieden und ihr Vater war ohne Zweifel die Pommes mit Ketchup unter den Gourmet-Menüs der Komplexität.
Doch in den Augen eines Kindes sind die Eltern wie Götter und ihre Worte werden, heiligen Gesetzten gleich, für immer ins Unterbewusstsein gebrannt.
Milena sah also schon früh ein, dass sie dumm war – was ihren Vater aber trotzdem nicht zufrieden stellte, da dieser ja auch nur das Beste für sein Kind wollte. Also beschimpfte er sie regelmäßig für ihre Dummheit, mit dem besten Willen, sie damit zu mehr Intelligenz anzutreiben.
Er hatte fast Erfolg. Milena wurde zwar nicht unbedingt schlauer, aber sie hörte auf zu essen.
Wenn einem das Leben entgleitet und über den Kopf wächst, ist es ein sehr beruhigendes Gefühl, über wenigstens eine Sache die Kontrolle zu haben, auch wenn dies nur die Füllmenge des eigenen Magens ist.
Anorexia nervosa, oder auch liebevoll Ana, kann eine gute Freundin sein, wenn man nicht viele Menschen kennt, die einen wirklich mögen. Selbsthass und der sehnliche Wunsch nach Auflösung geben dem Tag Struktur und die viele Zeit, die man durch Nahrungsverweigerung einspart, kann man sinnvoll nutzen, zum Beispiel mit mantrahaft wiederholter geistiger Selbstbeschimpfung.
Kein Vater, auch der Engagierteste nicht, kann einen so sehr quälen, wie der eigene Geist und eine gute Freundin, welche mit ihrem ganzen Engagement auch noch ihre Schwester mit dazu holt. Sie hört auf den Namen Mia oder auch Bulemia.
Eltern merken schnell, wenn ihr Kind nichts isst und so musste Milena mit zwölf dazu übergehen, die brav gespachtelten Nährstoffe bei laut aufgedrehtem Wasserhahn an die Toilette weiterzugeben. Die Eltern freuten sich sichtlich, dass ihre kleine Tochter endlich wieder gesund war und sie schöpften selbst bei Familienessen, welche stets von Milenas ständigem Harndrang und einem verstopften Abflussrohr begleitet wurden, keinen Verdacht.

Es war am Tage ihres ersten Selbstmordversuchs, an welchem Milena die Krähe das erste Mal sah.
Sie lag verletzt unter einem Baum, direkt neben der Brücke, von der sich das Mädchen gerade stürzen wollte. Sie hob den Vogel auf. Er lag schwer in ihrem Arm und schaute mit seinen großen schwarzen Augen schwach zu ihr empor. Sie wusste nicht wie, aber dieser arme zerzauste Vogel brachte in ihr eine Seite zum klingen, welche das Leben zu schätzen wusste und so sah sie vorerst davon ab, sich in den Tod zu stürzen und nahm stattdessen die Krähe mit nach Hause um sie dort gesund zu pflegen.
Milena kümmerte sich rührend um die Krähe und obwohl sie ihres Wissens ja eigentlich dumm war, hatte sie offensichtlich ein gewisses Talent im Retten von Leben und der schöne schwarze Vogel wurde wieder ganz gesund. Er blieb bei ihr und wurde ihr ein treuer Freund. Immer wenn Milena draußen vor ihrem Haus unter den Bäumen saß, kam die Krähe herangeflattert und zupfte ihr liebevoll am Kleid oder an den Haaren. Ehrliche Liebe, ohne eine Gegenleistung einzufordern, ist ein seltenes Geschenk. Milena konnte ihr Glück kaum fassen. durch ihren neuen Freund vergaß sie sogar für eine Weile ihre alten Freundinnen Ana und Mia und so ließen nicht nur ihre Ohnmachts- und Schwächeanfälle nach, sie bekam sogar endlich die Rundungen, welche für ein Mädchen in ihrem Alter üblich sind.
Sie hätte sogar fast glücklich werden können, aber auch ihr Vater bemerkte Milenas neu erworbene Weiblichkeit und so kam es, dass er sie eines Tages unter den Bäumen besuchte, unter denen sie so oft saß.
Natürlich kämpfte ihr Vater gegen seine Triebe an, doch wie hätte man es ihm verdenken können? Nachdem seine Frau ihn und Milena für immer verließ, da sie sein unkontrolliertes Verhalten nach Heimkehr aus der Stammkneipe nicht mehr länger ertrug, war der arme Vater einsam geworden - und das Bordell zu kostspielig.
Doch auch wenn Milena an ihrer neuen Rolle litt und oft weinend zu Füßen der hohen Bäume saß, wenn der Vater sein Werk vollbracht hatte, heiterte sie doch schnell ihre Krähe auf, welche angeflattert kam und sie zu trösten versuchte.
Eines Tages träumte Milena von einem Haus; weit, weit fort von ihrem eigentlichen Wohnsitz.
Das Haus stand zwischen goldenen Feldern und Pferde galoppierten am wolkenlosen Horizont entlang. Es war alt und ganz aus Holz gebaut, doch mit vielen offenen Fenstern und im Inneren war es hell und ganz von Licht durchflutet. Im und um das Haus herum tanzten die weißen Samen der Bäume, die wie ein zauberhaftes Schneegestöber alles unter einer weichen Decke begruben. Es war still und warm und doch so voller flirrender, erhabener Schönheit, dass Milena niemals mehr wieder von hier fort wollte. Während sie mit den Samen durch die Räume tanzte, spürte sie tief in sich ein Gefühl, welches ihr unbekannt war. Ein Gefühl von Zuhause.
Doch sie erwachte bald aus ihrem Traum und die harte Wirklichkeit holte sie ein.

Eines Tages, als Milena wieder einmal von ihrem Vater unter den Bäumen besucht wurde, kam ihr plötzlich ihr Freund die Krähe zur Hilfe. Wütend pickte die Krähe auf den fluchenden Vater ein und hackte ihm schließlich ein Auge aus. Doch dieser bekam wiederum die Krähe zu fassen und schlug sie voller Zorn tot.
Milena weinte bitterlich. Ihre Freundinnen Ana und Mia kehrten zurück und mit ihnen all der Verzicht, doch selbst dies konnte sie nicht mehr aufheitern. Sie war allein und mit jedem Tag wurde es schlimmer.
Als ihr Vater sie erneut besuchte, nahm sie es kaum noch war. Milena war noch dort, bei den Bäumen, doch im Geiste war sie weit fort. Sie besuchte ihr Haus zwischen den Feldern und während ihr Vater sie bestieg, wanderte sie umher und beobachtete das Spiel der Sonne zwischen den alten Holzdielen. Das Haus wurde ihr Versteck, ihre Zufluchtsstätte.
Wann immer sie nun angebrüllt, geschlagen oder misshandelt wurde, oder ihre Lehrer ihr Unfähigkeit bescheinigten, ihre Mitschüler sie mieden und als das Vogelmädchen beschimpften, floh Milena. Sie floh in ihren Geist, zu ihrem alten Haus, wo alles gut und friedlich und schön war. Immer öfter blieb sie dort und immer seltener besuchte sie die Realität, gab es doch nichts dort, was ihr noch in irgendeiner Form Glück gebracht hätte.
Sie wurde noch dünner und blasser, doch keiner störte sich mehr daran. Ihr Vater verging sich an ihr wie eh und jäh, aber die Sträucher der Nachbarn waren zu hoch oder das Abendprogramm zu spannend, als das dies jemals irgendjemand mitbekommen hätte. Doch auch Milena selbst hatte immer weniger Anteilnahme an sich oder der Welt um sich herum. Sie wusste, dass sie hier nichts mehr hielt. Das sie diese Welt verlassen wollte. Es gab da nur eine einzige Sache, ein einziger Faden, der sie noch festhielt und sie von ihrer neuen schönen Heimat trennte.

Als die Polizei Milena fand, saß diese in einer Lache von Blut in der Küche ihres Elternhauses. Der Vater selbst lag am Boden, eines der guten Brotmesser der Mutter im Rücken. Sein noch verbliebenes Auge war entfernt worden und lag achtlos in der Ecke des Raumes. Da Milenas Mutter nicht aufzufinden war, wurde sie fortgebracht, die Nachbarn erfuhren nie genau wohin.
Doch eine letzte Sache in dieser Geschichte ist erwähnenswert. Man erzählt sich vom glasigen Blick, den das Mädchen bei der Ankunft der Polizei gehabt haben soll. Von ihrer völligen Abwesenheit. Sie hätte keinerlei Widerstand geleistet, nicht gesprochen und sie hätte allgemein gewirkt, als wäre sie nicht mehr in dieser Welt anwesend.

Milena ist nun weit fort. Sie sitzt vergnügt im Halbschatten des alten Holzhauses, spielt mit Stöcken und Steinen und beobachtet die Samen der Bäume, wie sie in der herrlich warmen Sommerluft umhertanzen wie kleine Feen. Auch die Krähe ist bei ihr. Sie sitzt auf Milenas Schulter und zupft ihr liebevoll am Kleid, wie sie es schon immer getan hat.
Bleib dort, Milena, bleib dort.
Du bist nun endlich Zuhause.

 

Moin Paris!

Na, die Geschichte gefällt mir mal ein ganzes Teil besser als dein "John". Ich konnte mich wirklich ausgezeichnet in Milenas mehr und mehr zerstörte Psyche hineinversetzen und ihren Schmerz nachfühlen. Auch deine Art, Metaphern einzusetzen, hat mich hier begeistert.

Einfache Menschen geben sich gerne mit einfachen Antworten zufrieden und ihr Vater war ohne Zweifel die Pommes mit Ketchup unter den Gourmet-Menüs der Komplexität.
Den Satz finde ich genial! :D

Aber so gut ich deinen Stil und den Inhalt hier finde, umso saurer stoßen mir die formalen Fehler auf, die mich immer wieder unsaft aus dem Lesefluss katapultieren.

erwiedert
erwidert

Gesetzten
Gesetzen

Kein Vater, auch der Engagierteste nicht
engagierteste

eine Seite zum klingen
Saite

Nachdem seine Frau ihn und Milena für immer verließ, da sie sein unkontrolliertes Verhalten nach Heimkehr aus der Stammkneipe nicht mehr länger ertrug, war der arme Vater einsam geworden - und das Bordell zu kostspielig.
verlassen hatte

Doch auch wenn Milena an ihrer neuen Rolle litt
unter ihrer neuen Rolle litt

Als ihr Vater sie erneut besuchte, nahm sie es kaum noch war.
wahr

Ihr Vater verging sich an ihr wie eh und jäh, aber die Sträucher der Nachbarn waren zu hoch oder das Abendprogramm zu spannend, als das dies jemals irgendjemand mitbekommen hätte.
eh und je
dass

Du bist nun endlich Zuhause.
zu Hause oder zuhause

So, das müsste alles gewesen sein, sofern ich nichts übersehen habe. Also inhaltlich wirklich sehr gut, in der äußeren Form aber noch verbesserungsbedürftig.

Liebe Grüße
Pale Man

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Paris!


Zu den einzelnen Punkten habe ich geschrieben, bevor ich den nachfolgenden Text gelesen habe, also vom Eindruck des Gesamtwerkes unbeeinflusst.

Milena war nie ein besonders glückliches Kind.
Ein gelungener Anfang. Der erste Satz weckt Neugierde.

Im Kindergarten spielte sie nicht gerne mit den anderen, denn sie war von eher stiller Natur und die wilde und rücksichtslose Art der anderen Kinder verwirrte und ängstigte sie.
Als sie in die Grundschule kam, verliebte sie sich Hals über Kopf in ihren Mathe-Lehrer. Diese Liebe wurde leider nie erwiedert, was ihre Beziehung zu männlichen Bezugspersonen nicht unbedingt förderte.

Zu Milena:
Ihre besonderen Charakterzüge werden kurz und verständlich vorgestellt. Sie zeigt autistisches Verhalten und hat in dem Mathelehrer einen (für sie wichtigen) Fixpunkt gefunden.

Zur Perspektive:
„Diese Liebe wurde leider nie erwiedert, …“. Der ganze Absatz ist eine berichtartige Zusammenfassung des Erzählers. Somit ist „leider“ eine Wertung des Erzählers.
„was ihre Beziehung zu männlichen Bezugspersonen“ Auch hier: Ist „Bezugsperson“ die Wertung (Ansicht) des Erzählers, der automatisch Lehrer, Onkel, Vater usw. als Bezugsperson ansieht, oder ist es aus Ms Sicht, wobei ich mich dann frage, inwiefern die Beziehungen zu diesen Personen (von wo aus weitergehend und bis wohin) gefördert werden sollten.

Zum Text:
Der kann etwas gekürzt werden. Vorschläge:
Punkt hinter „anderen“ und „denn, eher, anderen, unbedingt“ würde ich streichen.
„Hals über Kopf“ ist uralt. Was Neues wäre nicht schlecht.
erwiedert – erwidert
„Wild und rücksichtslos“ ist doppelt gemoppelt. Ich meine, wild trifft es am Besten.

Wenn einem das Leben entgleitet und über den Kopf wächst, ist es ein sehr beruhigendes Gefühl, über wenigstens eine Sache die Kontrolle zu haben, auch wenn dies nur die Füllmenge des eigenen Magens ist.
Ach so ist das. Jetzt ist mir die Perspektive klar geworden. Der Erzähler ist sozusagen die Hauptfigur und legt hier ein Solo aufs papierne Parkett.

Anorexia nervosa, oder auch liebevoll Ana, kann eine gute Freundin sein, wenn man nicht viele Menschen kennt, die einen wirklich mögen.
Ja, doch, darauf kann ich mich einlassen. Zynismus mag ich.

zum Beispiel mit mantrahaft wiederholter geistiger Selbstbeschimpfung.
Da fehlt ein Komma.

Kein Vater, auch der Engagierteste nicht,
„Engagierteste“ würd ich klein schreiben, da es auf den Vater bezieht.

Selbstmordversuchs
Klar, würd ich auch so schreiben, weil’s besser klingt. Aber mal kurz vom Krimisofa aus geplaudert: Es heißt korrekt „Selbsttötung“, da Mord immer eine Straftat bezeichnet.

Er lag schwer in ihrem Arm und schaute mit seinen großen schwarzen Augen schwach zu ihr empor.
Sehr viele Eigenschaftswörter; noch überflüssiger ist „seinen“.

aber dieser arme zerzauste Vogel
Auch hier fehlt ein Komma, da arm nicht die Steigerung von zerzaust ist.

und nahm stattdessen die Krähe mit nach Hause um sie dort gesund zu pflegen.
Komma vor um.

Milena kümmerte sich rührend um die Krähe und obwohl sie ihres Wissens ja eigentlich dumm war, hatte sie offensichtlich ein gewisses Talent im Retten von Leben
Der Zusammenhang von Dummheit und Talent ist mir nicht geläufig.

der schöne schwarze Vogel wurde wieder ganz gesund.
Gesund ist gesund, das lässt sich nicht steigern, nur einschränken.

Milena konnte ihr Glück kaum fassen. durch ihren neuen Freund
Es mag dich überraschen, aber nach einem Punkt schreibt man das erste Wort groß, lieber Paris.

Natürlich kämpfte ihr Vater gegen seine Triebe an, doch wie hätte man es ihm verdenken können? Nachdem seine Frau ihn und Milena für immer verließ, da sie sein unkontrolliertes Verhalten nach Heimkehr aus der Stammkneipe nicht mehr länger ertrug, war der arme Vater einsam geworden - und das Bordell zu kostspielig.
Hier drängt mich der Erzähler zu sehr in klischeehafte Bilder.
Das „leider nie erwidert“ aus dem ersten Absatz bekommt jetzt einen „geschmacklosen“ Beigeschmack. Aber ich will nicht moralisieren, sondern mich auf den Zynismus des Erzählers einlassen.
Vielleicht, und das hoffe ich, ergibt das alles noch einen Sinn.

heiterte sie doch schnell ihre Krähe auf, welche angeflattert kam und sie zu trösten versuchte.
Ich meine, der erste Teil müsste ins Passiv, sonst ist das Ganze verdreht.
… wurde sie von ihrer Krähe aufgeheitert. Oder so ähnlich.

Eines Tages träumte Milena von einem Haus; weit, weit fort von ihrem eigentlichen Wohnsitz.
Eigentlichen?

Im und um das Haus herum tanzten die weißen Samen der Bäume,
Bäume, immer sind es nur Bäume. Vor dem Elternhaus und neben der Brücke wars noch relativ egal, mal davon abgesehen, dass Details wie Buche, Eiche usw. der Geschichte zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen hätten, jetzt hier Bäume, die tanzende, weiße Samen produzieren, da komme ich nicht umhin, nach dem Baum zu suchen und mache mich von A wie Ahorn nach Z wie Zypresse auf den Weg, um endlich bei P wie Pappel die leise Ahnung zu haben, ja, die könnte es sein.

voller flirrender, erhabener Schönheit,
Diese Kombination funktioniert hier tatsächlich. Mut hat sich hier gelohnt.


die harte Wirklichkeit holte sie ein.
Die Wirklichkeit (Milenas, die der Leser inzwischen kennt) ist härter als die harte Wirklichkeit. Womit ich sagen will, harte kann raus.

beobachtete das Spiel der Sonne zwischen den alten Holzdielen.
Verstehe ich nicht.

aber die Sträucher der Nachbarn waren zu hoch oder das Abendprogramm zu spannend, als das dies jemals irgendjemand mitbekommen hätte.
Hmm … da sehe ich einen erhobenen Zeigefinger ganz am Rande meines Blickfeldes. Find ich etwas seltsam, angesichts meines bisherigen Bildes vom Erzähler.
Ansonsten fällt mir auf, dass der Erzähl-Ton jetzt wieder neutral ist.

Milena ist nun weit fort.
Dieser Absatz ist recht sentimental.

Das ist verwunderlich, aber wiederum auch nicht, weil ich zu Anfang bereits den Eindruck hatte, der Erzähler spielt hier die Hauptrolle, also passiert die Wandlung auch dem Erzähler. Es scheint, dass er im Laufe der Erzählung seine Einstellung zu Ms Schicksal geändert hat.
Ich habe das Gefühl, der Erzähler hat Probleme mit seinem Thema, er sucht die ganze Zeit nach einer für ihn passenden Einstellung zum Geschehen. Da ist zunächst der nüchterne Stil, fast wie in einer Fallstudie, dann Zynismus, dann verschleiernde Worte wie: er besuchte sie, dann etwas direktere Worte wie: während ihr Vater sie bestieg, am Schluss wird der Erzähler sentimental.
So gesehen ein mutiges Experiment, ohne dem der Text nicht wirken würde.
Eine letzte Frage: Warum steht die Geschichte in der Rubrik Horror?


Gruß

Asterix

 

Hi Paris R Vegas,

an sich finde ich den Plot recht interessant. Einige inhaltliche Dinge stören mich aber.

1. Das ein Mensch sich aber der Kindheit nicht mehr verändert, ist Freud und der is nicht belegt. Es scheint als ob deine Hauptfigur sich nicht mehr entwickelt hat, seit sie sich in den Lehrer verliebt hatte.

2. Was meinst du mit "Er hatte fast Erfolg." ?

3. Natürlich kämpfte ihr Vater gegen seine Triebe an, doch wie hätte man es ihm verdenken können? Nachdem seine Frau ihn und Milena für immer verließ, da sie sein unkontrolliertes Verhalten nach Heimkehr aus der Stammkneipe nicht mehr länger ertrug, war der arme Vater einsam geworden - und das Bordell zu kostspielig.
Das finde ich zu allgemein, da könntest du mehr erzählen, also Beispielsituationen, weil so einfach hinnehmen mag ich das nicht.

4. Eines Tages, als Milena wieder einmal von ihrem Vater unter den Bäumen besucht wurde, kam ihr plötzlich ihr Freund die Krähe zur Hilfe. Wütend pickte die Krähe auf den fluchenden Vater ein und hackte ihm schließlich ein Auge aus. Doch dieser bekam wiederum die Krähe zu fassen und schlug sie voller Zorn tot.
Da stellen sich mir 2 Fragen. 1. Warum greift die Krähe erst jetzt ein? 2. Wenn jemanden ein Auge ausgehackt wird, dann hat er bestimmt was anderes zu tun, als die Krähe zu töten. Er wird sich das Auge zuzuhalten und dann hat er max. noch eine Hand frei und damit eine fliegende Krähe töten? Also da fehlt mir der Realismus.

5. Warum ist Melina nie auf eine Förderschule gegangen? Denn das ist der normale Weg, wenn Legasthemie festgestellt wird. Und du willst mir jetzt nicht erzählen, das Lehrer sowas nicht bemerken. Da wird irgendwann immer jemand einen ansprechen, wenn man immer blasser und dünner wird.

6. je statt jäh

7.Als die Polizei Milena fand, saß diese in einer Lache von Blut in der Küche ihres Elternhauses. Der Vater selbst lag am Boden, eines der guten Brotmesser der Mutter im Rücken. Sein noch verbliebenes Auge war entfernt worden und lag achtlos in der Ecke des Raumes. Da Milenas Mutter nicht aufzufinden war, wurde sie fortgebracht, die Nachbarn erfuhren nie genau wohin.
Doch eine letzte Sache in dieser Geschichte ist erwähnenswert. Man erzählt sich vom glasigen Blick, den das Mädchen bei der Ankunft der Polizei gehabt haben soll. Von ihrer völligen Abwesenheit. Sie hätte keinerlei Widerstand geleistet, nicht gesprochen und sie hätte allgemein gewirkt, als wäre sie nicht mehr in dieser Welt anwesend.

Warum hat die Polizei sie denn gefunden? Angeblich waren die Hecken zu hoch, das die Nachbarn was sehen können. So wie kam man dann darauf, das der Mann getötet wurde? Wielange war sie schon da? Wer hatte die Polizei informiert, wenn sich angeblich niemand um sie kümmerte?

So das wars erst einmal von meiner Seite. Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen.

Bis bald
Riccardo

 

Hallo Paris

Ich las deine Geschichte mit sehr gemischten Gefühlen, da ich von Absatz zu Absatz über fragwürdige Interpretationen stolperte. Dass sie in der Rubrik Horror steht, liess mir ein grosses Spektrum an Möglichem offen, was da über mich hereinstürzen kann. Der Fantasie ist da grosser Freiraum gewährt, doch – wie ich wenigstens meine – in gewissen Grenzen. Wenn mysteriöse Dinge geschehen, Unnatürliches auflebt oder Nebulöses auftritt, werte ich es als diesem Genre zustehende Fantasiegebilde. Was sich jedoch nicht beugen lässt, sind klar definierte Begriffe und elementare Gegebenheiten, ausser sie werden klar als ausser Kraft gesetzt erklärt. Bei dir ist dies aber nicht der Fall, sondern meines Erachtens in angestrengter Oberflächlichkeit vermengt.

Nachfolgend Beispiele, was ich als Leser im vorstehenden Sinne als unausgegoren oder fehlinterpretiert sehe:

Als sie in die Grundschule kam, verliebte sie sich Hals über Kopf in ihren Mathe-Lehrer.

Milena kam wohl etwa mit sechs Jahren in die Grundschule. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sicher keinen Mathelehrer, ich nehme an auch in Deutschland beginnt man mal mit dem kleinen 1 x 1. Ein sechsjähriges Mädchen verliebt sich in einen erwachsenen Mann? Das glaubst du doch selbst nicht?

Diese Liebe wurde leider nie erwiedert, was ihre Beziehung zu männlichen Bezugspersonen nicht unbedingt förderte.

Erwidert ohne e zwischen i und d. Auch dies ist auf dieser Basis eine sehr grenzwertige Aussage.

Einfache Menschen geben sich gerne mit einfachen Antworten zufrieden und ihr Vater war ohne Zweifel die Pommes mit Ketchup unter den Gourmet-Menüs der Komplexität.

Meiner Meinung nach ein unnötiges Füllsel, mit dürftiger Aussagekraft, dem auch die triviale Verwendung des Wortes Komplexität keinen vernünftigen Sinn verleiht.

Doch in den Augen eines Kindes sind die Eltern wie Götter und ihre Worte werden, heiligen Gesetzten gleich, für immer ins Unterbewusstsein gebrannt.

Meine Güte, dies ist jetzt die schwülstige Definition, die ich jemals zur Entwicklungspsychologie des Kindes hörte. So simpel deformiert läuft Sozialisation nun doch nicht ab.

Milena sah also schon früh ein, dass sie dumm war – was ihren Vater aber trotzdem nicht zufrieden stellte, da dieser ja auch nur das Beste für sein Kind wollte. Also beschimpfte er sie regelmäßig für ihre Dummheit, mit dem besten Willen, sie damit zu mehr Intelligenz anzutreiben.

Hier bist du doch nah an der Realität. Es trifft leider zu, dass manchmal Erwachsene die Kinder dumm machen, aus Unverständnis über ihren Entwicklungsstand oder aufgrund von Teilleistungsschwächen etc. Solche Kinder glauben dann nicht selten, sie wären wirklich dumm. Aber so ganz überzeugt mich deine Formulierung nicht. Kurz, prägnant gesagt und dargestellt, hätte es mehr Wirkung.

Wenn einem das Leben entgleitet und über den Kopf wächst, ist es ein sehr beruhigendes Gefühl, über wenigstens eine Sache die Kontrolle zu haben, auch wenn dies nur die Füllmenge des eigenen Magens ist.

Diese Interpretation liest sich wie aus einer Illustrierten.

Anorexia nervosa, oder auch liebevoll Ana, kann eine gute Freundin sein, wenn man nicht viele Menschen kennt, die einen wirklich mögen.

Ich gehe immer noch von der kleinen, vorpubertären Milena aus, da ist es höchst unwahrscheinlich sie sich solche Gedanken und Namen bildet. – Doch einige Zeilen weiter ist dann von der zwölfjährigen Milena die Rede. Aber auch da habe ich meine Bedenken. Dass sie eine Tendenz zu Magersucht hat, das alleine schiene mir plausibler.

Sie hört auf den Namen Mia oder auch Bulemia.

Ich denke die weibliche Erzählstimme ist da in einer frühadoleszenten Phase verhaftet, da werden durchaus solche Themen abgehandelt und kursieren diese Bezeichnungen. Doch ein Wechsel von Anorexie zu Bulimie vollzieht sich nicht so einfach wunschgerecht.

Die Eltern freuten sich sichtlich, dass ihre kleine Tochter endlich wieder gesund war und sie schöpften selbst bei Familienessen, welche stets von Milenas ständigem Harndrang und einem verstopften Abflussrohr begleitet wurden, keinen Verdacht.

Bisher war nur immer vom Vater die Rede, die Mutter spielte in Milenas Leben anscheinend keine Rolle. Aber da war doch erwähnt, dass die Kleine eine ambivalente Haltung gegen Männer entwickelte. Da spätestens sollte die Mutter einbezogen oder ihre abwesende Rolle geklärt sein. Das mit dem verstopften Abflussrohr ist doch völliger Unsinn, sie müsste ja wahre Klötze geschluckt und gekotzt haben.

Es war am Tage ihres ersten Selbstmordversuchs, an welchem Milena die Krähe das erste Mal sah.

Wieso wählst du hier nicht wie an andern Stellen die psychologische Definition Suizidversuch? Im Lateinischen, aus dem der Begriff stammt, heisst es sich töten. Von Mord ist das nicht die Rede. Dies nur zur begrifflichen Klarheit. Doch anschliessend fiel mir noch auf, dass es ja gar nicht zum Versuch kam. Also korrekt: Suizidabsicht.

Sie lag verletzt unter einem Baum, direkt neben der Brücke, von der sich das Mädchen gerade stürzen wollte.

Wieso verletzt, wenn sie sich noch gar nicht von der Brücke stürzte. Entweder fehlen da Informationen/Handlungen oder es ist so widersinnig. Doch im nächsten Satz ahne ich, dass es gar nicht Milena ist, die verletzt sein muss, sondern der Vogel! Also um es klar zu sagen, muss es lauten: Der Vogel lag verletzt unter einem Baum, …

Milena kümmerte sich rührend um die Krähe und obwohl sie ihres Wissens ja eigentlich dumm war, hatte sie offensichtlich ein gewisses Talent im Retten von Leben und der schöne schwarze Vogel wurde wieder ganz gesund.

Die Krähe als dumm zu bezeichnen, ist jetzt aber nicht nett von Milena. Sie sollte sich mal mit Ornithologie beschäftigen.

Natürlich kämpfte ihr Vater gegen seine Triebe an, doch wie hätte man es ihm verdenken können?

Aber, aber, weder juristisch noch psychologisch hat die Schlussfolgerung dieses Satzes Bestand. Man kann es ihm durchaus verdenken! Anschliessend zeigst du ja selbst den Schlüssel dazu:

Doch auch wenn Milena an ihrer neuen Rolle litt und oft weinend zu Füßen der hohen Bäume saß, wenn der Vater sein Werk vollbracht hatte, heiterte sie doch schnell ihre Krähe auf, welche angeflattert kam und sie zu trösten versuchte.

Also nicht nur Inzest und Unzucht mit einer abhängigen Minderjährigen, sondern auch noch Gewalt. Die fehlende Willensfreiheit von Milena lässt jedes noch so entfernte Verständnis schwinden. Dass unter diesen Umständen die Krähe sie jeweils schnell wieder aufheiterte, entzieht sich völlig der Glaubwürdigkeit.

Eines Tages, als Milena wieder einmal von ihrem Vater unter den Bäumen besucht wurde, kam ihr plötzlich ihr Freund die Krähe zur Hilfe.

Warum idealisierst du es eigentlich mit besucht, da ist doch missbraucht treffender?

Doch dieser bekam wiederum die Krähe zu fassen und schlug sie voller Zorn tot.

Von der Situation her schiene mir hier wahrscheinlicher, wenn er sie erwürgte.

Milena weinte bitterlich. Ihre Freundinnen Ana und Mia kehrten zurück und mit ihnen all der Verzicht, doch selbst dies konnte sie nicht mehr aufheitern.

Mir ist kein Fall bekannt, bei dem diese Symptome den Betroffenen Aufheiterung brachte. Dies ist eine eher bedenkliche Formulierung.

Als ihr Vater sie erneut besuchte, nahm sie es kaum noch war.

… kaum noch wahr (wahr mit h!)

Immer öfter blieb sie dort und immer seltener besuchte sie die Realität, gab es doch nichts dort, was ihr noch in irgendeiner Form Glück gebracht hätte.

Diese Aussage ist so unglücklich, die Realität kann man nicht besuchen. Korrekt wäre es beispielsweise: … und immer wieder flüchtete sie vor der Realität, …

Ich hoffe, nicht in den Wind geschrieben zu haben, und dass es dir trotz der kritischen Worte Anreiz gibt, nochmals an den schwachen Stellen zu feilen, soweit es für dich stimmig ist. Die Geschichte an sich hat schon Gehalt, das Thema seinen Stellenwert. Manches liesse sich m. E. mit einfacheren Worten und Umschreibungen besser und stärker zum Ausdruck bringen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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