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Milchtütengesang
„Hast du schon mal diese Show gesehen?”, fragt Max eines Tages unvermittelt, als sie beim Abendbrot sitzen.
„Welche denn?“
„Die Castingshow. Ich weiß gar nicht wie die offiziell heißt. Ich meine die mit den innovativen Algorithmen”, sagt er.
„Keine Ahnung wovon du sprichst”, sagt Linda.
„Du kennst doch Castingshows. Wo sie sich Leute aus der Bevölkerung auswählen und ihnen dann mit Kameras folgen. Die Auserwählten werden, quasi von einem Moment zum anderen, berühmt. Millionen Leute verfolgen was sie machen. Außerdem bekommen sie viel Geld und müssen Aufgaben bestehen.”
„Das ist doch ein Scheiß. Ich wusste gar nicht, dass du dich für sowas interessierst.”
„Tu ich ja auch nicht. Zumindest nicht so wie du denkst”, sagt er. „Neulich sind wir beim Arbeiten darauf gekommen, dass die Algorithmen die dafür verwendet werden echt ausgeklügelt sind.”
„Ach ja?” Sie lässt den Blick abschweifen.
„Ein bekannter Sender hat uns angeheuert. Während der Vorbereitung hatten wir Leute da, die uns einen historischen Überblick gegeben haben. Ich wollte eigentlich zuerst gar nicht hingehen. Man musste mich überreden, aber dann war es doch ziemlich interessant. Früher wurden die Leute für solche Shows von Menschen anhand ihrer Erfahrung ausgewählt. Was meistens nicht viel heißt, denn wenn jemand erstmal seine Meinung gefasst hat, dann kann man das nicht mehr so leicht ändern. Wenn man einen bestimmten Style eine zeitlang in Shows präsentiert, wird es für die Zuschauer langweilig. Die wollen nicht immer das Gleiche sehen. Man hat dann Techniken entwickelt, um das Problem zu umgehen. Zum Beispiel hat man eine Zeit lang Trendscouts verwendet, die den Verantwortlichen Rat geben, was gerade angesagt ist. So konnte man leichter aktuell bleiben. Es hat aber nichts an dem grundlegenden Problem geändert. Alles spielte sich immer in denselben Bahnen ab. Auf der Castingallee eben.“
„Was denn für eine Castingallee?”, unterbricht sie ihn.
„Castingallee - hast du noch nie davon gehört? Das ist ein Spitzname für die Kastanienallee.”
„Aber warum war das denn ein grundlegendes Problem?”, fragt sie.
„Na ja, nicht die Straße. Das Problem war, dass die keine Methode hatten, das Neue zu finden. Es zu schaffen, oder vielleicht sollte man besser sagen, es zu steuern. Jede Show wird irgendwann langweilig und die Quote beginnt zu sinken. Dagegen hilft nichts. Wir haben an der Ausschreibung teilgenommen, um für den Sender Castingalgorithmen zu entwickeln. Um den sperrigen, menschlichen Faktor auszuschalten, sollten Beobachtung, Trenddefinition und Casting automatisiert werden.”
„Und das geht?”, fragt sie.
„Ja sicher. Alle Kandidaten, die es heute auf den Bildschirm schaffen, sind von Algorithmen ausgewählt. Man findet sie mit sogenannten tiefen Scans. Von Menschen wird praktisch nicht mehr gecastet. Die heutigen KI Module sind sehr leistungsfähig. Wenn man die mit einem Crawler kuppelt, der soziale Netzwerke durchkämmt, hat man eigentlich alles was man braucht. Es ist natürlich kostensparender, auf Scouts die den ganzen Tag in Cafés herumsitzen und Latte trinken, zu verzichten."
„Das ist schon irgendwie krass”, sagt sie.
„Ja - ich persönlich finde das zum Kotzen. Aber die Summen die auf diese Weise umgesetzt werden sind unvorstellbar. Das ist inzwischen deutlich größer als die gesamte Autoindustrie.”
„Kunststück, so schlecht wie es der Autoindustrie geht.”
„Wir haben den Zuschlag leider nicht bekommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, so genau wollte man es nicht sagen, laufen heute schon KI Module der dritten Generation. Die sind vollständig autonom, erschaffen eigenständig Neues, von dem sie der Meinung sind, dass die Leute es sehen wollen. Die Erfolgsquote soll hoch sein. Wobei, das bedeutet letztendlich natürlich nur, dass der Gewinn der beteiligten Firmen maximiert wird. Darauf wird optimiert. Das Casting selber ist, mehr denn je, ein Orakelspruch.“
„Du musst das Herz nehmen”, sagt Linda. „Ich bitte dich!”
Max schweigt lange, und schaut auf seine Fußspitzen.
„Sag doch was!”
„Ich weiß nicht, was ich hier eigentlich soll. Das ist doch ein schlechter Film.”
Sie schaut ihn ernst an.
„Das ist kein Film. Jetzt reiß dich zusammen. Es geht hier um unsere gemeinsame Zukunft.” Sie sucht nach den richtigen Worten. „So kenn ich dich gar nicht. Du bist doch sonst immer so rational.”
„Die ganze Situation kommt mir nicht real vor”, sagt er. „Wie kann es sein, dass man gesund ist ...” Die Worte kommen langsam, stotternd. „Zu den Starken gehört ... Und dann kommt plötzlich ein Stechen in der Brust. Zwei Wochen später sagt einem so ein Onkel, dass man wahrscheinlich sterben muss. Ich meine, was ist das für eine Welt?”
Sie schweigen.
„Aber du hast doch eine Chance”, sagt sie.
„Ja toll. Wenn ich den Dreck nehme, den sonst keiner will. Das scheiß Mörderherz.”
Er hat von Geburt an ein schwaches Herz gehabt. Nur hat es keiner bemerkt. Nicht die Ärzte, nicht die Lehrer. Nicht die Freunde und Sportkumpane, Liebhaberinnen und Geschäftspartner. Wie hätten sie es auch merken sollen? Er unterscheidet sich durch nichts von anderen. Das Herz in seiner Brust tut brav seinen Dienst, kontrahiert. Er kann mithalten, ist schnell und wach. Aber nun hat das Herz sein Limit erreicht. Es kann nicht mehr. Baut rasant ab. Wird nur noch wenige Wochen halten.
Wie soll man in so kurzer Zeit ein passendes Spenderherz finden? Es ist praktisch unmöglich. Ein, zwei Jahre sind schon kurz. Die Leute warten zum Teil deutlich länger. Wenige Wochen ist so gut wie ausgeschlossen. Ein Todesurteil auf Raten.
Dann stirbt der Amokläufer. Sein Herz passt, und niemand sonst will es haben. Das Transplantationssystem bietet es Max an. Ein Wunder, hätte man sagen können. Aber auch: Das Herz eines Mörders. Eines Sadisten. Des Amokläufers vom Stadion. Max erinnert sich noch an die Filmaufnahmen. Die Bildqualität ist gut gewesen. Man konnte alles sehen. Das Blut, den Pulverdampf. Höchste Auflösung, megapixelgenau. Das Lächeln auf den Lippen des Amokläufers. Die kalte Zufriedenheit, mit der er die Rache trinkt.
Wir leben in einer krassen Gesellschaft, denkt er. Jeder ist für sich allein. Überall diese Gesichter um uns rum, die so tun, als ob alles wunderbar wäre. Als ob wir in einer großartigen Zeit mit phantastischen Möglichkeiten leben. Und hintenrum machen sie einen ohne Gnade fertig. Und die Experten in den Talkshows. Die jedesmal wieder ankommen. Von der Notwendigkeit des Aufbaus von Frühwarnsystemen reden. Die jede noch so kleine Äußerung, die irgendwann mitgeloggt wurde, rausholen, und im Nachhinein beleuchten, tausendmal hin und her wenden. Wenn sie was finden, irgendeine kleine Notiz, dass man jetzt die Schnauze voll habe, und Lust hätte einfach mal so richtig durchzuziehen, seine Knarre rauszuholen und es den Leuten heimzuzahlen. Ja, dann ist das Geschrei groß. Dass es ungeheuerlich sei. Dass man solche Anzeichen unbedingt hätte ernst nehmen müssen. Dass die Lehrer schuld seien. Wofür man die eigentlich bezahle. Und so weiter. Dabei gibt es tausende solche Notizen. Von tausenden Frustrierten. Jeden Tag. Die meisten von denen leiden ihr Leben lang stumm und machen nichts.
Und kein Mensch steht auf und sagt das Offensichtliche. Dass das doch gar nichts Besonderes ist. Dass das eben unsere Geschäftsgrundlage ist. Eine funktionale Welt, mit Wettbewerb auf höchster Ebene. Auf Weltklasseniveau. Ein Wettbewerb, den man braucht, um Weltklasseprodukte hervorzubringen. Und speziell in Deutschland oft ohne ein warmes Wort. Monatelang ohne ein einziges verdammtes warmes Wort. Eigentlich ist es erstaunlich, dass nicht mehr passiert. In einem Land, in dem an jeder Ecke Waffen herumliegen, braucht man sich nicht wundern. Immerhin gibt es bei uns nicht so viele Waffen wie in den USA. Trotzdem sind wir das Land mit den zweitmeisten Amokläufen pro Kopf. Da wäre was los, wenn wir auch noch so viele Waffen wie die Amis hätten. Deutsche Gründlichkeit kombiniert mit einer historisch gewachsenen Waffenkultur. Das will man sich gar nicht vorstellen.
Wenn nur einziges Mal einer sagen würde: Seid doch netter zueinander! Wenn ihr einen Looser seht, geht hin zu ihm. Lächelt ihn an. Redet ganz normal mit ihm. Hört ihm für zwei Minuten mit offenem Herzen zu. Das ist doch der einzige mögliche Weg um Amokläufe zu verhindern. Kostet nicht mal Geld. Aber nie steht jemand auf und sagt sowas in der Art.
„Ok, ich nehme das Herz von dem Typen”, sagt Max.
Sie fängt an zu weinen.
Die Zeit nach der Operation ist hart. Um zu vermeiden, dass die Immunreaktion das Spenderherz abstößt, werden starke Medikamente gegeben. Früher sind fast alle Empfänger innerhalb kurzer Zeit gestorben. Heute hat man die Medikamente, die haben allerings nur eine geringe therapeutische Breite. Die Dosis, die für die gewünschte Wirkung notwendig ist, liegt nahe an der tödlichen Dosis. Der Grat, über den der Arzt balanciert, ist schmal. Max fühlt sich entsprechend. Er liegt im Bett und spürt, wie er unter den Blicken der Leute schmort. Sein Zahnfleisch wuchert und wird schwarz. Dicke Haare wachsen ihm am Körper, wo vorher blonder Flaum war.
Er soll sich schonen, fängt aber schon nach zwei Wochen Reha wieder an zu arbeiten. Beschränkt sich für einige Zeit auf Emails und Telefonieren. Gegen den Rat der Ärzte verlässt er bald die Klinik. Manche seiner Geschäftspartner haben nicht gemerkt, dass er weg war. Er macht da weiter wo er vorher aufgehört hat. Der einzige Unterschied ist, dass in seiner Brust nun das Herz eines Mörders schlägt.
Nicht irrational werden, raten die Ärzte ihm. Die ganze Sache ist natürlich unschön. Aber es gibt nichts, wir wollen das hier mit aller Deutlichkeit sagen, wirklich absolut gar nichts, was dieses Herz physiologisch von anderen Herzen unterscheidet. Es ist ein gutes Herz. Eine von der Natur perfekt konstruierte, flexible Pumpe.
Der Nordostwind drückt Regenfronten über das Land. Bald ist der Boden mit Nässe gesättigt. Die Flüsse laufen über und überschwemmen alles. Er sieht Katastrophenhelfer in neongelben Mänteln im Fernsehen. Eine kalte, nie gekannte Wut steigt in ihm auf.
Bei jedem Schritt bricht Linda durch die Kruste und versinkt bis zum Knöchel. In dem weichen Schnee darunter ist kaum Halt zu finden. An einer Biegung macht der Weg eine scharfe Rechtskurve. Sie ist blind aus der Olympiahalle geflüchtet. Ohne zu merken wie, ist sie in dichten Fichtenwald geraten. Trotz der Kälte schwitzt sie leicht. Sie setzt sich für einen Moment auf eine Holzbank, kramt in ihrer Handtasche, findet aber nur Prospekte und Werbegeschenke. Ihr Wasser muss sie verloren haben.
Sie will unbedingt wissen wo Max ist und zieht ihr Komm heraus, aber sämtliche Frequenzen sind noch immer gesperrt. Am liebsten wäre sie zurückgegangen, aber das ist natürlich keine gute Idee. Sie hätte von Anfang an zur anderen Seite laufen sollen. Da waren die Parkplätze und der Zugang zur U-Bahn. Dort sind jetzt bestimmt schon Polizeikräfte, dort wäre sie sicher. Wenn sie zurück gehen würde, müsste sie wieder durch die Halle. Oder zumindest sehr nahe ran. Ihr Herz macht einen Sprung bei dem Gedanken. Sie will da nicht wieder hin.
Sie und Max hatten sich seit Tagen auf die Funkausstellung in der Olympiahalle gefreut. Sie haben Gespräche geführt und Aufträge in Aussicht gestellt bekommen. Der Mann von tZ.Tech hat, als er auf der Toilette war, seine Papiere ungeschützt bei ihnen am Tisch liegen lassen. Max reagierte schnell und nahm einen Ausdruck mit Kundendaten. Er hielt seine Iris in die nächste Kamera und las die obersten zehn Einträge laut vor. Er war so bei der Sache, dass sie ihn stoppen musste. Komisch, früher hätte er sowas doch nicht gemacht. Sie muss lächeln. So sollte man seine Geheimnisse aber auch nicht rumliegen lassen. Während sie noch da saßen und weiter mit dem Typen redeten, hackte Max auf seinem Komm rum. Sie würde wetten, dass er schon Termine mit der Hälfte der tZ.Tech Kunden gemacht hatte, während sie noch zusammen am Tisch saßen.
Sie versucht wieder ihn zu erreichen. Diesmal kommt sie durch. „Max, Gott sei Dank, da bist du ja.” Max ist in Sicherheit, er schaffte es als einer der Ersten zu fliehen. Seine Stimme ist tonlos. „Ich bin fast am Auto”, sagt er, „ich hole dich ab. Lass es mich sofort wissen, wenn du aus dem Wald rauskommst. Und geh auf keinen Fall zurück, hörst du! Beeil Dich!”
Sie steht auf und geht rasch weiter. Ist da in der Ferne ein Auto vorbeigefahren? Sie läuft schneller, obwohl ihre Turnschuhe durchweicht sind und das Marschieren Kraft kostet. Eine Straße kreuzt den Waldweg, links davon steht ein Haus. Das muss die Rettung sein. Sie fängt an zu rennen, bricht dabei immer wieder in den Schnee ein. Die letzten Meter legt sie vorsichtig und langsam zurück. Auf einem Schild über dem Eingang steht “Pension Nachtweihe”. Sie geht auf die Tür zu. Nichts rührt sich. Es ist unheimlich, aber sie hat keine Wahl. Sie muss unbedingt aus der ungesicherten Zone rauskommen. Muss überhaupt mal kapieren was genau los ist. Die Pension ist ihre einzige Chance, sie muss es riskieren. Die Alternative ist, als Opfer durch die Wälder zu stolpern und gegen jede Vernunft zu hoffen, keinem Säuberungskommando in die Hände zu laufen. Sie öffnet die Tür vorsichtig und lugt in das Halbdunkel.
„Und wer bist du?”, fragt jemand hinter ihr.
Sie zuckt zusammen.
„Ganz langsam. Keine schnellen Bewegungen! Umdrehen! So, dass ich die Hände sehen kann!”
Sie gehorcht.
An der Ecke des Hauses steht ein alter Herr, in den Händen eine Pumpgun.
„Sie sind der hübscheste Gast heute”, sagt er, breit grinsend. „Bis jetzt zumindest.”
Sie entspannt sich etwas.
„Tut mir Leid für den Empfang. Ist nicht so unsere Art, normal”, sagt er, „aber an der Olympiahalle gab es einen Vorfall.”
„Ja ich weiß”, sagt sie. “Da komme ich gerade her.”
„Scheiße! - Kommen sie erstmal rein.”
Drinnen setzt sie sich an einen großen Tisch neben einem Kachelofen. Sie befindet sich in der holzvertäfelten Gaststube. Altmodisch aber herzwärmend. Der Alte bringt ihr Kaffee und zündet sich eine Zigarette an.
„Stört sie doch nicht, oder?”
Er erzählt ihr, dass die Polizei schon da war und die ganze umliegende Zone gesichert hat. Eine fliegende Einheit ist von hier aus aufgebrochen, um den Wald in Richtung Olympiahalle zu durchkämmen.
„Die müssen Sie übersehen haben, aber das kann schon mal vorkommen. Die sind von der Bereitschaftspolizei in Lubdorf. Das sind ziemliche Landeier, falls ihnen das nichts sagt. Die sind eigentlich nur im Einsatz ihrer Bordkanonen gründlich.”
Die Hauptsache ist, dass sie sich außerhalb der eingerichteten Sicherheitszone befinden. Andere Bürger würden mit der Gründlichkeit der Lubdorfer Kanonen Bekanntschaft machen. Sie holt ihr Komm raus, kommt aber nicht zu Max durch. Sie schreibt ihm wo sie ist und fügt die Koordinaten der Pension hinzu.
„Was war denn jetzt genau in der Olympiahalle los?”, fragt er. „In den Nachrichten sprechen sie immer nur von einem Vorfall. Die unabhängigen Kanäle gehen eher so in Richtung Terrorismus, aber keiner scheint was Genaues zu wissen.”
„Tja ... wer weiß schon was los ist, heutzutage?”
„Na kommen Sie, Sie müssen doch was gesehen haben. Sie werden kaum zum Spaß durch den Wald gelaufen sein.”
„Ich war mit meinem Mann auf der Funkausstellung. War viel los heute. Das Geschäft lief gut. Am Nachmittag sollte es eine Show geben. In der Mitte der Halle. Dabei ist es passiert. Ich habe es selber nicht genau gesehen, es ging so schnell.”
„Was ist passiert?”
„Die haben ein Spiel gespielt. Alle Zuschauer trugen Guy Fawkes Masken. Eine Frau war auf der Bühne, sie war aus dieser Reality-TV-Show. Ihr Kopf war auf alle Schirme gelegt und sie hat aus ihrem langweiligen Leben erzählt. Mit wem sie alles schläft und so. Das Übliche. Dann hat das Hallensystem plötzlich verrückt gespielt. Sie ist aus dem Fokus raus gewesen und die Kameras sind wild durch die Halle geflogen. Ganz dicht über die Köpfe der Menschen hinweg. War echt unheimlich. Obwohl, vielleicht war es ja Teil der Show. Sie haben vorher noch extra gesagt, dass sie neue Castingalgorithmen testen. Die dritte Generation der Algorithmen verwendet die sogenannte tiefe Gehirnscan-Technologie, um besondere Menschen zu identifizieren. Da sind sie mächtig stolz drauf, was man damit für krasse Leute aus der Menge rausklauben kann. Der den sie so finden, der neue Star, erscheint dann, in der Regel das ganze nächste Jahr über, auf jeder Milchtüte. Singt uns was, während wir unsere Cornflakes essen.”
„Hmm”, macht der Alte.
„Die Kameras haben dann einen Mann auf den Rängen ausgewählt. Haben sich, wie ein Schwarm Vögel, auf ihn gestürzt. Er war groß auf allen Schirmen. Sah direkt in die Kamera. Plötzlich zog er eine Waffe und schoss. Er war ein guter Schütze. Hat die vier oder fünf Kameras, die ihm am nächsten waren, in null Komma nichts runtergeholt. Dann hat er sich die Leute um ihn herum vorgenommen und sie der Reihe nach niedergeschossen. Er war schnell, aber trotzdem gründlich. Sein Gesicht konnte man nicht sehen, denn er hatte immer noch die Maske auf. Wie alle in der Halle. Das mit den Masken soll wohl belegen, dass der Algorithmus zufällig jemand aus der anonymen Masse auswählt. Dass es jeden treffen kann. Im Prinzip sind die Leute natürlich überhaupt nicht anonym, das ist nur eine Pose. Der Algorithmus weiß alles, über jeden der da steht. Die Leute sind nur insofern anonym, als dass sich das System bis jetzt nicht für sie interessiert hat. Und wissen Sie was? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Sache kein Unfall war. Der Algorithmus wusste genau, was er tat und wen er auswählte.”
Ihre Hand zittert leicht.
„Als der Auserwählte anfing zu schießen, gab es eine Massenpanik. Alle haben gleichzeitig versucht raus zu kommen. Es brach die Hölle los. Ich schätze mal, dass mehr Leute durch die Panik umgekommen sind, als durch seine Kugeln.”
„Wie damals im Stadion”, sagt der Alte. „Ganz genau so.”
Jetzt kommen auch endlich Bilder im Fernsehen. Die Kameras haben es zwar nicht geschafft, eine gute Ansicht des Amokläufers zu kriegen, aber dafür gibt es detaillierte Nahaufnahmen der Opfer. Es wird immer wieder aus der Ferne gezeigt, wie die Kameras sich auf den Mann stürzen und wie sie dabei abgeschossen werden. Mehr Material ist im Moment nicht verfügbar. Während der Panik taucht der Amokläufer unerkannt in der Menge unter. Die Bilder laufen in Endlosschleife und die Experten spekulieren, dass der Algorithmus ihn absichtlich entkommen ließ. Es zeichnet sich ein Skandal ab.
Sie sitzen stumm auf ihren Holzbänken und schauen zu, als neue Bilder kommen. Vor der Halle hat der Amokläufer ein weiteres Mal zugeschlagen. Im Gewühl hat es eines der Opfer geschafft, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Man kann jetzt, zum ersten mal, sein Gesicht sehen.
Linda erstarrt.
Der Amokläufer ist Max.
Merkwürdig, seine Identität wird nicht sofort bekannt gegeben. Normalerweise wäre zu erwarten, dass die Scanning-Software, die bei jeder Nachrichtensendung automatisch im Hintergrund läuft, ihn zeitnah identifiziert.
Damit ist der Skandal unbestreitbar da. Die Polizei beteuert, dass sie tut was sie kann und ihr System, aus unbekannten Gründen, keinen Match für den Amokläufer bekommt. Die Experten sagen, dass man inzwischen davon ausgehen müsse, seine Identität werde absichtlich geheim gehalten. Keiner hat eine überzeugende Erklärung dafür, warum das so ist. Alle sind sich hingegen einig, dass er nach wie vor auf freien Fuß ist.
In dem Moment fährt der blaue Toyota von Max auf dem Hof vor und hält knirschend auf dem Kies.